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brief an dornier

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echo : 2.02 — Sehr geehr­te Damen und Her­ren von der Stif­tung Dor­nier für Luft- und Raum­fahrt! Ich wen­de mich hier­mit höf­lichst mit der Bit­te um Unter­stüt­zung an Sie, obgleich ich nicht sicher sein kann, mit mei­nem Anlie­gen Ihr Gehör fin­den zu kön­nen, da mein Vor­ha­ben weder Auf­ga­ben bemann­ter Luft­fahrt, noch Auf­ga­ben bemann­ter Raum­fahrt berüh­ren wird. Ich hof­fe den­noch für einen Moment Ihre Auf­merk­sam­keit zu gewin­nen, es geht näm­lich dar­um, einen kugel­för­mi­gen Kör­per zu ent­wi­ckeln, nicht schwe­rer als 1,5 Gramm, der in der Art und Wei­se der Pflan­zen­flug­sa­men mit dem Wind durch die Welt rei­sen könn­te. Im Objekt ent­hal­ten sein soll­ten je eine Kame­ra mit einem 360°-Objektiv, eine höchst leis­tungs­fä­hi­ge Bat­te­rie sowie ein Sen­der, der in Minu­ten­fre­quenz auf­ge­nom­me­ne Bil­der des Zufalls an einen Emp­fän­ger ver­äu­ßern wür­de, an eine mensch­li­che Per­son oder einen Com­pu­ter, die sich um die Doku­men­ta­ti­on der über­mit­tel­ten Auf­nah­men bemü­hen, sie kata­lo­gi­sie­ren, bewer­ten und gege­be­nen­falls ver­öf­fent­li­chen wür­de. Eine außer­ge­wöhn­li­che Eigen­schaft die­ses mikro­sko­pisch klei­nen Wesens soll­te sein, dass es in sei­ner Form sehr fle­xi­bel sein wird, einer Flüs­sig­keit ähn­lich. In die­ser Wei­se exis­tie­rend wür­de es bei­na­he jedes Hin­der­nis über­win­den, sich kaum irgend­wo dau­er­haft ver­fan­gen, des­halb für sehr lan­ge Zeit auf Rei­sen sein, auch mit Mee­res­strö­mun­gen wan­dern, mit Dünen der Wüs­ten, durch Stadt­land­schaf­ten vaga­bun­die­ren, durch Wald­ge­bie­te und Step­pen, indes­sen immer­zu foto­gra­fie­rend, eine zufäl­li­ge, von kei­ner mensch­li­chen Per­son vor­be­stimm­te Spur gefan­ge­nen Lichts ver­zeich­nend. Mel­den Sie sich bit­te, sofern ich Ihnen aus dem Inne­ren mei­ner Vor­stel­lung im Detail berich­ten darf. Ihr Lou­is – stop

flug

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in üsküdar

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whis­key : 0.55 — Y. erzähl­te vor eini­gen Tagen eine Geschich­te, die sie als Mäd­chen im Alter von sie­ben oder acht Jah­ren in Istan­bul erleb­te, genau­er in einem Hin­ter­hof des Stadt­teils Üsküdar. Sie soll­te damals eine Tüte Pis­ta­zi­en und noch eini­ge ande­re Din­ge von einem Kios­kla­den holen, es war Som­mer, und sie hüpf­te raus auf die Stra­ße und um die Ecke und rein in den klei­nen Laden, und las einem Mann eine Lis­te der bestell­ten Din­ge vor. Der Mann sah ihre Lis­te durch, lächel­te ihr zu und stell­te ein oder zwei Fra­gen, so in etwa: Wie vie­le Pis­ta­zi­en sol­len es denn sein? Y. über­leg­te sorg­fäl­tig, aber letzt­lich konn­te sie sich nicht erin­nern, wie vie­le Gramm Pis­ta­zi­en ihr die Mut­ter zum Kauf auf­ge­tra­gen hat­te. Des­halb hüpf­te sie auf die Stra­ße zurück, aber anstatt zur Ein­gangs­tür ihres Wohn­hau­ses zurück­zu­keh­ren, trat sie in einem Hin­ter­hof vor einen Bal­kon im 2. Stock. Die Tür zum Wohn­zim­mer der Fami­lie, hin­ter der sie ihre Mut­ter wuss­te, war geöff­net. Sie rief so laut sie konn­te: Mama! Dann war­te­te sie eine kur­ze Zeit. Als die Mut­ter nicht auf dem Bal­kon erschien, rief sie noch ein­mal: Mama, Mama, ich habe eine Fra­ge, ich bin’s! Wie­der­um rief sie ver­geb­lich, sie war­te­te und rief und war­te­te. Gera­de als sie umkeh­ren woll­te, um den wei­te­ren Weg, den sie gekom­men war, zur Mut­ter in die Woh­nung zurück­zu­neh­men, bemerk­te sie ein frem­des Mäd­chen neben sich, das viel­leicht zwei Jah­re jün­ger war als sie selbst. Das Mäd­chen hat­te eine ihrer Hän­de genom­men, sah sie bedeu­tungs­voll an, hob dann den Kopf zum Bal­kon empor und rief mit lei­ser, sanf­ter Stim­me: Mama! Mama! Y. erin­ner­te sich noch nach vie­len Jah­ren an die fei­ne Stim­me des Mäd­chens, die bei­na­he nicht zu hören gewe­sen war. Kaum eine vier­tel Minu­te ver­ging, da erschien ihre Mut­ter auf dem Bal­kon und schau­te zu den bei­den Mäd­chen her­ab. Das war ein Moment ihres Lebens gewe­sen, den Y., die inzwi­schen selbst zwei Söh­ne gebar, nie ver­ges­sen konn­te, ein Geheim­nis: War­um hat­te die Mut­ter auf die lei­se Stim­me eines frem­den Mäd­chens reagiert, aber die Stim­me der eige­nen Toch­ter nicht gehört? — stop

ping

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uhrwerke

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alpha : 2.05 — Im Traum betre­te ich ein Zim­mer, das voll­stän­dig weiß ist und voll hel­lem Licht. Nichts zu hören. In der Mit­te des Zim­mers sitzt ein unbe­klei­de­ter Mann auf dem Boden, sei­ne Haut strahlt bei­na­he so hell wie die Wän­de, der Boden und die Decke des Zim­mers. Der Mann scheint zu schla­fen, sei­ne Augen sind geschlos­sen. Obwohl ich auf Zehen­spit­zen gehe, mache ich Geräu­sche, aber ich kann nicht sagen, ob der Schla­fen­de mich wahr­neh­men kann. Im Näher­kom­men ver­neh­me ich ein Rau­schen, das von dem Mann unmit­tel­bar aus­zu­ge­hen scheint. Einen Schritt spä­ter ent­de­cke ich tau­sen­de Uhren in der Grö­ße der 5 Cent­mün­zen. Sie lie­gen unmit­tel­bar unter der Haut des Man­nes gebor­gen, Sekun­den­zei­ger­schat­ten krei­sen dort, tau­sen­de Zei­ger, eine eigen­tüm­li­che Erschei­nung, als wür­de die Haut des Man­nes leicht ange­ho­ben sein, als wür­de sie über sei­nem Kör­per schwe­ben, sich frei bewe­gen. Die Uhren im Übri­gen zei­gen unter­schied­li­che Zei­ten an. So kon­zen­triert ich auch suche, ich kann kein Prin­zip ent­de­cken, das die Zei­ten der Uhr­wer­ke regelt. Selbst unter den Augen­li­dern des Man­nes bemer­ke ich Uhren. Ich schla­fe dann ein im Traum. — stop
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south ferry

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del­ta : 5.15 — Heu­te Nacht vor dem Fens­ter wie­der eine Stil­le, dass ich für einen Moment fürch­te­te, mein Gehör ver­lo­ren zu haben. Dann leich­ter Regen. Man sieht es den Bäu­men nicht an, aber sie schla­fen. Gegen fünf Uhr erin­ne­re ich mich an Uwe John­sons Jah­res­ta­ge. Es ist ein schwe­res Buch, das ich aus dem Regal hebe, 1702 Sei­ten fei­nes Papier, sei­ne Buch­sta­ben sind von Jahr zu Jahr klei­ner gewor­den, höchs­te Zeit, den Roman in eine Lese­ma­schi­ne zu laden. Ich stell­te mir vor, wie Lou­is ein­mal Uwe John­sons Werk, indem er liest, in groß­for­ma­ti­ge Notiz­bü­cher über­tra­gen könn­te. Oder eine Bril­le: Sonn­abend ist der Tag der South Fer­ry. Der Tag der South Fer­ry gilt als wahr­ge­nom­men, wenn Marie mit­tags die Abfahrt zur Bat­tery ankün­digt. Die Fäh­ren zwi­schen der Süd­spit­ze von Man­hat­tan und Sta­ten Island sah sie zum ers­ten Mal vom Tou­ris­ten­deck der ›France‹ aus, da muss­te sie noch über die Reling geho­ben wer­den. Sie starr­te feind­se­lig auf den Hoch­haus­kak­tus Man­hat­tans, der zu Rie­sen­ma­ßen wuchs, statt zu mensch­li­chen abzu­neh­men; mit Neu­gier betrach­te­te sie die Fähr­boo­te, die neben dem Über­see­schiff das New Yor­ker Hafen­be­cken aus­ma­ßen, mehr­stö­cki­ge Häu­ser von blau abge­setz­tem Oran­ge, rasch lau­fend wie die Feu­er­wehr. Sie nick­te benom­men, als Gesi­ne ihr die Fahr­zeu­ge nicht erklä­ren konn­te; bei einem Aus­flug erkann­te sie den Typ auf den zwei­ten Blick, obwohl die Fähr­por­ta­le ihr das Äuße­re mit Scheu­klap­pen zuge­hängt hat­ten. Die South Fer­ry war ihr ers­ter Wunsch an New York. — stop
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von händen

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nord­pol : 6.02 — Ob ein Mann, der schreibt, gut oder schlecht schreibt, ist gleich aus­ge­macht, ob aber einer, der nichts schreibt und stil­le sitzt, aus Ver­nunft oder aus Unwis­sen­heit stil­le sitzt, kann kein Sterb­li­cher aus­ma­chen. G.C.Lichtenberg. Ich ver­gesse, obwohl ich ihre Bewe­gun­gen mit den Augen ver­folge, mei­ne Hän­de, sobald ich schrei­be. — Warum?

mikroskop1

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ai : VIETNAM

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MENSCH IN GEFAHR: „Die viet­na­me­si­sche Anwäl­tin und Men­schen­recht­le­rin Lê Thu Hà wur­de am 16. Dezem­ber fest­ge­nom­men. Kurz zuvor am sel­ben Tag war auch der bekann­te Men­schen­rechts­an­walt Nguyễn Văn Đài fest­ge­nom­men wor­den. Bis­her durf­te sie kei­nen Besuch von ande­ren Aktivist/innen erhal­ten. Sie läuft Gefahr, gefol­tert und ander­wei­tig miss­han­delt zu wer­den. / Die Rechts­an­wäl­tin Lê Thu Hà soll am 16. Dezem­ber inhaf­tiert wor­den sein, als Sicher­heits­kräf­te die Woh­nung des Men­schen­rechts­an­walts Nguyễn Văn Đài in der Haupt­stadt Hanoi durch­such­ten. Der Anwalt war am Mor­gen des­sel­ben Tages fest­ge­nom­men wor­den. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen zu sei­nem Fall fin­den Sie in UA-292/2015.  Lê Thu Hà ist Mit­glied der von Nguyễn Văn Đài gegrün­de­ten Orga­ni­sa­ti­on “Bru­der­schaft für Demo­kra­tie” (Brot­her­hood for Demo­cra­cy). Sie befin­det sich der­zeit im B14-Gefäng­nis in Hanoi in Unter­su­chungs­haft. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits ange­klagt wurde./ Lê Thu Hà war bereits am 23. Sep­tem­ber fest­ge­nom­men wor­den, gemein­sam mit vier wei­te­ren Mitarbeiter/innen des unab­hän­gi­gen You­Tube-Kanals “Lương Tâm TV” (“Gewis­sens-TV”). Sie war als Eng­lisch-Über­set­ze­rin für den Sen­der tätig gewe­sen, der seit August 2015 auf You­Tube kur­ze Clips über die Men­schen­rechts­la­ge in Viet­nam aus­strahlt. Alle fünf waren bis spät­abends von der Hanoier Sicher­heits­po­li­zei fest­ge­hal­ten wor­den. Im April hat­ten die Behör­den den Rei­se­pass von Lê Thu Hà ein­ge­zo­gen, kurz bevor sie von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt flie­gen und von dort aus einen Flug ins Aus­land neh­men woll­te. / Am 20. Dezem­ber ver­such­ten eini­ge Aktivist/innen, Lê Thu Hà im B14-Gefäng­nis zu besu­chen, durf­ten sie jedoch nicht sehen. Sie läuft Gefahr, gefol­tert und ander­wei­tig miss­han­delt zu wer­den. Verteidiger/innen der Men­schen­rech­te, gegen die in Viet­nam straf­recht­li­che Vor­wür­fe erho­ben wor­den sind, wer­den wäh­rend der Unter­su­chungs­haft bzw. in der Ermitt­lungs­pha­se häu­fig unmensch­lich behan­delt.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 2. Febru­ar 2016 hin­aus, unter > ai : urgent action

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