marimba : 0.18 — So, stelle ich mir vor, könnte das sein. Es ist Abend geworden, Zeit das Büro zu verlassen. Man tritt vor das Gebäude, in dem man seine Tage fristet, setzt sich ein elektrisches Häubchen auf den Kopf und schon schließt man die Augen und schläft und geht in dieser Weise schlafend auf Wegen nach Hause, die für schlafende Menschen vorgesehen sind. Niemand würde je auf die Idee kommen, einen schlafenden Pendler zu wecken. Drei Stunden, sagen wir, im Tiefschlaf schreitet man die 5th Avenue downtown, biegt bald in die 23. Straße ein, folgt ihr, weiß der Himmel wovon man gerade träumt, bis zur 1st Avenue, um kurz darauf in der 20. Straße zu landen, Haus No 431, dort wird man geweckt und findet sich im Aufzug wieder, wie frisch gebadet im Kopf, um eine Nacht reicher geworden, zu feiern, zu lieben, mit Kindern zu spielen. Am nächsten Morgen macht man sich wieder auf den Weg, setzt sich sein Häubchen, und auch die Kinder setzen sich ihre Häubchen auf den Kopf, und so weiter und so fort. Irgendwo sollte eine zentrale Station existieren, die Schlaf und Schritte jener schlummernden Menschen steuert. — stop
Aus der Wörtersammlung: marimba
new york — hurricane deck
tango : 22.28 — Von einer Sekunde zur anderen Sekunde. Als wär der Sonntag ohne Augenlicht gewesen. Als hätte ich nur geträumt, über den Atlantik geflogen zu sein, fünftausend Kilometer schlohweißer Wolkendecke bis kurz vor Neufundland. Jamaika-Station. Roosevelt Island. Lexington Avenue. Das helle Zimmer im 22. Stock. Ein kühler Wind bläst über den Balkon. Rauschen von tief unten von der Straße her. Wie ich bald vor das Haus trete, kommt mir eine ältere Frau entgegen, in einen feinen Mantelstoff gehüllt, Hände seitlich gegen den Hals gefaltet. Eigentlich müsste ich ihr unverzüglich folgen, sehen, warum sie das macht, einer Geschichte folgen, und diesem dampfenden, rot und grün und blau blinkenden Diodenhund, der sie begleitet, einem Riesentier, das ich berühren sollte, seine Temperatur zu fühlen. Ich verstehe an diesem Abend kein Wort in meinem Kopf. Ja, dieses Rauschen der Stadt. Südwärts wandern. Aus dem Boden sind die Stimmen der Subwaysprecher zu hören, next station : grand central, das Rumpeln, das Zischen der Züge. Ich könnte ein paar Stunden noch so weitergehen und schlafen. — stop
fluggewicht
marimba : 8.28 — Vergangene Nacht hatte ich einen lustigen Traum. Ich saß auf meinem Sofa mit einem Engel, der vom Fliegen erzählte, davon genauer, wie es ist, eine Reise über den Atlantik zu unternehmen, wenn man ein Engel ist, Flugzeiten (2 Stunden), Flughöhe (8 Meter), Proviant, Fliegerbrille und alle diese Dinge, an die ich zuvor nie gedacht hatte. Der Engel war im Moment unseres Gespräches unbekleidet gewesen, schneeweiße Haut, 5 Zentimeter Höhe. Eine faszinierende Situation. Vor uns standen zwei große Koffer. Ich hatte sie gewogen, Gepäckstücke ausgetauscht, um das Gewicht gut zu verteilen. Und da war ein weiterer Koffer, etwas kleiner, ein Pilotenkoffer. Auch diesen Koffer hatte ich gewogen. Er war 15 Kilogramm schwer, ich sollte ihn mit mir ins Flugzeug nehmen. Wie ich den kleinen Engel fragte, warum sein Koffer so schwer geworden sei, was er denn mit sich nehmen werde nach Amerika, ein Wesen von 20 Gramm Gewicht, daran erinnere ich mich noch, und wie der Engel bald auf seinem Koffer saß und versuchte einen Reißverschluss zu öffnen. Dann wach. Regen in Strömen. Samstag. – stop
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marimba : 0.58 — m a n d e l k e r n p y r a m i d e n z e l l e
geborstene wangen
marimba : 9.28 — Siebenhundert Menschen sollen vor wenigen Wochen während einer Demonstration auf dem Tahrir-Platz verletzt worden sein. Das Trauma der Versehrten, Verbrennung, verätzte Bronchien, steife Hände und Arme, Sprachstörung, blinde Augen, zertrümmerte Kiefer, geborstene Wangen, verlorene Erinnerung. Was bedeutet, der Blick ist in dunkle Seitenstraßen der Stadt gerichtet, in Zimmer versteckter, notdürftig ausgerüsteter Ambulanzen, das Wort der Verletzung in diesen Zusammenhängen? — stop
papierlicht
marimba : 14.08 — Die Beobachtung, dass ein Gedanke, sobald ich ihn wahrnehmen kann, immer bereits vollständig anwesend ist. Nie vermag ich einen Gedanken zu betrachten, wie er langsam, nach und nach, Wort für Wort, Zeichen für Zeichen, erscheint. Es denkt sich, blitzt, sagen wir, nahe Lichtgeschwindigkeit vorwärts, die Wahrnehmung eines Gedankens, sein Echo, vollzieht sich dagegen zögernd, behutsam, hörend, also mittels geheimer Ohren im Kopf. – Ob es möglich ist, die Zeit langsamer vergehen zu lassen, indem ich mich zu ihr verhalte, wie ein Dompteur zu einem Löwen? Zeichen für Zeichen eine Geschichte notieren, bis diese Geschichte zu Ende geschrieben sein wird im Jahr 2517 oder im Jahr 2518 vielleicht. Nebelsonne. Papierlicht. — stop
cast
marimba : 10.58 — Die Panzerung des rechten Armes mittels Castverbandes. Der Eindruck zunächst, gebändigt worden zu sein, gefangen im 90° Winkel. Kurz darauf, nach zwei oder drei postoperativen Tagen, das Gefühl, gleichwohl geschützt zu sein, das verwundete Gebiet unter Haut, die lavendelfarben schillert, geborgen in einer Wiege von Glasfasergewebe. Indem ich mich über Flure und Treppen bewege, stoße ich immer wieder an Wände, weil ich meinen künstlich erweiterten Umfang noch nicht in mein Gehirn dauerhaft eingetragen habe. Je ein Geräusch, scheinbar von innen her, als würde ich an Muschelgehäuse klopfen. – stop
segel
marimba : 8.02 — Feinstes Stromgewebe, welches Erfindung von Wirklichkeit trennt, eine heimlich durch den Kopf wandernde Struktur. Beobachtete, dass ein Gedanke, eine Geschichte am Morgen, im Moment der ersten Notiz noch frisch und fremd, nach einem Spaziergang zur Nachtzeit, ohne weitere Schreibarbeit verrichtet zu haben, zu einem vertrauten, wirklichen Raum geworden war. — stop
lichtbilder
marimba : 2.15 — Existieren in diesem Moment noch Menschen, die während ihres Lebens nie auf einer Fotografie abgebildet sein werden? — stop
PRÄPARIERSAAL : namen
marimba : 22.51 — Feuchte Fliegen lungern am Abend auf dem Boden herum. Das sanfte, einschläfernde Geräusch des Wassers, Dunkelheit kommt bald aus den Wolken gefallen. Unter dem Schirm dort weiter anatomische Tonbänder verzeichnet. Veronika* erzählt eine feine Geschichte, die ich beinahe genau so wiedergebe, wie ich sie vor wenigen Minuten hörte: > Ich stehe vor einem Tisch und betrachte einen Körper. Das ist ein Bild, das ich nicht erfunden habe, ein Bild, das jetzt zu meinem Leben gehört. Eine Frau, die in einem weißen Kittel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursachen dieses Todes nichts zu tun, ich empfinde keine Trauer, aber Respekt. In den ersten Minuten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geordnet, nicht systematisch jedenfalls nachgedacht. Ich glaube, ich habe zunächst versucht, ein Gefühl, ein geeignetes Gefühl für diese Situation zu finden, eine Position, meine Position. Kurz zuvor waren wir noch im Hörsaal gewesen. Unser Professor hatte ein Präparat mitgebracht. Dieser helle Körper, der weit entfernt in einem Oval unter den hoch aufragenden Sitzreihen auf einer Bahre lag, hatte etwas Einsames an sich. Als ich mich dann an meinem Tisch stehend über den Körper eines Mannes beugte, den ich in den folgenden Wochen zerlegen würde, suchte ich unwillkürlich nach Spuren, die zu einer Vorstellung führen könnten, wie er einmal lebte. Aber da war nichts, was mich mit seiner Zeit noch verbinden konnte, kein Name. Das Haar des Mannes war entfernt, an seinen Ohren waren hölzerne Schilder angebracht, auch an seinen Handgelenken und an seinen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Ich erinnere mich, der Mann wirkte weder friedlich noch so, als würde er nur schlafen, da waren weder Zeichen einer langen Leidenszeit noch Spuren eines Kampfes. Das Gesicht war leblos, ein Gesicht ohne Ausstrahlung, ohne Elektrizität. Der Körper erinnerte mich an eine große Puppe, er hatte etwas Schematisches, aber vielleicht war das bereits mein Blick, meine Perspektive gewesen, die diesen Eindruck erzeugte? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konnte das bald gut, diesen Mann, diesen Körper betrachten. Ich war ganz entspannt dabei. Ich wusste auch, dass sich dieser Körper sehr rasch verändern würde in der Folge meiner Arbeit. Ich war der festen Überzeugung, dass wir dem Toten keinen Namen geben sollten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wusste, wie sein Name lautete, als er noch lebte. Ich habe, kurzum, versucht, diesen Körper auf dem Tisch als ein Präparat zu betrachten, als eine für uns kostbare Hülle, als ein Vermächtnis. Meine Kommilitonen haben ihm einen Namen gegeben, aber wir haben uns deshalb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz einfach nicht beteiligt. - stop
* Name geändert