sierra : 18.01 — Vor Kurzem, am frühen Abend genauer, ist mir eine merkwürdige Geschichte mit mir selbst passiert. Ich saß gerade vor dem Computerbildschirm und beobachtete, wie ein Server Zeile um Zeile meldete, welche Datei einer digitalen Arbeit gerade aus der lesbaren Welt in eine nichtlesbare Welt befördert wird, als ich bemerkte, dass mir das Löschen gefällt, dass auch das Verschwinden, Zeile für Zeile, reizvoll sein kann. Für einen kurzen Moment hatte ich die Idee, dass der Server, nachdem er meine Geschichte zu Ende gelöscht haben würde, auf mich selbst zugreifen könnte, also die Person des Autors zu sich holen und löschen, wie kurz zuvor die Gedankenarbeit zweier Tage. Womit, fragte ich, würde er beginnen? Mit einer meiner Hände eventuell, oder mit meinen Augen oder mit meinen Ohren? Wie würde sich dieses Verschwinden bemerkbar machen? Würde ich den Eindruck haben, leichter zu werden, oder würde ich vielleicht vergeblich nach einem Bleistift greifen, weil meine zupackende Hand lichtdurchlässig geworden ist? – stop
betäubung
alpha : 10.25 — Meldungen, die den Tod oder die Verwundung von Menschen verzeichnen, werden zur Unsichtbarkeit hin betäubt durch Beschleunigung der Sprache: title / 2 LN children WIA = title / 2 local national children wounded in action. /aus geheimen Feldberichten der US-Armee zum Irak-Krieg, veröffentlicht auf der Plattform Wikileaks
nicolas bouvier
tango : 0.01 — War über einem Buch des Schweizer Schriftstellers Nicolas Bouvier eingeschlafen, hatte in letzter Sekunde noch einen Gedanken wahrgenommen. Ich sagte zu mir mit leiser werdender Stimme im Kopf: Du musst einmal überlegen, ob es sinnvoll ist, nach einer Methode zu suchen, im Schlaf ein Buch lesen zu können. Ja, das wär eine interessante Geschichte. Man würde sich natürlich an die erzählende Wirklichkeit des Buches selbst nicht erinnern, das man gerade noch las oder hörte während man schlief, weil man das Buch nicht bewusst wahrnehmen konnte, und doch wäre man mit Herrn Bouvier nach Galway geflogen wegen eines Lochs im Sturm. Man wäre in einer Art und Weise nach Galway geflogen, dass man sich einmal später so gut an diesen Flug erinnern könnte, als wäre man selbst dort in Kilronan gewesen, eine Ahnung, Geräusche, Luft und Leute. — stop
seelenortfeder
romeo : 23.58 — s e e l e n o r t f e d e r
XZH-78
olimambo : 0.01 — Eine lebende Tapete, ein summendes Wesen aus Millionen zartester Mollusken, die einander verbunden sind und doch jede für sich alleine existieren könnten. Diese sehr kleinen Tiere nun sind so eingestellt, dass sie Stäube, Sporen, Pilze, aber auch Bakterien und Viren aus der Raumluft entnehmen. Und weil sie alle derart aneinander befestigt sind, dass ihre Ausscheidungsorgane sich nach Außen richten, könnte man also von einer Wand sprechen, von einer lebenden Haut oder einem außerordentlich wirksamen Filter in einer Personengestalt. Sobald eine Molluske gestorben ist, wird sie von umgebenden Mollusken vertilgt, eine Prozedur, die nicht sehr häufig vorkommen wird, weil die Mollusken, so wie ich sie wünsche, ein hohes Alter erreichen, sagen wir, sie werden zweihundert Jahre alt oder um weitere Jahre älter. Einmal am Tag ist im Molluskenzimmer ein Brausen zu vernehmen, ein sehr tiefer, warmer Ton, der in einer Welle durch das Staatstier wandert. Das ist die Minute, da Molluske für Molluske je ihren Bauch entleert.
südwand
india : 6.15 — In der Arbeit des Erfindens wie in der Arbeit des Kletterns in einer Bergwand, ist jede nächste Aufgabe die Wichtigste. stop
bauchwellen
echo : 0.05 — Würde man die Gestalt eines Basskäfers auf einem Blatt Papier zur Aufführung bringen, wäre zunächst ein enormer Knochenraum zu zeichnen, eine Kammer, in der sich Luft befindet, Luft in Erwartung einer Kraft, die sie in geräuschvolle Schwingung versetzen wird. Irgendwo dort, an einem der schmaleren Enden dieses Raumes, sitzt ein kleiner Kopf, Fühler, Ohrensegel, falten sich tastend durch seine unmittelbare Umgebung, feinste Apparaturen. Dafür Augen keine, aber Beine, die sich flink bewegen. Er spielt, wie alle seine Artgenossen, im Liegen auf dem Rücken, greift dann nach feinsten Saiten von Kupferchitin, die über seinen Bauchregionen aufgespannt. Wundervolle, sonore Töne sind zu hören, indem der Käfer sich selbstvergessen langsam um die eigene Achse zu drehen beginnt, dumdum, dumdum, immerzu links, immerzu links, immerzu links herum. — Nacht. stop. Kühl. stop. Habe meine Winterbeleuchtung angeschaltet. Vier Lampen in der Küche, zwei im Flur, sieben in den Spazierarbeitszimmern, hell ist’s als sei Tag. Guten Morgen.
time
romeo : 22.58 — Ein Wort, das ich erinnere, kann ich nicht erfinden. stop Millisekundenweiche. stop Flimmern. — stop
peking
tango : 6.05 — In Diktaturen verschwinden Menschen und ihre Telefonnummern zur selben Stunde.
minutenzeit
india : 15.05 — Versuche, die Zeit vorzustellen, das heißt, die Zeit einer Minute zu messen oder zu fühlen oder zu denken, ohne eine Uhr zur Hilfe zu nehmen. Das ist natürlich nicht ganz richtig formuliert, weil ich die Genauigkeit meiner geistigen Messung prüfe, in dem ich nach Ablauf einer Minute, einer vorgestellten Minute, die tatsächlich verstrichene Zeit vom Zifferblatt einer kleinen Stoppuhr lese, die ich in dem Moment mit einer Handbewegung in Gang setze, da ich denke, jetzt, genau jetzt ist die Zeit einer Minute angebrochen. Nein, ich zähle nie bis sechzig, auch nicht bis dreißig! Und die Arbeit der Uhr, die in meiner Hand der Minutenzeit eine gültige Gestalt verleiht, ist nicht zu spüren, nicht zu hören. Ich habe festgestellt, dass die Minutenzeit des Morgens kürzer ist als die Minutenzeit des Abends an derselben Stelle. Seltsame Geschichte!