romeo : 16.25 — Mit einer jungen Ärztin im Gespräch über Menschen, die sich aus modischen Gründen von kleineren Teilen ihrer Wangen trennen, um sie durch edelste Hölzer zu ersetzen, je nach Teint, stellte ich mir vor, hellere oder etwas dunklere Materialien, die man polieren kann, die glühen wie die Substanzen feiner Pfeifenköpfe. Ich erzählte diese Gedankengeschichte bei einer Tasse Schokolade, rückte mit meiner Fantasie langsam vorwärts, weil ich erwartete, sie würde vielleicht aufspringen und sich entfernen wollen. Stattdessen stellte sie die Frage, ob man die Materialien des Waldes, über die ich nachgedacht hatte, als Schmuckware betrachten sollte, die im Fleisch des Körpers schwimmen würde, oder eher um Bojenkörper, welche mit einem der Gesichtsknochen verbunden sein müssten. Sie machte eine kleine Pause und noch ehe ich antworten konnte, stellte sie nüchtern fest: Die Ränder der Natürlichkeit sind ein Problem. stop. Kurz nach vier Uhr und fast schon dunkel. Seit einer Stunde Regen. Er kommt in einer Weise vom Himmel gefallen, dass ich ihn wieder hören kann. — stop
Aus der Wörtersammlung: material
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop
roman opalka
tango : 2.15 – Eines Tages im Jahre 1965, vielleicht an einem Samstag, vielleicht an einem Sonntag, ich konnte schon laufen und hatte gelernt, mir die Schuhe zu binden, nahm Roman Opalka den kleinsten seiner verfügbaren Pinsel in die rechte Hand und malte mit titanweißer Farbe das Zeichen 1 auf eine schwarz grundierte Leinwandfläche. Bevor er diese erste Ziffer malte, fotografierte er sich selbst. Er war gerade 34 Jahre alt geworden, und als er etwas später seine Arbeit unterbrach, — er hatte weitere Ziffern, nämlich eine 2 und eine 3 und eine 4 auf die Leinwand gesetzt -, fotografierte er sich erneut. Er war nun immer noch 34 Jahre alt, aber doch um Stunden, um Ziffern gealtert. Auch am nächsten und am übernächsten Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr, wurde er älter, indem er Ziffern malte, die an mathematischer Größe gewannen. Wenn eine Leinwand, ein Detail ( 196 x 135 cm ), zu einem Ende gekommen war in einer letzten Zeile unten rechts, setzte er fort auf einer weiteren Leinwand oben links, die indessen eine Lichtspur heller geworden war, als die Grundierung des Bildes zuvor. Bald sprach er Zahl für Zahl lauthals in die Luft, um mit seiner Stimme auf einem Tonband die Spur seiner Zeichen zu dokumentieren. — In unserer Zeit, heute, ja, sagen wir HEUTE, oder nein, sagen, wir morgen, ja, sagen wir MORGEN, wird Roman Opalka mit weißer Farbe auf weißen Untergrund malen, Ziffern, die nur noch sichtbar sind durch die Erhebung des Materials auf der Oberfläche des Details. Der Betrachter, stelle ich mir vor, muss das Bild von der Seite her betrachten, um die Zeichen in ihren Schatten erkennen zu können. — stop
vilem flusser
16.18 — Einmal, vor langer Zeit, habe ich mir vorgenommen, zwei oder drei Bücher auswendig zu lernen, Wort für Wort. Sagen wir für Tage, da die Sonne nicht aufgehen will und der Strom ausfällt. Oder um einen Menschen, der vielleicht traurig und müde geworden ist, begeistern zu können. Fangen wir also an. Vilem Flusser. Die Geste des Schreibens: ES HANDELT SICH DARUM, ein Material auf eine Oberfläche zu bringen ( zum Beispiel Kreide auf eine schwarze Tafel ), um Formen zu konstruieren ( zum Beispiel Buchstaben ). Also anscheinend um eine konstruktive Geste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen ( zum Beispiel Kreide und Tafel ), um eine neue Struktur zu formen ( Buchstaben ). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Wort — graphein — beweist das. Der Schein trügt in diesem Fall. Vor einigen tausend Jahren hat man damit begonnen, die Oberflächen mesopotamischer Ziegel mit zugespitzten Stäben einzuritzen, und das ist der Tradition zufolge der Ursprung der Schrift. Es ging darum, Löcher zu machen, die Oberfläche zu durchdringen, und das ist immer noch der Fall. Schreiben heißt immer noch, Inskriptionen zu machen. Es handelt sich nicht um eine konstruktive, sondern um eine eindringende, eindringliche Geste. — stop