ulysses : 6.52 UTC — Ich gehe, wie so oft, ein paar Schritte nach links, dann gehe ich, wie so oft, ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht, während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen, während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — Das Kurzfilmkino erzählt von einem russischen Soldaten, der nach dem Verlust seines linken Beines auf dem Boden liegt. Ein weiterer, ein riesiger Mann, kniet neben ihm. Er bietet dem verletzten Mann seine Hilfe an. Wir Ukrainer sind nicht so, wie Du fürchtest, sagt er, Hilfe kommt sofort. Der Mann erhebt sich und sucht nach dem Bein des Verletzten, er findet das Bein und einen Schuh. — stop
Aus der Wörtersammlung: statur
jenseits
tango : 20.55 UTC — Einmal, vor Jahren, war ich in der digitalen Sphäre auf der Suche nach Propellerflugmaschinen gewesen, die von Hand zu bedienen sind. Ich entdeckte eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — Das Radio berichtet von einem schwerhörigen Opa, der in Kyjiw vor einem Fernsehgerät sitzt, mit dem Ton so laut, dass seine Enkelkinder im Nebenzimmer die Einschläge von Raketensprengköpfen nicht hören. — stop
fingerschnecke
marimba : 2.28 UTC — Denkbar ist, dass ich das Muskelgedächtnis meiner Sprache bald verloren haben werde, weil ich kaum noch mit Tinten- beziehungsweise Grafitwerkzeugen schreibe, vielmehr auf vorgefundene Zeichen tippe, die sich wie gestempelte Bilder auf Tastaturen befinden. — stop
kolibri m5
india : 0.14 UTC — Es ist tatsächlich 0 Uhr und 14 Minuten, kurz nach Mitternacht. Ich habe lange Zeit gewartet, nämlich von 22 Uhr des vergangenen Tages an bis zu dieser Minute, um folgenden Text zu wiederholen, das heißt, ich werde Zeichen für Zeichen notieren, was ich vor Jahren bereits zur selben Stunde aufgeschrieben habe. Hört Ihr das Geräusch der Tastatur? Es ist kurz nach Mitternacht. Eine Drohne in der Gestalt eines Kolibris stationiert seit wenigen Minuten in einem Abstand von 1,5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beobachten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in meinem Zimmer herumgeflogen, hatte meinen Kakteentisch untersucht, meine Bücher, das Laternensignallicht, welches ich vom Großvater erbte, auch meine Papiere, Fotografien, Schreibwerkzeuge. Ruckartig verlagerte das Lufttier seine Position von Gegenstand zu Gegenstand. Ich glaube, in den Momenten des Stillstandes wurden Aufnahmen gefertigt, genau in der Art und Weise wie in diesem Moment eine Aufnahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeitssofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich versucht bin, tatsächlich für einen Kolibrivogel zu halten, war zunächst nichts zu hören gewesen, keinerlei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minuten, meine ich einen leise pfeifenden Luftzug zu vernehmen, der von den nicht sichtbaren Flügeln des Luftwesens auszugehen scheint. Diese Flügel bewegen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahrzunehmen sind. Ein weiteres, ein helles feines Geräusch ist zu hören, ein Wispern. Dieses Wispern scheint von dem Schnabel des Kolibris herzukommen. Ich habe diesen Schnabel zunächst für eine Attrappe gehalten, jetzt aber halte ich für möglich, dass der Drohnenvogel doch mit diesem Schnabel spricht, also vielleicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natürlich nicht sagen, was er mitteilen möchte. Es ist denkbar, dass vielleicht eine entfernte Stimme aus dem Schnabel zu mir spricht, ja, das ist denkbar. Nun warten wir einmal ab, ob der kleine sprechende Vogel sich mir nähern und vielleicht in eines meiner Ohren sprechen wird. — stop
seltsame geschichte
india : 16.28 UTC — Ich liege auf dem Rücken, mit Schreibmaschine auf dem Bauch und sehe Händen zu, wie sie über Tasten hüpfen. Ich schreibe gern so mit den Fingerhänden. Ich habe das heute zum ersten Mal bemerkt, dass ich mit den Mittelfingern schreibe, nicht mit den Zeigefingern, wann hat das angefangen? Wann habe ich Zeigefinger aufgegeben? — stop
rechenkern
echo : 0.28 UTC — Ich arbeite sehr gerne in der Vorstellung, ein Mensch, der nicht ich bin, würde mir zusehen, beobachten, was ich tue. Ich könnte eine Erfindung sein, eine Vorstellung, wie meine Schreibmaschine und meine Rechenkerne, Bildschirm, Tastaturen, Sensoren, Mikroskope und feinste Lichtfangmaschinen, auch Meißel und Hämmerchen. Warum? — stop
von pfirsichen
echo : 10.26 UTC — Wie die Briefe langsam sterben, ihre Umschläge, Papiere, Postwertzeichen, welche Flugzeuge und Schmetterlinge zeigen, die gleichfalls seltener werden. Wenn die Briefe langsam sterben, dann auch jene, die Briefe schreiben für andere Menschen, die nicht lesen können. Ich stellte mir einen älteren Herrn vor, der in einem Büro von Holz in London sitzt, letzter seiner Zunft, dutzende Kollegen haben schon vor Jahren ihre Arbeit eingestellt, haben ihre hölzernen Schreibabteile und ihre Schreibmaschinen verlassen, da werden jetzt Lampen verkauft oder Schmuck oder Telefone oder Kartons mit Reis und gebratenen Hühnern. Wie ist solch eine Vorstellung möglich, werden Sie vielleicht fragen. Nun, es ist so, dass ich mir dachte, dass dieser letzte Briefschreiber der Stadt London den Auftrag erhalten hatte, einen unendlichen Brief zu schreiben, weswegen sie zu zweit sind, ein fein gekleideter älterer Herr, der den Brief diktiert, der Auftraggeber, und eben jener ältere Herr, der die Zeichen des Briefes mittels einer Tastatur auf Papierbögen trägt. Sie sind zu einer kleinen Attraktion geworden. Manchmal schlafen sie oder nehmen etwas vom nachbarschaftlichen Reis zu sich, auch Pfirsiche oder Melonen bei großer Hitze. — stop
nachtschläferkapselbaum
alpha : 0.12 UTC — Sobald ich das Wort Nachtschläferkapselbaum notiere, meldet mein Textverarbeitungsprogramm, dieses Wort sei in seinen Registern nicht zu finden, ein Wort demzufolge, das bislang nicht existierte. Tatsächlich ist das so, dass ich das Wort Nachtschläferkapselbaum zunächst im Kopf erfunden habe, ehe ich das Wort mittels der Tastatur meiner Schreibmaschine verwirklichte. Die Vorstellung eines Baumes von enormer Größe, an dessen Ästen Kapselformen befestigt sind, in welchen sich Menschen zur Ruhe legen. Ich überlegte Bäume, die in der Nähe eines Flughafens sich erheben, Leitern, Seile, Wendeltreppen, Blätter, Blütenduft, Flüssigkeit spendende Röhrenlianen. Selbstverständlich wurde vor wenigen Sekunden nun bereits zum dritte Male gemeldet, dass das Wort Nachtschläferkapselbaum nicht existiert. Wenn ich nun aber das erfundene, markierte Wort und damit die unbekannte Welt, die sich mit ihm verbindet, mit meiner Mouse berühre, entdecke ich die Möglichkeit, das Wort zu lernen, also in das Register des Programms einzutragen. Es wäre dann so, dass ich nie wieder an das vorgestellte Wort erinnert sein würde, solange ich meine eigene Schreibmaschine verwende, weil meine Schreibmaschine sich über die Existenz der Nachtschläferkapselbäume nicht wieder wundern würde. — Früher Abend. Als ich Magazine gelernter Wörter meiner Schreibmaschine durchsuchte, habe ich meinen Text, der von Nachtschläferkapselbäumen erzählt, wiederentdeckt. Das war vor wenigen Minuten. Ich bin noch immer sehr zufrieden. — stop
schreiben
himalaya : 0.05 UTC — Das Schreiben mit Schreibmaschinen ist leiser geworden, man kann nicht sagen, ob jemand schreibt im Nebenzimmer oder nicht schreibt, das Schreiben wird vielleicht bald lautlos sein, ob mit einem Kugelkopfstift oder Tastaturen, die hinter Glas erscheinen, man muss näherkommen, um noch hören zu können, ob jemand schreibt oder nicht schreibt, man muss das Schreiben mit den eigenen Augen sehen, die Bewegung der Hände, dann kann man sagen, ob jemand schreibt oder nicht schreibt. — stop
going to sleep
nordpol : 0.18 UTC — Einmal, während ich einen Text über Hände und Finger notierte, beobachtete ich meine eigenen, arbeitenden Hände und Finger, wie sie die Tastatur der Maschine bedienten, ohne dass ich ihnen bewusst Anweisung erteilte. Bald konnte ich nicht weiter, deshalb machte ich eine kleine Pause und betrachtete zunächst meine linke, dann meine rechte Hand. Sie ruhten Seite an Seite auf der Tastatur der Maschine und warteten. Sie warteten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktieren würde, was aufzuschreiben ist. Ich könnte jetzt vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warteten, mein Gedächtnis entlasten zu dürfen, weil ich alle Sätze, die ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, nie lernen, nie speichern muss, weil ich bereits vor der Niederschrift weiß, dass ich bald wiederkommen und lesen könnte, was ich notiere und notierte. Ich betrachtete also meine Hände, und weil ich sehr lange Zeit nicht weiterwusste in meinem Text, habe ich in Nathalie Sarraute’s wunderbarem Buch Kindheit gelesen. Nach einer Stunde schaltete sich mein Computer aus und ich konnte auf dem Bildschirm folgende Zeile lesen: no signal. going to sleep. — stop