echo : 0.03 — Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zurzeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Indessen habe ich seit zwei Tagen Kenntnis von einer Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrt zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — stop
im pullmanwagon
julliet : 17.03 — Traum von einem Fernreisewagon für Schwärme kleiner Engelpersonen. Dieser Fernreisewagon war ein Pullmanwagen gewesen, himmelblau. Sitze, Bänke, Kofferablagen waren vollständig entfernt, an den Wänden Pfeilzeichen, die die Fahrrichtung des Zuges definierten. Der Wagen fuhr langsam dahin. Kleinere, sehr fest gewirkte Dampfwolken flogen im Waggon genau in Reisegeschwindigkeit voran, sodass ich sie betrachten konnte aus nächster Nähe. Auch die Engel flogen präzise in der Geschwindigkeit des Zuges. Es waren einige Hundert Engel in der Größe von Kolibris. Ich glaube, sie führten Gespräche, während sie so flogen, mit ruhigen gleichmäßigen Bewegungen ihrer Flügel wie Schwäne. Ein Rauschen, hell, war in der Luft. Manche der kleinen Wesen trugen Fliegermützen. Einmal fiel Regen aus den Wolken im Zug. — stop
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ameisengesellschaft ln — 788
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 788 [ lasius niger ] : Position 48°21’N 07°01’O : Folgende Objekte wurden von 18.00 — 18.55 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : sechs trockene Fliegentorsi mittlerer Größe [ je ohne Kopf ], achtzehn Baumstämme [ à 5 Gramm ], elf Raupen in Grün, zweiundzwanzig Raupen in Orange, zwei Insektenflügel [ vermutlich die eines Zitronenfalters ], drei Streichholzköpfe [ à 2 Gramm ], vier Fliegen der Gattung Calliphoridae in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 100 Gramm ], sechs Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], drei gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 1162 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], acht Rüsselkäfer [ blautürkise ], die Aaskugel eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, eine Wildbiene, ein Modellflugzeugreifen [ Spaceshuttle Discovery ] 12 Gramm. — stop
von den glücksgeräuschen der froschvögel
ulysses : 4.18 — Früher Morgen. Windstille. Licht noch schwach. Die Luft ist kühl geworden über die Nacht. Vor dem Teich im Garten die Spuren meiner Füße im Gras. Am Ufer des kleinen Sees ruht ein Molch, äußerst langsam geht sein Herzschlag, da muss doch ein Geräusch zu hören sein. Ich erinnere mich, gestern wurde die Entdeckung eines neuen Teilchens im Atom bekannt gegeben. Das Teilchen trägt den Namen: Xi_b^0. Hätte ich von seiner Entdeckung nicht gelesen, wäre ich in der Beobachtung meiner Hand, die auf meinem Knie ruht, nicht so aufmerksam wie an diesem frühen Morgen. Ich frage mich, wie viele Teilchen der Bezeichnung Xi_b^0 sich in meiner halbschlafenden Hand wohl befinden mögen, wie alt sie sind und woher sie vielleicht gekommen waren. Es ist still am Morgen heute. Die Amseln schlafen noch. Ein Wasserläufer überquert den Teich. In diesem Moment bemerke ich ein ballonartiges Wesen, das hoch über mir am Himmel schwebt. Es nähert sich langsam, in dem es tiefer kommt. Das Wesen ist hell, es ist weiß, es verfügt über Flügel, die sich sehr schnell bewegen, Fühleraugen, wie die Augen der Lungenschnecken, es ist ein Vogel. Der Vogel scheint den See unter ihm aufmerksam zu betrachten. Jetzt öffnet sich sein Bauch an erdnaher Stelle, ein Mund spitzt seine fahlrosa Lippen, Beutel fallen heraus aus diesem Mund, sie schlagen hohe Wellen im Teich. Der Molch verschwindet im Gras, Wasserläufer, die bewegungslos an Seerosenblattspitzen dämmerten, flitzen auf und davon. Jene Beutelchen, das kann ich von meiner Position aus gut erkennen, die aus dem Vogel herausgefallen sind, haben sich geöffnet, Kaulquappen, tausende, schwärmen nach allen Richtungen aus. Noch immer schwebt der Vogel über mir über dem See über der Wiese. Ein faszinierendes Geräusch ist von seinem Körper her zu vernehmen, ein Hupen, das Trompetengeräusch eines Zwergelefanten. Es ist nun denkbar, dass ich als erster Mensch die Glücksgeräusche der Froschvögel wahrgenommen habe. — stop
für meine Mutter,
für meinen Vater
subnautilus aquarius
himalaya : 0.05 — Nach vielstündiger, konzentrierter Arbeit ist die Erfindung einer weiteren Gattung schaukelnder Perlboote endlich denkbar geworden. Subnautilus aquarius, Geschöpf reinen Wunsches. Wesentliche Merkmale kurz notiert: Perlboote der Gattung Subnautilus aquarius leben ausschließlich in Süßwasserumgebung, vornehmlich in flachen Gewässern, das heißt, in Gewässern bis fünf Meter Tiefe. Temperaturen jenseits 30° Celsius (doch unter 40° Celsius) sind Voraussetzung, um höheres Alter erreichen zu können. Größe in Reife: 150 mm. Gassteuerung sowohl auf als auch abwärts. Äußere Hülle: Aragonit. Innere Hülle: Perlmutt. Fangarme: 120. Perlboote der Gattung Subnautilus aquarius gebieten weiterhin über die Fähigkeit, Licht zu erzeugen in vielfältigen Farben. Algen (5 bis 8 Gramm pro Tag), aber auch Schuppen menschlicher Haut, werden bevorzugt aus dem Wasser genommen. Man kann hören. — stop
radio
charlie : 0.15 — Er habe, erzählte mein Vater, kurz nach dem Krieg ein Radio gebaut, einen Kurzwellenempfänger, um die Sender der amerikanischen Befreiungsarmee empfangen zu können. Er hoffte, Benny Goodman hören zu können, Gene Krupa, Glenn Miller, Duke Ellington, alle jene großartigen Musiker. An diese Geschichte erinnerte ich mich, während ich gestern durch den warmen Tag spazierte, Spinnen seilten von den Bäumen, Spechte mit roten Köpfen segelten über die Wege am Fluss, Dioden, Widerstände, der Geruch von Zinn, das Glimmen einer Lötkolbenspitze. Plötzlich die Vorstellung, mein Vater könnte in den Stunden meines Spazierganges irgendwo da oben jenseits der Baumkronen in einem hellen Zimmer sitzen, auf einem weißen Stuhl an einem weißen Tisch. Wie er sich nach vorn beugt, wie er ein Radio konstruiert, einen sensiblen Detektor, um unsere diesseitigen Stimmen wahrnehmen zu können. Dampf stieg auf, ein heller, dünner Faden. Kaum hundert Meter war ich weitergekommen, da war aus der Vorstellung eines Radios die Hoffnung eines Funkgerätes geworden. — stop
manhattan
fliegende brillen
alpha : 17.03 – Heute Morgen, war noch dunkel im Haus, hörte ich ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch näherte sich über die Treppe abwärts. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine der Brillen meiner Mutter, die seit dem Vorabend über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen bis hin zu einem Gewicht von 80 Gramm in die Luft zu heben, sie vorwärtszubewegen oder rückwärts durch Räume oder den Garten. Langsam durchquerte die Brille den Raum, kreiste einmal um meinen Kopf, und landete schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem meine Mutter sitzt, sobald sie ihr Frühstück zu sich nehmen möchte. Über drei Brillen verfügt meine Mutter, und jede dieser Brillen kann nun fliegen. Eine Brille wurde im Dachgeschoss stationiert, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte zu ebener Erde. Wenn nun Morgen wird, zu einer Zeit, da fast alle Menschen noch schlafen, erwachen vor den Vögeln bereits die Brillen meiner Mutter. Sie beginnen zu blinken, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels Funksignalen orientieren. Bald fliegen sie los, die Dachgeschossbrille ins Dachgeschoss, die Brille der ersten Etage in die erste Etage, die Brille des Erdgeschosses ins Erdgeschoss. Das Suchen hat nun ein Ende, alles wird gut! – stop
windrad
bamako : 8.05 — Auf meiner letzten Ruhestätte könnt einmal ein Windrad stehen. Das Rad würde, in dem es sich drehte, Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräftige Winde ausreichende Mengen von Strom gesammelt sein werden, würde sich ein Musikabspielgerät in Bewegung setzen, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine reizende Vorstellung. Ob man vom Musikgeräusch etwas vernehmen könnte an der Erdoberfläche? Wie würden Eichhörnchen reagieren? Ob sie sich vielleicht um die Musik, die aus dem Boden kommt, versammeln werden? All diese Fragen. — stop