MELDUNG. Tiefseeelefanten, 1055 hupende Rüsselrosen, südlich vor Odessa im schwarzen Meer gesichtet. Man umwandert in kreisender Bewegung ein sinkendes Schiff. — stop
Aus der Wörtersammlung: ich
eine meise blau
sierra : 02.15 UTC — Ein Kind war ich im Garten. Ich saß im Gras im Sommer. Eine Meise flog herum. Ich erinnere mich, dass ich ihr mit den Augen folgte. Ich dachte, ich lasse sie nicht aus dem Blick. Kaum habe ich deshalb die Augen geschlossen. Kaum den Gedanken gefasst, sie könnte einfach so auf und davon in einer Baumkrone verschwinden. Deshalb saß ich lange Zeit ganz still, weil die Meise verschwunden war, weil ich sie nicht zu fangen vermochte. Ich wartete. Ich warte so lange, bis ich ins Haus getragen wurde, wo ich sofort ein Fenster suchte. Das war damals ein heißer Sommer gewesen. Mohnblumen ließen ihre Köpfe hängen. - Das Radio erzählt, dass man sich nicht denken könne, wie viele Menschen in Mariupol ihr Leben verloren haben. — stop
bristolhotel
alpha : 2.26 UTC — Folgende Person, ein Mann, könnte reine Erfindung sein. Der Mann war mir während eines Spazierganges aufgefallen, das heißt, ich hatte einen Einfall oder eine Idee, oder ich machte vielleicht eine Entdeckung. Ich könnte von dieser Person, die sich nicht wehren kann, behaupten, dass sie nicht ganz bei Verstand sein wird, weil sie seit langer Zeit in einem Hotelzimmer lebt, welches sie niemals verlässt. Das Hotel, in dem sich dieses Zimmer befindet, erreicht man vom Flughafen der norwegischen Stadt Bergen aus in 25 Minuten, sofern man sich ein Taxi leisten kann. Es ist das Bristol, unweit des Nationaltheaters gelegen, dort, im dritten Stock, ein kleines Zimmer, der Boden hell, sodass man meinen möchte, man spazierte auf Walknochen herum. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigentlich erzählen will. Es handelt sich um einen wohlhabenden Mann im Alter von fünfzig Jahren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haare auf dem Kopf, wiegt 73 Kilogramm, und trägt eine Brille. Sieben weiße Hemden gehören zu ihm, Strümpfe, Unterwäsche, dunkelbraune Schuhe mit weichen Sohlen, ein hellgrauer Anzug und ein Koffer, der unter dem Bett verwahrt wird. Auf einem Tisch nahe einem Fenster, zwei Handcomputer. In den Anschluss des einen Computers wurde ein USB-Speichermedium eingeführt. Auf dem Bildschirm sind Verzeichnisse und Dateinamen zu erkennen, die sich auf jenem Speichermedium befinden. Auf dem Bildschirm des zweiten Computers ein ähnliches Bild, Verzeichnisse, Dateinamen, Zeitangaben, Größenordnungen. Was wir sehen, sind Computer des Mannes, der Mann arbeitet in Bergen im Bristol im Zimmer auf dem Knochenboden. Er sitzt vor den Bildschirmen und öffnet Dateien, um sie zu vergleichen, Texte im Blocksatz. Zeile um Zeile wandert der Mann mithilfe einer Bleistiftspitze durch das Gebiet der Worte, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache notiert wurden, die mir unbekannt. Es scheint eine verschlüsselte Sprache zu sein, weshalb der Mann dazu gezwungen ist, jedes Zeichen für sich zu überprüfen. Fünf Stunden Arbeit am Vormittag, fünf Stunden Arbeit am Nachmittag, und weitere fünf Stunden am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafelwasser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, Seeteufel, Steinbutt. 277275 Dateien sind zu überprüfen, 12.532.365 Seiten. Er scheint nicht sehr weit gekommen zu sein. Die Vorhänge der Fenster sind zugezogen, es ist ohnehin gerade eine Zeit ohne Licht. Ein Mädchen, das ihm manchmal seinen Fisch serviert, macht ihm schöne Augen. Morgens sind die Hörner der Schiffe zu vernehmen, die den Hafen der Stadt verlassen. Das war am 1. Dezember 2013 gewesen. — Im Radio wird von einer Frau erzählt, die seit dem 28. Februar dieses Jahres täglich von Lissabon aus mehrfach vergeblich versucht ihre Eltern in Mariupol zu erreichen. Kein Laut. Kein Zeichen. Aber Stille, Tag für Tag. Stunde um Stunde. Minute für Minute. — stop
robotslogfile
olimambo : 5.58 UTC — Vor bald 10 Jahren schrieb mir Leroy einen Brief auf Papier. Er notierte: Lieber Louis, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lange man möchte, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. Das ist ein angenehmes Gefühl, durchaus. Ich hatte dieses Gefühl so nicht erwartet. Manchmal sitze ich vor dem Bildschirm und beobachte meinen Text auf demselben Weg, den auch andere nehmen, um mich lesen zu können. Ich bin begeistert davon, dass ich dem Text nicht anzusehen vermag, ob ihn gerade in diesem Moment andere Augen betrachten, weil es doch derselbe Text mit demselben Ursprung ist. Ich werde noch dahinterkommen, bis dahin wundere ich mich weiter. Gestern war Singer zu Besuch, der sich auskennt in digitalen Dingen. Er fragte, ob ich ihm sagen könne, wie viele Menschen denn meine elektrischen Texte besuchten. Ich erzählte ihm, dass ich selbstverständlich Nachricht davon erhalten habe. Ich genieße, sagte ich, die Aufmerksamkeit einiger Leser in Island, Amerika, Togo, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, China, England, Frankreich, Marokko, Spanien. Manche kommen häufig und lesen, sie kommen stündlich vorbei, auf die Sekunde genau, andere eher selten, als würde sie mich gelesen haben und sofort wieder vergessen. Ich holte uns am Kiosk eine Limonade, während Singer sich mit meinen Logfiles beschäftigte. Als ich zurückkam, hörte ich Singer lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öffnete, hörte ich Singer lachen. Dann hörte er auf, und wir sprachen über Kakteen und ihre Winterblüte, und dass er bald wieder für einige Monate nach Manarola reisen würde, wo es mild sei im Winter. Kurz darauf schlief ich ein. Ich erwachte vom Lärm vieler Stimmen. Auf der Straße liefen Menschen hin und her, es war früher Nachmittag, ich wusste, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heute ist also Sonntag. Ich grüße Dich. Dein Leroy. — Das Radio erzählt, die Stadt Mariupol sei nun für immer und ewig eine russische Stadt. Seltsame Sache. - stop
morgenzeitung
tango : 0.38 UTC — Im Frühling des Jahres 2016 überlegte Mutter, ob sie ihre geliebte Zeitung, die sie ein halbes Leben lang jeden Morgen in aller Frühe studierte, nicht vielleicht abbestellen sollte, weil sie nicht mehr so schnell lesen würde wie früher noch, also weniger Zeitung wahrnehmen könne in derselben Zeit. Sie rief bei der Zeitung an. Ein junger Mann, der die Gefahr erkannte, eine treue Leserin zu verlieren, machte ihr unverzüglich ein großzügiges Angebot. Er sagte, wenn sie die Zeitung weitere 2 Jahre abonnieren würde, müsste sie ein halbes Jahr lang für ihre Zeitung nichts bezahlen, weswegen meine Mutter sofort von ihrem Wunsch, sich um ihr Lesevergnügen zu bringen, Abstand nahm. Sie abonnierte also die Zeitung für weitere 2 Jahre, obwohl sie doch möglicherweise langsamer und noch langsamer lesen wird von Zeit zu Zeit, also jener Teil der Zeitung, der ungelesen, größer werden wird. Der junge Mann am Telefon hatte im übrigen auch für dieses Problem ungelesener Zeitungsabteile eine beruhigende Mitteilung zu machen. Er sagte, die Zeitung würde auch dann gedruckt, wenn Mutter sie abbestellen würde, was vermutlich der Fall ist, ein Argument, das wirkte. Als ich Mutters Geschichte hörte, dachte ich, man müsste einmal elektrische Papiere erfinden, hauchdünne Computerbildschirme, die zu einem Gefäß versammelt sind, das sich anfühlt wie eine Zeitung. Über Funk würden Zeichen gesendet werden, gerade so viele Zeichen wie üblicherweise gelesen werden von dem Besitzer des Zeitungsgefäßes, Zeichen über Literatur und Lokales und über die Politik der großen, weiten Welt. Eine Zeitung mit Augen, eine Zeitung, die vermerkt, wie viele ihrer Zeichen präzise gelesen werden, eine Zeitung beinahe wie ein Computer, oder, genauer gesagt, ein Computer, der sich wie eine Zeitung anfühlen würde, in dem man blättern könnte, ein Computer der raschelt, oder eben eine Zeitung, die man ausschalten kann. — Das Radio erzählt, in Mariupol irrten verwirrte Menschen durch verwüstete Straßen. Sie machten den Eindruck, sie seien auf der Suche. — stop
ja bitte
ulysses : 15.02 UTC — In den Archiven meiner flachen Glasschreibmaschine sind letzte Gespräche geborgen, die ich vor 6 Jahren im Sommer mit meiner Mutter führte. Sie war im Haus der alten Menschen plötzlich wieder wach geworden, so wach, dass sie in ihrem Bett sitzen und erzählen wollte. Sie trug, ich erinnere mich noch gut, eine rosafarbene Bluse, und während sie erzählte, fasste sie immer wieder nach meiner Schreibmaschine, wollte sie in Händen halten, sah die Bewegung ihrer Stimme auf dem Bildschirm, Amplituden. Plötzlich schlief sie ein. Und ich ließ das Tonbandprogramm laufen, legte meine Schreibmaschine neben Mutter ins Bett und ging ein wenig über die Flure spazieren. Als ich zurückkehrte, war meine Mutter wach geworden. Ich hörte, noch war ich auf dem Flur, wie sie sprach, wie sie der Maschine erzählte, die sie gleich neben sich liegen sah. Sie lachte, als sie mich entdeckte und erzählte weiter, ohne eine Pause zu machen. Ich habe diese Gespräche mit meiner Mutter, ihre Erzählungen, seither nicht wieder gehört, habe sie jedoch sorgfältig gesichert. Es fällt nicht leicht ihre Stimme zu erinnern so einfach so. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde sie anrufen, dann geht es: Sie sagt: Ja bitte? — Das Radio erzählt von einem jungen Mann, der sich in Mariupol schützend vor seine Mutter stellte. Er wurde in der Küche eines Hauses im Stadtteil Staryj Krym erschossen. Das war bereits im März gewesen. Seine Mutter überlebte. Sie erzählt im Gespräch, sie könne das Gesicht des Schützen gut erinnern. — stop
eiszimmer
nordpol : 18.32 UTC — Vor bald zehn Jahren habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plante im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. — Das Radio erzählte von Menschen, die sich in der Stadt Mariupol über Pfützen beugten, um Wasser von der Straße zu trinken. — stop
nachts
echo : 0.18 — Ich bat einen Freund, eine Geschichte zu erzählen vom Glück, als er noch ein Kind gewesen war. Er musste nicht lange überlegen. Er sagte, dass er abends, sobald das Licht in seinem Zimmer ausgeschaltet wurde, heimlich in seinen Büchern gelesen habe. Zu diesem Zweck hatte er eine Taschenlampe unter seinem Kopfkissen versteckt. Er las immer im Sitzen, die Beine verschränkt, Jules Vernes zum Beispiel. Aufregend, nicht nur die Bücher, sondern das verbotene Lesen zur Nachtzeit selbst. Während mein Freund von seinem Glück berichtete, erinnerte er sich, wie sein Bruder, der in demselben Zimmer geschlafen hatte, ihm einmal erzählte, er, der Ältere der beiden, habe zur Sommerzeit wie ein leuchtender Berg ausgesehen, der sich manchmal bewegte. Hin und wieder flackerte das Licht, weil die Kraft der Batterien in der kleinen Lampe zur Neige ging. Man musste dann immer ein wenig warten, bis sich die Batterien wieder erholten. Oft war er in dieser Zeit des Wartens noch im Sitzen eingeschlafen. — Das Propagandaradio erzählte, in der Stadt Mariupol würde das normale Leben zurückkehren, was auch immer man darunter verstehen will. — stop
zwei wartende männer
tango : 6.28 MEZ — Als wir auf einen Zug warteten, erzählte ich Piotr von einer schlafenden Frau, die ich vor längerer Zeit einmal in einem Flugzeug beobachtet hatte. Diese Frau kaute, ohne eine Pause einzulegen, einen Kaugummi. Ich sagte, ich sei mir nicht sicher gewesen, ob die Frau tatsächlich schlief oder sich nur vorstellte, sie würde schlafen. Unverzüglich wollte auch Piotr eine Geschichte erzählen. Als er noch in Polen lebte, sei er einmal von Krakau nach Moskau gereist. Kurz nach seiner Ankunft in Moskau habe er eine Postkarte, die er im Bahnhof erworben hatte, mit einem Gruß versehen und an seine Geliebte geschickt, die in Krakau lebte. Dann sei er mit dem nächstbesten Zug wieder nach Hause gefahren. Piotr war damals ein junger Mann. Er war in seinem langen Leben nur einmal in Moskau gewesen, die Postkarte sei in Krakau nie angekommen. Das Radio erzählt, russische Besatzungskräfte würden um das Drama-Theater in Mariupol einen Sichtschutz errichtet haben. Warum? — stop
lufteisschrift
charlie : 2.22 UTC — Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen Auge gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Das Radio erzählt von einer Frau, die in einem Kaffeehaus der Stadt Kyjiw sitzen und warten soll, dass ihr Sohn aus dem Kampf bald zurückkehren möge. — stop