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sonar

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echo : 0.50 — Wal­ter Kem­pow­ski bemerkt in einem Gespräch, dass die wich­ti­gen Din­ge im Leben in Sekun­den­zeit gesche­hen. Er habe vor sehr lan­ger Zeit ein­mal von einem fah­ren­den Zug aus, in einem Fens­ter oder in einer Tür eines gleich­falls fah­ren­den, eines ent­ge­gen­kom­men­den Zuges, die Gesich­ter drei­er Lager­häft­lin­ge gese­hen. Das dau­er­te nur eine Zehn­tel­se­kun­de: Nie ver­ges­sen! — Sein gro­ßes Werk vom Lau­schen, Fra­gen, Sam­meln, Sor­tie­ren, Kon­fi­gu­rie­ren: Echo­lot. — stop

ping

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traumwärts

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india : 0.02 — Ich notie­re: Wenn ich mei­ne lin­ke Hand mit mei­ner rech­ten Hand berüh­re, durch­bre­che ich einen Spie­gel. Wenn ich sage: mei­ne Hand ohne Haut, habe ich in mei­nem Kopf ein mus­ku­lä­res Bild zur Ver­fü­gung, das sich bewe­gen lässt. — Was ist heu­te eigent­lich für ein Tag? — Sams­tag viel­leicht? — Oder Sonn­tag? – Nacht jeden­falls. Vor den Fens­tern pfeift die Welt traum­wärts von den Bäu­men. — Da war vor weni­gen Minu­ten eine Spin­ne von der Grö­ße einer Kir­sche, schnee­wei­ßer Pelz, sie­ben hell­blaue Augen. Sie blitz­te mich an, als ich die Tür zum Eis­fach mei­nes Kühl­schranks öff­ne­te. Ein Aus­druck tiefs­ter Ver­wun­de­rung, hier wie dort, als ob wir bei­de nicht glau­ben konn­ten, was wir vor uns sahen.
19621

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hilde domin

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romeo : 22.02 — Atem­los eine Kame­raluft­rei­se der jun­gen Fil­me­ma­che­rin Anna Dit­ges beob­ach­tet. Zwei Jah­re lang film­te sie ihre Begeg­nun­gen mit Hil­de Domin. Als ich mei­ne Fern­seh­ma­schi­ne aus­schal­te­te, war ich voll Glück und Freu­de, und ich dach­te, dass ich mich ver­mut­lich ver­liebt habe, in den Film, in die jun­ge Fil­me­ma­che­rin, oder nein, ich glau­be, ich habe mich in Hil­de Domin ver­liebt. Und wie ich die­se Zei­len gera­de schrei­be, den­ke ich, dass Hil­de Domin, soll­te sie mir über die Schul­ter sehen, viel­leicht sagen wür­de: Aber das geht doch nicht, das ist unhöf­lich, so nah her­an­zu­kom­men. – Ich saß im Park am Nach­mit­tag, folg­te einer Spin­ne, die auf Buch­sei­ten turn­te und las in Hil­de Dom­ins Gedich­ten: Wer es könn­te / die Welt / hoch­wer­fen / dass der Wind / hin­durch­fährt. Ihre von der Zeit gezeich­ne­te Hand, die im Film genau die­se Zei­len mit einem Blei­stift auf ein Blatt notier­te. Wie sie sagt zur jun­gen Frau hin­ter der Kame­ra: Wir sehen uns ger­ne an, weil wir uns mögen. — stop

ping

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siatista

pic

ulys­ses : 15.02 — Nörd­li­ches Grie­chen­land. Kar­ge Land­schaft. Man erzähl­te mir von Sia­tis­ta, dort sol­len Wöl­fe leben in den Ber­gen, aus wel­chen die Stei­ne der Häu­ser der klei­nen Stadt geschla­gen sind. Im Win­ter fällt Schnee und bleibt lie­gen. Dann kom­men die Wöl­fe näher her­an, sind zu hören in den Näch­ten, ihr heu­len­des Gespräch. Alt sind sie, uralt wie die Men­schen in die­ser Gegend, die sich wider­set­zen, wenn ihre letz­te Stun­de gekom­men ist, leben sie ein­fach wei­ter. Sobald ein Win­ter endet und die Ber­ge blü­hen für eine kur­ze Zeit in allen Far­ben, die man sich nur vor­stel­len kann, liegt eine jun­ge Frau auf einer Wie­se her­um. Die­se Wie­se ist weiß von den Kör­ben der Kamil­le, eine Wie­se, die die Gestalt der jun­gen Frau erin­nert, wie sie auf dem Rücken liegt, immer an der­sel­ben Stel­le in den Him­mel schaut und glaubt über ein Eis­meer zu flie­gen. Wenn man sie besu­chen, wenn man sich neben sie legen wür­de, könn­te man Geschich­ten hören, die sie mit tie­fer Stim­me sogleich erzäh­len wird. Dass sie blau war zum Bei­spiel, ein blau häu­ti­ges Kind, dass sie nicht atmen konn­te in der ers­ten Stun­de ihres Lebens, dass man sie mit Luft, anstatt mit Was­ser tauf­te, weil man glaub­te, sie wer­de ihre zwei­te Lebens­stun­de nicht betre­ten. Dass sie sich im Alter von vier Jah­ren im Schnee ver­irr­te, dass zwei Wöl­fin­nen sie wärm­ten für eine Nacht, bis man sie fand. Dass sie eine Par­ti­sa­nen­toch­ter sei, dass sie mit den Schild­krö­ten spre­chen kön­ne und den Schlan­gen, den Fal­tern, den Flie­gen. Dann wird sie ein wenig schwei­gen und eine Hand­voll Aka­zi­en­blü­ten rei­chen, sie schmeck­ten vor­züg­lich, man müs­se sie sich auf die Zun­ge legen und war­ten, bis sie schmel­zen. Jetzt liegt die jun­ge Frau wie­der auf dem Rücken zum Eis­meer hin, erzählt wei­ter, erzählt von den lan­gen Wegen im Win­ter zur Schu­le und dass sie ein Jahr zurück das ers­te Mal das Meer gese­hen habe. Ein gro­ßer Frie­den. Ihre Stim­me, die so selt­sam tief ist. Das Brum­men drei­hun­dert Jah­re alter Insek­ten. Auch Wöl­fe fres­sen wei­ße Blü­ten. — stop

für v.s.
siatista

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licht

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india : 10.02 — Da war ein Buch vor lan­ger Zeit, ein Buch, das Tho­mas Alva Edi­sons Leben erzähl­te. In die­sem Buch, ich seh das noch genau vor mir, wur­de das elek­tri­sche Licht erfun­den. Zunächst mach­te man einen glä­ser­nen Behäl­ter, der glüh­te und flüs­sig war und heiß, denn die Män­ner, die an ihm arbei­te­ten, tru­gen kräf­ti­ge Hand­schu­he, auch ihre Gesich­ter waren mit Tüchern ver­bun­den. Man konn­te das Glas, so flüs­sig war es unter dem Feu­er gewor­den, wie hei­ße Scho­ko­la­de von einer Tas­se in eine ande­re gie­ßen. Ich habe die­se Zeich­nung als Jun­ge stun­den­lang betrach­tet und erzählt, was dort für mich zu sehen war. Seit­her ist alles Licht, vor allem dann, wenn es warm, gold­far­ben, ja, wenn es sicht­bar ist, flüs­sig und von Schokolade.

teilchen5

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copernic

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echo : 8.27 — Ich stel­le mir vor, an die­sem wun­der­schö­nen Mor­gen unterm Regen­licht, ein­mal die Spu­ren eines Men­schen zu erfin­den, von dem nichts geblie­ben ist, als der Schat­ten sei­ner Fra­gen an die Meta-Such­ma­schi­ne COPERNIC auf einem Note­book, das ihn von Geburt an beglei­te­te. Kön­nen Kro­ko­di­le hören? Eine Spur feins­ter Boh­run­gen der Luft. – Wäh­rend ich die­se Zei­len notier­te, ist mir auf­ge­fal­len, dass bis vor Kur­zem noch Men­schen exis­tier­ten, die in der Elek­tro­sphä­re nie eine Spur zeich­ne­ten. Mei­ne Lieb­lings­tan­te zum Bei­spiel, ein wun­der­ba­res Geschöpf, das an Sonn­ta­gen immer oder an Mon­ta­gen zu Besuch gekom­men war. Wir nann­ten sie Wal­ly. Sie hat­te sehr wei­che, rosi­ge Haut und immer­zu küh­le Hän­de und war von einem Bal­lon Laven­del­duft umhüllt. Da war Moos, ein moos­grü­nes Kleid, und da war ein spin­nen sei­di­ges Haar­netz (War­um?), und eine rußi­ge Stirn zur Win­ter­zeit, und das Rascheln der Papier­tü­ten, das Lauch­ge­mü­se, das dort her­aus­rag­te, und klei­ne Geschen­ke, die sie uns Kin­dern mit­brach­te, – Match­box­au­tos, Füll­fe­der­hal­ter, Mal­bü­cher -, und ihre Schen­kel, auf denen ich turn­te, der nas­se, bit­te­re Kuss, der nie­mals abge­wen­det wer­den konn­te. Eine Bril­le, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, dar­in run­de Glä­ser, die ich gern mit mei­nen Fin­gern berühr­te. Irgend­wann ein­mal erzähl­te mir jemand, die Wal­ly sei 1919, als Räte ihre Hei­mat­stadt ver­tei­dig­ten, im Kugel­ha­gel über die Mün­che­ner Gol­lier­stra­ße gerobbt. Des­halb die Pis­to­le in ihrer Tasche, des­halb das Feu­er in ihren Augen. So alt ist sie jetzt gewor­den, die Wal­ly, dass sie auf­ge­hört hat zu leben.

walli