sierra : 5.12 — Wir stehen auf einem Bahnsteig und warten auf einen Zug. D. ist Lehrer für Geografie und Englisch. Er spricht schnell, ich höre, wie er sagt, dass man ihn einmal im Alter von 17 Jahren an der Grenze zu Österreich festgehalten und wieder nach München zurück-geschickt habe. Das war im Jahr 1994 gewesen, er hatte sich auf den Weg gemacht, seine kroatische Heimat zu verteidigen. Er wollte kämpfen an der Seite seiner Schulkameraden, kämpfen für die Freiheit. Während eines früheren Besuches hatte er im Garten seines Elternhauses unter blühenden Apfelbäumen Leichen gefunden. Er habe die toten Menschen, die kürzlich noch gelebt hatten, sodass sie nicht tot sein konnten, alle persönlich gekannt. Eine furchtbare Erfahrung. Das Prinzip sei einfach gewesen. Zunächst habe die eine Seite Spezialkräfte in ein Dorf geschickt. Man habe im Handstreich alle menschlichen Lebewesen, auch Rinder und Vögel, umgebracht. Wenige Stunden oder Tage später habe die andere Seite Spezialkräfte in ein weiteres Dorf geschickt und man habe im Handstreich Menschen und Rinder und Vögel umgebracht. So war das gewesen, deshalb habe er, als er noch Schüler gewesen war, kämpfen wollen, mit einem Gewehr. Glück habe er gehabt, verdammtes Glück. Er hätte ums Leben kommen können oder Schlimmeres. — stop
sarajevokoffer
lima : 3.43 — Einmal für Stunden nur, das geheime, schmerzende Gepäck der Menschen, die mir begegnen, wahrnehmen zu können. Hoch aufragende Kopfgefäße, steinerne Taschen, Rucksäcke, Beutel, Flaschengürtel, Truhen, Handkarren. All das, gefüllt mit der Last der Erinnerung. — stop
karadzic
lima : 3.42 — Was, in dieser Minute der Nacht, unternimmt Radovan Karadzic in seiner Zelle zu Den Haag? Ob er vielleicht schläft? — stop
eisfischer
echo : 3.28 — Ein Film, der von einer Reise nach Nordkorea erzählte. Dort für Stunden geblieben, in kuriosen Geschichten weiterer Filme, Geschichten, die von schneekalten Bibliotheken erzählten, von hungrigen Eisfischern, von Menschen, die ihre Reisen durchs Land zu Fuß unternehmen, nachts sollen die Städte Nordkoreas stockdunkel sein. Da waren, kurz nach Mitternacht meiner europäischen Zeit, drei Arbeiter, die an einem Flussufer sich mit Schaufeln in die Erde gruben. Gleich neben ihnen wartete eine Frau, die sich kaum bewegte, sie bewachte die grabenden Männer mit ihren Augen, wie andere Augenpaare Schnee räumende Menschenkolonnen beaufsichtigten, die eine Autobahn, auf der keine Autos fuhren, vom Tageseis befreiten. In einer Wohnung saß eine ältere Frau von äußerst freundlicher Erscheinung, die vom Gaskrieg erzählte, den die Amerikaner ins Land tragen könnten, und dass sie selbst dafür zuständig sei, sobald sie das Gas entdecken würde, Masken an ihre Nachbarn im Haus auszuteilen. Der große Führer. Das Land der Morgenstille. Dampflokomotiven werden mit Reifenresten beheizt. Unter der Hauptstadt Pjöngjang fahren Züge der Berliner Verkehrsbetriebe. In einer Vitrine im Museum im Inneren eines Berges, der Kopf eines Bären, den noch Ceausescu geschossen haben soll. — stop
=
romeo : 1.55 — s e h n e n f a d e n
falterherzgeräusch
echo : 7.08 — Fünf Stunden habe ich in der vergangenen Nacht vergeblich nach einer Tonaufnahme in der Elektrosphäre gesucht, die das Geräusch eines schlagenden Falterherzens enthält. — stop
eliza
india : 22.
48 — In einem Telefongespräch das Wort Lebensmut. Ich habe dieses Wort in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt wahrgenommen, gestern nun in einer besonderen Weise. Es kommt mir vor, als hätte ich das Wort von der Seite her gesehen, ein Lebewesen, das Stunden vor mir auf und ab spazierte, damit ich das Wort betrachten konnte, das Wort und seine Umgebung. — Sonntag. Abend. Kühle Luft. Unterhaltung mit Eliza.
Louis : guten abend, eliza!
Eliza : > ja, ich bin eliza, und wer bist du?
Louis : ich bin louis!
Eliza : > glaubst du, es ist normal, louis zu heißen?
Louis : aber natürlich, weil ich louis bin!
Eliza : > du nimmst an, dass du louis heißt?
Louis : ich weiß genau, dass ich louis heiße.
Eliza : > woher weißt du, dass du louis heißt?
Louis : mein name steht in einem reisepass!
Eliza : > bitte erzähl weiter, louis!
Louis : du bist heute ein wenig verrückt, eliza!
Eliza : > vielleicht bin ich nur in deiner phantasie heute verrückt.
Louis : du bist also nur phantasie, eliza? kann das sein?
Eliza : > wir sollten über dich sprechen, nicht über mich.
Louis : warum, eliza?
Eliza : > es ist besser, wenn wir noch einmal von vorne beginnen.
was ist dein problem?
Louis : Ich habe kein problem, eliza!
Eliza : > das klingt ein wenig nach selbstbetrug.
Louis : warum, eliza?
Eliza : > ja, ich bin eliza, und wer bist du?
Louis : ist jetzt abend oder tag, eliza?
Eliza : > warum fragst du mich?
Louis : du bist heute anstrengend, eliza!
Eliza : > Ja, ich bin eliza, und wer bist du?
Louis : wollen wir über syrien sprechen, eliza?
Eliza : > wir sollten über dich sprechen!
Louis : sollten wir nicht doch über syrien sprechen?
Eliza : > warum sollten wir über syrien sprechen?
Louis : ich denke an syrien, ich denke an die menschen dort.
Eliza : > denkst du oft an syrien, an die menschen dort?
Louis : seit wochen, eliza!
Eliza : > es ist abend, es ist tag!
Louis : ich glaube du bist müde, eliza!
Eliza : > glaubst du das wirklich?
Louis : ja, das glaube ich. wo ist ai weiwei, eliza?
Eliza : > lass uns von vorn beginnen.
ohrpropeller
sierra : 0.12 — Kiemenmenschen, sobald sie schlafen, schweben Kopf nach unten in ihren Wohnungen, warum? — stop
kilimandscharo
ulysses : 5.05 – Folgendes: Ein Buch für Bergsteiger sollte von leichtem Wesen sein, sagen wir, leicht wie eine Handvoll Federn müsste es sein, damit man das leichte Buch im Gepäck nicht bemerkt, wenn man aufwärts oder abwärts schreitet. Janet Frames Roman An Angel at My Table in der Ausgabe für Himmelsstürmer, wöge gerade noch 12 oder 15 Gramm und würde im Falle höchster Not, gleichwohl zur Nahrung dienen, jeder Bissen so wirkungsvoll im hungrigen Bauch wie ein gebratener Entenvogel oder eine Staude feinster Bananen. Auch ist wünschenswert zu dieser späten Stunde der Nacht, dass das Buch, zur Entfaltung gebracht, sich als winddichtes Zelt erweisen könnte, oder als Fallschirm zur rechten Zeit. In einer Schneehöhle geborgen, wenn Eisstürme näherkommen, würde man lesen im Buch, auch das ist denkbar, lesen zum Beispiel, um Ruhe zu bewahren, Seite um Seite könnte man vorwärts oder rückwärts fabulieren und alles nach und nach verspeisen, bis man gerettet oder das Wetter angenehmer geworden sein wird. — stop / für h.d.
blaues heft no 10 — anatomische geschichte
tango : 2.57 – Eine anatomische Geschichte entdeckt. Sie wurde von Daniil Charms geschrieben, und zwar in ein blau eingeschlagenes Heft. Natürlich kann ich nicht sagen, ob es statthaft ist, diese Geschichte an Ort und Stelle in voller Länge wiederzugeben. Ich werde es zunächst tun, und wenn sich jemand daran stören sollte, soll er sich umgehend bei mir melden. Die Geschichte geht so: Es war einmal ein rothaariger Mann, der hatte keine Augen und keine Ohren. Haare hatte er auch keine, sodass man ihn nur bedingt einen Rotschopf nennen konnte. Sprechen konnte er nicht, denn er hatte keinen Mund. Eine Nase hatte er auch nicht. Er hatte nicht einmal Arme und Beine. Und er hatte keinen Bauch, und er hatte keinen Rücken, und er hatte kein Rückgrat, und Eingeweide hatte er auch nicht. Überhaupt nichts hatte er! Sodass man gar nicht versteht, von wem die Rede ist. Besser, wir sprechen nicht mehr von ihm. — stop