nordpol : 2.06 — Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan. Wunderbares Licht, klar und sanft. Da ist ein Wind, der aus dem Landesinneren kommt, ein beständiger, kalter Strom, gegen den sich Möwen in einer Weise stemmen, dass sie in der Luft zu stehen scheinen. Helle Augen, grau, blau, gelb, das Gefieder dicht und fein wie Pelz. Ich folge kurz darauf einem alten chinesischen Mann durch Chinatown. Tack, tack, tack, das Geräusch seines Stocks auf dem Boden, ein Faden von Zeit über enge Straßen. Links und rechts des Weges, schmale Läden in roten, in goldenen Farben, Waren, die Harmonie bedeuten, Bänder, Fächer, lächelnde Masken. Ich rieche heute nichts, oder die Gerüche, wenn sie noch existieren, bewegen sich dicht über den Boden hin, Morchelberge, getrocknete Schwämme, Muscheln, Nüsse, Algenwedel, Krabben, zwei Hummertiere, sie leben noch, sind für 20 Dollar zu haben. Im Restaurant nahe der Mottstreet, eine milde Entensuppe gegen den Abend zu. Messer der Köche, die vor meinen speisenden Augen lautlos durch halbe Schweine flitzen. Gebratene Entenkörper, glänzend, als wären sie von der Art kandierter Früchte, baumeln in den Fenstern. Dann Dämmerung und Wärme im Bauch und das Schwingen der Brücke noch in den Beinen. – stop
Aus der Wörtersammlung: nordpol
misrata
nordpol : 6.38 — Ein faszinierendes Wort geistert seit Monaten in meinem Kopf. Ich kenne das Wort schon lange Zeit, hatte ihm aber zunächst keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bis ich das Wort in dem Zusammenhang einer unheimlichen Szene hörte aus dem Mund eines Reporters, der von der libyschen Stadt Misrata berichtete. Das war im Oktober des vergangenen Jahres gewesen. Im Kühlraum eines Supermarktes lagerte der Leichnam Muamar Gaddafis auf einer Matratze, das Haar des Diktators war zerzaust, seine Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, dünne Fäden von Blut sickerten aus zwei Wunden. Menschen standen in nächster Nähe, ihre Fußspitzen berührten das Lager des Toten. Sie standen dort auf neugierigen Füßen, um den Leichnam zu betrachten, manche fotografierten mit Handyapparaten, andere, auch Kinder waren unter ihnen, warteten in einer Schlange vor dem Gebäude darauf, eintreten zu dürfen. Ich dachte noch an den scharfen Geruch des Todes, der dort unsichtbar auf die wartenden Menschen einwirken musste, als der kommentierende Reporter bemerkte, die Bevölkerung der geschundenen Stadt würden sich aus allen Himmelsrichtungen nähern, um den Leichnam Gaddafis und den seines Sohnes zu b e ä u g e n. In diesem Augenblick war das Wort, von dem ich hier berichtete, eingetroffen, ein zartes Wort wandernder Augen. Wie sich unverzüglich in der Gegenwart dieses Wortes der Schrecken der Situation, in etwas Menschliches, beinahe Kindliches verwandelte, in ein Verhalten, das ich verstehen konnte, eine Berührung, eine Vergewisserung, dass wahr ist, wovon man hörte. Ein sanftes Wort in der Umgebung eines Krieges, ein neuronaler Hebel. — stop
zufall
∞
ein erstes wort
nordpol : 22.15 — Ob ich mich einmal an meine kindliche Stimme erinnern könnte? Irgendwo in meinem Kopf sollte sie sich noch befinden, eine Spur, eine Ahnung des ersten Wortes, das ich in meinem Leben ausgesprochen habe. Dort, in der Ahnung genau dieses Wortes, mit der Suche beginnen. — stop
102 minuten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : 102 MINUTEN
Vormittag. Der Himmel sonnig, die Spitzen der Berge weiß seit Tagen. Wenige Wochen vor meiner Reise nach New York, liebe Daisy, liebe Violet, will ich Euch berichten von einer kleinen Probe, die ich unternommen habe, um vorzuprüfen, ob ich in der Lage sein werde, in der großen Stadt mit meinen Untersuchungen der Wirklichkeit rasch voranzukommen. Ich habe nämlich gerade einen Koffer mit allen möglichen Gegenständen gefüllt, die ich vorhabe mitzunehmen, ein Jackett, Pullover, Wildlederfäustlinge, einen Schal, Wanderschuhe, zwei Norwegermützen, sowie einen Schneeschirm, der in der Lage sein sollte über meinem Kopf durch die Luft zu schweben. Des Weiteren eine Schreibmaschine, eine elektrische Maus, zwei Fotoapparate, ein Tonbandgerät, das gerade so groß ist, dass ich es mit einer Hand umfassen kann. Außerdem einen Reisebehälter, wie unlängst berichtet, für Trompetenkäfer polaren Ursprungs, Spazierpläne, Subwaykarten, Bücher für Ruhezeiten abends und nachts. Da wären Robert Falcon Scotts Aufzeichnungen einer letzten Reise, Wilhelm Genazinos Roman Wenn wir Tiere wären, das Buch der 102 Minuten, das mich seit Tagen fesselt, weil es auch von Holly erzählt. Kurzum, diese Gegenstände nun waren in einem großen und einem weiteren, kleineren Koffer aufgehoben. Ich habe beide Reiseobjekte neben mich gestellt und angehoben für zwei Minuten. Ich sage Euch, es geht. Was machen die Simmons? Ist alles o. k.? Ahoi – Euer Louis
gesendet am
10.12.2011
18.30 MEZ
1433 zeichen
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nordpol : 10.24 — n i e r e n k ö r p e r c h e n
time
nordpol : 7.36 — Je langsamer ich arbeite, desto schneller werde ich. Warum?
PRÄPARIERSAAL : cerebum
nordpol : 8.02 — TONAUFNAHME / Mai 2005 — Yomo : Als wir das Gehirn entnahmen, haben wir uns zunächst keine Gedanken darüber gemacht, was für ein faszinierendes Teil des menschlichen Körpers wir gerade in der Hand hielten. Wir hatten das nämlich so verstanden, dass die Studierenden das Gehirn selbst entnehmen dürfen und wir haben das dann auch gemacht. Aber bald haben wir festgestellt, dass die Assistenten, nicht die Studierenden, das an den anderen Tischen machten. Wir hatten bei der Entnahme einen Fehler gemacht und das Gehirn an der falschen Stelle durchtrennt. Wir waren sofort damit beschäftigt, zu überlegen, was wir jetzt machen sollen, um keinen Ärger zu bekommen. Wir haben deshalb in dieser Situation nicht so sehr an das Gehirn gedacht. Zum Glück kam dann aber eine nette Assistentin und hat das Gehirn vollständig entnommen, ohne uns weiter Vorwürfe zu machen. Sie fand unsere Art der Entnahme fast noch besser als die vorgegebene Methode, da man viele Strukturen sehen konnte, die wir anders nicht gesehen hätten. Wir waren auf jeden Fall ziemlich froh, dass wir keinen Ärger bekommen haben. Ich habe erst etwas später ein besonderes Gefühl gespürt, als ich das Gehirn in den Händen hatte. Vielleicht lag das auch daran, dass wir uns am Anfang auch noch gar nicht so genau mit dem Gehirn auskannten. Ein paar Dinge über das Gehirn wusste ich zwar schon aus der Schule, aber wie genau es aufgebaut ist, aus wie vielen Strukturen das Gehirn besteht und was man alles an einem Gehirn sehen kann, das habe ich erst in der Anatomie gelernt. So wurde das Gehirn im Lauf Zeit zu einem immer interessanteren und faszinierenderen Körperteil für mich. An dem Tag, als wir die Sulci mit bunten Fäden auslegen sollten, hatte ich das Gehirn dann länger in der Hand. Das ist jener Tag, an den ich mich besonders intensiv erinnern kann, da ich ein besonderes Gefühl hatte, als ich das Gehirn in der Hand gehalten habe. Ich war ein wenig glücklich und stolz auch, denn wer hat schon die Möglichkeit ein Gehirn in der Hand zu halten. Für mich war kaum vorstellbar, dass diese Struktur in meiner Hand einmal so viele und wichtige Aufgaben erfüllt hatte.