kilimandscharo : 5.28 — Das ist schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spaziert. Sie trägt Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünscht. Sie scheint sich zu fürchten, ernst schaut sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtet sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kennt, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut sind, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegen scheinbar ohne Ziel. Es ist feucht an diesem Morgen, Wolken berühren den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch stürzte, einfach so stürzte, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, solch ein Schlamassel. Hundert Meter weit ist sie schon gelaufen, da entdeckt sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht ist, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten kann. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine sind unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen müssen. Für einen Moment bleibt die alte Dame stehen. Es wird ganz still in diesem Augenblick. Sie beugt sich zur Klingel herab, und schon ist ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach ist es zu hören. — stop
Aus der Wörtersammlung: augen
papiere
marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um eine weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zurzeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop
beobachtung
ulysses : 6.12 — Während ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book las, bemerkte ich, dass ein Computer , vermutlich von Nordamerika aus verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde, um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist der 16. Oktober, leichter Regen. — stop
alisa
foxtrott : 3.02 – Alisa, wie sie vor Jahren in Holzschuhen durch das Treppenhaus hüpft, wie sie Rosenblüten in meinen Briefkasten wirft, wenn schon nicht telefonieren, dann eben so. Ihre Wildheit. Ihre Lust auf Fotoapparate. Ihr blaues Auge, weil sie eine Fotografie zu Hause zeigte, die ich ahnungslos aufgenommen hatte, Alisa, die Kastanien sammelt an einer nahen Straßenbahnhaltestelle, nie wieder Rosenblüten. Wie wir uns einmal auf die Suche machen, Alisas verzweifelte Mutter, mit Kopftuch, und ich, ohne Kopftuch. Sie kann nicht mit dem Mund zu mir sprechen, es fehlen die Wörter, also spricht sie mit den Augen. Mit angewinkelten Beinen sitzt Alisa in einer Turnhalle und sieht riesigen Männern zu, die Basketball spielen. Sie hat die Zeit vergessen, wie alle Kinder die Zeit vergessen. Da ist gerade noch ein Bild in meinem Kopf, ein todmüder marokkanischer Mann, Alisas Vater, mit seinem heruntergekommenen roten Auto, wie er an einem späten Freitagabend gebückt und staubig die Straße überquert. Plötzlich waren sie nicht mehr da, Alisa, ihre Mutter, der Vater, das rote Auto. — stop
5 Uhr 52
olimambo : 5.52 — Ich beobachtete, wie ich die Augen schloss, obwohl ich eigentlich die Ohren schließen wollte. — stop
nachtbild
charlie : 2.02 — Noch dunkel, aber doch soviel Licht, dass ich eine Hand entdecke, die sich genauso bewegt, als würde sie malen. Der Mensch, zu dem diese malende Hand gehört, schläft, vermutlich ereignen sich im Augenblick meiner Beobachtung Träume, die die Hand bewegen. Ich versuche in der Beobachtung herauszufinden, das heißt, vorzustellen, was diese Hand gerade malen oder zeichnen könnte. Darüber schlafe ich ein. Als Morgen geworden ist, sage ich fröhlich: Du hast heute Nacht vielleicht im Schlaf gemalt! Kannst Du Dich erinnern, an welchem Bild Du gearbeitet haben könntest? — Es ist die Zeit der Hummerernte. Erste kalte Winde fließen über die großen Seen südostwärts. Ecke Willow St. passiert ein Leguan die Cranberry St., ein Polizist, der sich freut, regelt den Verkehr. Plötzlich eine Frage wie eine brennende Lunte, eine Frage, die ich in einer fremden Sprache vorsichtig notiere, ob sich Hummertiere an menschlichen Körpern vergreifen? Beunruhigend, wie damals, Ende des vergangenen Jahrhunderts, die Frage nach den Vorlieben der Viktoriaseebarsche? — stop
kein wort unterstrichen
ulysses : 0.25 — Konstantin erzählte von einer Bibliothek unberührter Bücher, die sich in seiner Wohnung befinden soll. Als ich ihn fragte, was er unter unberührten Büchern verstehen würde, erklärt er, das seien Bücher, die er besitze, aber nie geöffnet habe, nie in ihnen geblättert, keine Notiz wurde auf irgendeiner der Seiten der Bücher hinterlassen, kein Wort unterstrichen. Seltsamerweise habe er jedes dieser Bücher gelesen, ihre digitalen Schatten. Er lese ausschließlich Bücher in elektronischer Bearbeitung, er sehe nicht mehr gut, er könne die Zeichen elektronischer Bücher in seiner Lesemaschine vergrößern, so wie es für seine Augen angenehm sei. Einmal habe er bemerkt, dass er Bücher, die ihn begeisterten, unbedingt besitzen müsse, ihre Ausgabe auf Papier sichtbar in einem Bücherregal. Einmal habe er einen elektronischen Text selbst ausgedruckt und zu einem Buchkörper geformt, weil er eine papierene Ausgabe des Buches zum Kauf nicht finden konnte. — stop
die insel der farbenblinden
echo : 0.12 — Oliver Sacks notiert in seinem Reisebeobachtungsbuch Die Insel der Farbenblinden Folgendes: Meine Besuche auf diesen Inseln waren kurz und unvorbereitet, nicht an einen festen Plan oder ein Programm gebunden, nicht dazu bestimmt, eine These zu beweisen oder zu widerlegen, sondern einfach der Beobachtung gewidmet. Doch so impulsiv und unsystematisch sie auch waren, ich verdanke ihnen intensive, vielschichtige Erlebnisse, die sich in alle möglichen, mich ständig überraschenden Richtungen verzweigten. Vielleicht bedurfte es erst meiner Rückkehr, der Möglichkeit, die Erlebnisse wieder und wieder Revue passieren zu lassen und zu sichten, um ihres Zusammenhangs und ihrer Bedeutung (oder zu mindestens eines Teils ihrer Bedeutung) habhaft zu werden ― und um diesen Impuls zu verspüren, sie zu Papier zu bringen. Diese Niederschrift, die mich während der letzten Monate beschäftigt hat, erlaubte mir, ja zwang mich, die Inseln in meiner Erinnerung erneut aufzusuchen. Und da die Erinnerung, wie Edelmann ausführt, niemals nur simple Aufzeichnung oder Reproduktion ist, sondern ein aktiver Prozess der Rekategorisierung, der Rekonstruktion und Fantasietätigkeit, ― ein Prozess, der von unseren eigenen Werten und Perspektiven bestimmt wird, hat mich die Erinnerungsarbeit dazu geführt, die Besuche in gewisser Weise neu zu erfinden und so ein persönliches, eigenwilliges, vielleicht exzentrisches Bild dieser Inseln zu entwerfen, das zusätzlich genährt wurde durch meine Leidenschaft für Inseln und Inselbotanik. — stop
afrika
nordpol : 2.28 — Zentralafrikanische Landschaft. Savanne. Affenbrotbäume. Das Ufer eines Flusses oder Sees. Wolken, schneeweiß, getürmt. Entlang der Uferlinie fliegen Flamingos, ein Schwarm, 200 oder 300 Tiere. Sie sind vermutlich gerade erst gestartet. Wenn ich mich mit einer Lupe der Landschaft, die auf eine Briefmarke gepresst wurde, nähere, vermag ich die Füße einzelner Vögel gut zu erkennen, eine hochauflösende Druckarbeit, möglicherweise könnte man unter einem Mikroskop Federn entdecken, das Licht, das sich in den Augen der Fliegenden bricht, Moskitos, die über dem Wasser schweben, Libellen und wiederum die Füße der Libellen. Ein seltenes Exemplar einer Panoramamarke von 2,8 cm Höhe und 1 Meter und 50 cm Breite. Man könnte diese Briefmarke für Briefe verwenden, die über entsprechende Breite verfügen, sagen wir, für sehr lange Langbriefe, oder aber man verwendet dieses wundervolle Postwertzeichen auf Kurzbriefen üblicher Breite, dann muss man die Briefmarke falten. Genauso ist das vorgesehen, natürliche Falten sind der Briefmarke beigebracht, eigentlich liegt die Briefmarke, sofern man sie erwerben möchte, in gefaltetem Zustand vor, ein Bändchen von Haaresbreite hält sie in der Gestalt einer Ziehharmonika zusammen. Auch jetzt sind Flamingos gut zu erkennen. Es handelt sich um eine wirklich sehr schöne Marke. — stop
postkarte
echo : 5.15 – In meinem Briefkasten ruhte eine Postkarte, die von irgendjemandem mit winzigen japanischen Zeichen beschriftet worden war. Zunächst wirkte der Text wie ein Muster, das sich erst dann zu Schriftzeichen auflöste, als ich meine Brille aus der Schublade holte. Ich konnte den Text natürlich nicht lesen. Ich nehme an, die Postkarte wurde versehentlich in meinen Briefkasten geworfen. Bei genauerer Untersuchung stellte ich jedoch fest, dass die Postkarte in jedem anderen Briefkasten vermutlich gleichwohl ein versehentliches Ereignis gewesen wäre, die Postkarte trug nämlich keine Anschrift an der dafür vorgesehenen Stelle, aber eine Briefmarke des japanischen Hoheitsgebietes. Auch auf ihrer Rückseite war kein Adressat zu erkennen. Eine Fotografie zeigt Samuel Beckett, der unter einem blühenden Kirschbaum sitzt, oder einen Mann, der Samuel Beckett ähnlich sein könnte, der Dichter im Alter von 160 Jahren, er hat sich kaum verändert. Ein sehr interessantes Bild. Auf einem Ast des Baumes sind Eichhörnchen zu erkennen, sieben oder acht Tiere, die ihre Augen geschlossen halten. Ich erinnere mich, dass ich einmal davon hörte, Menschen würden immer wieder einmal Postkarten notieren, oft sehr aufwendig ausgearbeitete Schriftstücke, um zuletzt die Adresse des Empfängers zu vergessen. Das ist tragisch oder vielleicht eine Methode, Information an die Welt zu senden, die niemanden oder irgendeinen beliebigen Menschen erreichen soll. Nun liegt diese Postkarte neben Zimtsternen, Bananen und Äpfeln auf meinem Küchentisch. Zunächst hatte ich das Wort L i e b e r in die Google – Übersetzermaschine eingegeben und in die japanische Sprache übersetzt. Zeichen, die sich auf meinem Bildschirm formierten, waren mit den ersten Zeichen auf der Postkarte identisch. Ich weiß sehr genau, was jetzt zu tun ist. In diesem Augenblick jedoch scheue ich noch davor zurück, meinen Namen in die Maske der Suchmaschine einzugeben. Bald Morgendämmerung im Koffertext, ich höre schon Tauben auf dem Dach spazieren. – stop