lima : 22.16 UTC — Zwei Stunden lang, es war Winter gewesen, beobachtete ich ein Buch, das kein gewöhnliches Buch gewesen war, sondern ein seltsames Buch. Ich notierte: Ich beobachte gerade eben ein seltsames Buch. Dass es sich um ein seltsames Buch handelt, ist dem Buch natürlich zunächst nicht anzusehen, weil das Buch seiner äußeren Gestalt nach, ein übliches Buch zu sein scheint. Dieses Buch hier auf meinem Tisch ist von einer tiefblauen Farbe. Sobald ich das blaue Buch nun in die Hände nehme, werde ich spüren, dass das Buch atmet, weil an seiner Rückseite durch feine Lamellen warme Luft auszutreten scheint. Das ist deshalb so, weil sich in dem Buch eine Recheneinheit befindet, ein kleiner Computer, der sich mit dem Text oder mit der Geschichte, die sich in dem Buch befindet, beschäftigt. Es handelt sich bei dem Buchkörper bei genauer Betrachtung nämlich um eine Versammlung hauchdünner Bildschirme, auf welchen sich Zeichen befinden, Bildschirme, die man umblättern kann. Was zunächst zu sehen ist, gleich auf welcher Seite das Buch aufgeschlagen wird, sind eben erwähnte Buchstaben oder Ziffern, die sich rasend schnell bewegen, sodass man nicht lesen, vielmehr nur ahnen wird, was sich dort befinden könnte. Es ist dies der Moment, da der Computer des Buches jenen Text, den man mit eigenen Augen gerne sofort lesen würde, zu entschlüsseln beginnt. Ein möglicherweise aufwendiges, zeitraubendes Verfahren. Als ich das Buch kaufte, konnte mir der Händler der verschlüsselten Bücher nicht sagen, wie lange Zeit ich warten müsse, bis der Text des Buches für mich sichtbar werden würde. Es bereitete ihm Freude, ich bin mir sicher, auszusprechen, was ich längst dachte, dass die Entschlüsselung des Textes eine Stunde, einen Tag oder zweihundert Jahre dauern könnte, das sei immerhin das Prinzip, weshalb man ein Buch dieser Art erwerben wollte, dass man ein Buch besitzt, von dem man nicht sagen könne, ob es jemals lesbar werden wird. — Kurz vor Mitternacht. Das Radio erzählte so eben noch in Echtzeit von Menschen, die unter der Stadt Charkiw in Kellern sitzen. Eine Geige, sie war sehr fein gerade noch hörbar, spielte zur Beruhigung. Plötzlich wurde die Verbindung unterbrochen. — stop
Aus der Wörtersammlung: stop
vom warten
lima : 22.07 UTC — Über eine Million Augenpaare werden in der digitalen Sphäre verzeichnet, die in den vergangenen 24 Stunden das Livebild des Maidan-Platzes beobachtet haben sollen. Einmal frage ich in englischer Sprache im begleitenden Chat, was präzise man erwartet zu sehen, weshalb diese Aufmerksamkeit. Es geschieht ja nichts. Nur der Platz ist zu sehen, kaum ein Mensch, aber ein paar Tauben, die über die Straßen tucken. Eine Antwort etwas später gleichwohl in englischer, dann von demselben Avatar in russischer Sprache: Alle hier warten auf Panzer! — stop
maidan 23 uhr 15 MEZ
ginkgo : 23.30 UTC — Der Platz in orangefarbenem Licht. Eine Filmaufnahme von einer Webkamera aus. Von dort Stille, Stille, die keine wirkliche Stille ist, rauschende Stille, das Geräusch des Mikrofons selbst vermutlich, welches sich bemüht etwas jenseits der Stille da draußen einzufangen. Hin und wieder, selten, das Fauchen eines Automobiles, auch vielleicht Luftsummen von Ventilatoren. Dann plötzlich Sirenen, unheimlich, laut, Sirenengeheul, das ich von Kindheit her kenne. Als noch Tageslicht, waren Panzersperren zu sehen in Richtung umgebender Straßen. Um Mitternacht beginnt es leicht zu schneien. Kein Mensch, wirklich kein Mensch. In dieser Nacht leuchten die Ampeln des Platzes rot, vor Tagen waren sie noch grün und blieben grün. Vereinzelt Leuchtreklamen. Ein Auto für eine Minute, groß wie ein Fiat 500, ein ziviles Fahrzeug, vielleicht eine Patrouille. Unter einer Arkade blinkt langsam ein Licht: Singing Mountains — Vorübergehend geschlossen. Die Stadt scheint hell beleuchtet zu sein, vielleicht um Angreifer zu erfassen, die in Gruppen vom Himmel fallen könnten. — stop
vor mariupol
morgens gegen 7
tango : 8.18 UTC — Morgens gegen 7 Uhr hocken vier Tauben vor dem Fenster auf dem schmalen Sims unter dem Dach, das sich weit hinaus über die Hauswand wölbt. Sie sitzen und sind ganz still und feucht von der Luft, sitzen dicht an dicht, als wären sie gekommen, um in meiner Nähe Schutz zu suchen. Vermutlich würden sie sofort in mein Zimmer stürzen, wenn ich das Fenster öffnete. — Das Fernsehen erzählt, man habe Menschen nahe Mariupol die Flucht über Korridore befohlen. Wer nicht flüchtet, sagt man, dürfe getötet werden. Von wem hier die Rede ist? Man nennt sie Orks in der digitalen Sphäre! Sie sind über eine Grenze gekommen, zu Fuß oder auf Panzern sitzend. Irgendwo im Norden, wo Orks noch nicht sind, wird eine alte Frau in einem Rollstuhl sitzend über einen Fluss getragen. Sie sticht mit ihrem Gehstock in die Luft. — stop
im winter in münchen
echo : 22.28 UTC — Ich bin ein paar Jahre alt. Auf dem Schlitten fahre ich einen Berg hinab. Das ist lustig, ich bin glücklich. Wenn ich müde bin, zieht mich Großmutter den Berg wieder hinauf. Andere Kinder sind müde wie ich und werden von ihren Vätern oder Müttern gezogen. Auf dem Berg steht ein Kreuz. Ich frage Großmutter, warum ein Kreuz auf dem Berg steht. Großmutter sagt: Weil das der Schuttberg ist. Ich frage: Was ist ein Schuttberg? Großmutter antwortet: Das ist ein Berg von dem Schutt der Häuser, die zerbombt worden sind. Sie erzählt, dass in dem Berg viele Menschen begraben seien, die habe man nicht alle gefunden, die habe man mit dem Schutt begraben, deshalb habe man ein Kreuz auf den Berg gestellt, wegen der Knochen, die sich im Berg befinden. Und schon fahre ich wieder den Berg hinunter. Und der Wind pfeift mir um die Ohren und ich lache und die Großmutter dampft aus dem Mund und ist bald wieder fröhlich geworden. Ich trage eine rote Wollmütze auf dem Kopf. — stop
dubrowka — theater
tango : 22.18 UTC — Im Februar 2008 unterhielt ich mich mit einem Ermittlungsbeamten Organisierte Kriminalität. Wir kamen auf eine Geiselnahme im Moskauer Dubrowka — Theater am 23. Oktober 2002 zu sprechen. 132 Menschen waren ums Leben gekommen. Folgendes > b : Wenn Du zwei Geiseln nimmst und verhandelst, hast Du gute Überlebenschancen. Wenn Du damit drohst, eine Geisel zu erschießen, wird’s gefährlich. Wenn Du eine Geisel erschießt, bist Du ein toter Mann. — louis : Und wenn ich schlafe, wenn Ihr kommt? — b : Betäubt? — louis : Betäubt. — b : Bombe? — louis : Bombe! b : Dann bist Du tot. Du bist eine Bombe, Du schläfst und Du bist tot. — Frauen waren damals unter den Geiselnehmern gewesen. Sie trugen Sprengstoffgürtel oder Sprengstoffwesten, und waren vermummt. Man berichtete, sie seien nach Moskau gekommen, um ihre Männer zu rächen, die in Tschetschenien von russischen Soldaten getötet worden waren. — Das Radio erzählt, an diesem Tag, heute, auf einem Fluss, der durch die Stadt Moskau fließt, wurden auf dem Eis mit grauer Farbe Inschriften übermalt, die gegen den Krieg in der Ukraine protestierten. — stop
PHZ 2022
MELDUNG. Ameisengesellschaft PHC — 2022 [ Pharaoameise : Monomorium pharaonis ] Position 46°28’N 30°45’O im Shevchenko Park zu Odessa / Folgende Objekte wurden bei winterlichen Temperaturen am 12. März von 9.00 — 10.02 Uhr MEZ über das nordwestliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : zwölf trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], achtundachzig Baumstämme [ à 2 Gramm ], elf Raupen in Weiss, sechs Raupen in Rot, vierzehn Insektenflügel [ vermutlich der Gattung Zitronenfalter,], vierhundertzweiundzwanz Streichholzköpfe [ à ca. 1.1 Gramm ], sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 502 Gramm des vergangenenen Jahres ], einhundertunddrei Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], vierzehn gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], siebenhundertsiebenundachtzig Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], secszehn hellgraue Diebkäfer [ schlafend ], fünfundfünfzig Aaskugeln eines afrikanischen Pillendrehers, einhunderachtundachzig Wildbienen, zweiundzwanzig Galläpfel, vierundvierzig Projektile 45 mm je 3.5 Gramm. — stop
im schachtelzimmer
echo : 0.02 UTC — Julio Cortázar erzählt in seinem Kaleidoskop Reise um den Tag in 80 Welten eine Geschichte, in welcher eine Fliege von zentraler Bedeutung ist. Diese Fliege soll auf dem Rücken geflogen sein, als der Autor sie entdeckte, Augen nach unten demzufolge, Beinchen nach oben, ein für Fliegentiere nicht übliches Verhalten. Natürlich musste diese seltsame Fliege unverzüglich näher betrachtet werden. Julio Cortázar erfand deshalb ein Zimmer, in welchem die Fliege fortan existierte, und einen Mann, der die Fliege zu fangen suchte. Wie zu erwarten gewesen, war der Mann in seiner Beweglichkeit viel zu langsam, um die Fliege behutsam, das heißt, ohne Beschädigung, erhaschen zu können. Er bemühte sich redlich, aber die Fliege schien jede seiner Bewegungen vorherzusehen. Nach einer Weile machte sich der Mann daran, das Zimmer, in dem er sich mit der Fliege aufhielt, zu verkleinern. Er faltete Papiere zu Schachteln, die den Flugraum der besonderen Fliege nach und nach derart begrenzten, dass sie sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Fliege und Fänger waren in einem lichtlosen Raum innerhalb eines Schachtelzimmers gefangen, daran erinnere ich mich noch gut, oder auch nicht, weil ich diese Geschichte bereits vor langer Zeit gelesen habe, immer wieder von ihr erzählte, weshalb sich die Geschichte verändert, von der ursprünglichen Geschichte entfernt haben könnte. Das Buch, in dem sie sich aufhält, befindet sich zurzeit außer Reichweite, aber ich werde die Geschichte so bald wie möglich überprüfen. Es ist eine Geschichte, die behilflich sein könnte, schnelle Drohnenvögel einzufangen, wenn man ihrer Gattung einmal zufällig begegnen sollte oder von einer Mikrodrohne verfolgt sein würde. — Seltsame Wörter kehren zurück: Waffenstillstand . Bunker . Flugverbotszone . humanitärer Fluchtkorridor. Auch wird laut und deutlich über Machiavelli nachgedacht, über den Vorteil, in Kriegs- oder anderen Zeiten als verrückt zu gelten. — stop
von reisenden papageien
tango : 0.08 UTC — Als ich das Radio einschaltete, hörte ich, bei Ryanair, einer Fluggesellschaft, sollen Stückkosten, demzufolge die Kosten je transportierten Passagiers, erneut dramatisch gesunken sein. Weiterhin würden in einem Land des Fernen Ostens bald Züge über das Land rasen, die stets sehr pünktlich sein werden, da sie auch von selbst mordenden Menschen niemals aufzuhalten sind, sie fahren immer weiter und weiter zu. Auf der ersten Seite einer spanischen Provinzzeitung sei ein leichtgewichtiger Hund zu sehen, der im Moment seiner Aufnahme von einer Elektrodrohne über ein Hausdach befördert wurde. Die Zahl der hungernden Menschen auf dieser Welt würde im kommenden Jahr erfreulicherweise um 10 Millionen auf unter 800 Millionen Menschen sinken. Das war am 27. Mai 2015 gewesen. Gestern erzählte das Radio, dass auch Kinder aus der Ukraine westwärts flüchten. Sie seien leise sie stehen unter Schock. Geflüchtete Menschen sagen: Wir sind keine Flüchtlinge, wir sind Reisende. Auch Papageien reisen und Katzen und Hunde. — stop / Es war lange Zeit still in meinen Händen. Dieser Text wurde am 5. Juni für den 3. März notiert.