nordpol : 6.28 — Man müsste einmal ein Programm erfinden, das in der Lage wäre, E‑Mailbriefe, die man versehentlich verschickte, zu jagen, zu erlegen, oder ganz einfach behutsam wieder zurückzuholen. Ich meine das so: Nehmen wir einmal an, eine E‑Mail wäre vorzeitig entwischt, ohne Gruß und Unterschrift bewegte sie sich rasend schnell durch das WorldWideWeb von Knoten zu Knoten, ein Brief, der nicht unhöflicher sein könnte, ein lichtschnelles Monstrum, wie glücklich würde man sein, wenn man ihn ungeschehen machen oder nachträglich noch bearbeiten könnte, in dem zu jeder E‑Mail ein persönlicher E‑Mailgepard gehörte, der hinter dem fehlerhaften Stück herhetzen würde bis das gejagte Zeichenwesen getilgt sein würde, zu einem Nichts geworden, wie nie gewesen. Manche dieser Geparden wären vielleicht in der Lage, sich bis in die E‑Mailprogramme adressierter Computer selbst fortzubewegen, E‑Mailbriefe, die bereits geöffnet wurden, würden vor den Augen der Leser verschwinden oder sehr heimlich später, so dass sie nie wieder gefunden werden könnten, als ob sie nie existierten, Geisterwesen, Täuschung, Gehirnschatten ohne Beweis. Es ist Samstag und es regnet kühles Wasser als wäre dieser Tag bereits im Herbst. — stop / koffertext
Aus der Wörtersammlung: koffertext
raumzeit
himalaya : 0.15 — Kürzlich habe ich etwas Lustiges mit mir selbst erlebt. Ich saß in der Nähe meines Schreibtisches auf einem Stuhl und stellte mir vor, wie ich gleich aufstehen und zum Fenster gehen werde. Was wäre zu sehen, fragte ich mich, wenn ich in dieser Passage durch mein Zimmer von einer Kamera aufgenommen werden würde, die in der Lage ist, 1 Million Bilder pro Sekunde einzufangen. Das Auge dieser Kamera würde mir nun also folgen und in dieser Zeit der Wanderung 8 Millionen Bilder meiner Gestalt im Raum erzeugen. Wie lange Zeit, überlegte ich weiterhin, würde ich in der Betrachtung meiner Person verbringen, wenn ich den kurz zuvor aufgenommenen Film mit der üblichen Rate von 24 Bildern pro Sekunde betrachten könnte. Ich rechnete auf einem Stück Papier ein oder zwei Minuten hin und her, um schließlich mit Gewissheit eine Beobachtungszeit von 3 Tagen und weiteren 20 Stunden herauszufinden. Zu diesem Zeitpunkt saß ich noch auf meinem Stuhl. Kurz darauf stand ich auf und versuchte, mich in der Wirklichkeit meines Körpers derart langsam zu bewegen, dass ich in der errechneten Betrachtungszeit als tatsächliche, nicht als aufgezeichnete Person, jene vorgenommene Strecke überwinden würde. Ich stelle fest: Das äußerst langsame Verhalten eines menschlichen Körpers in Raum und Zeit bedarf einerseits intensiver logistischer, anderseites sportlicher Vorbereitung. – stop / koffertext
vor dem bildschirm
echo : 6.22 — Würde ich in dieser Minute aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen kleinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der an einem Abend in der Küche steht, einen Mann, der Tee kocht, er spricht mit sich selbst. Er sagt: Heute machen wir das, heut ist es richtig. Ein Bündel Melisse zieht durchs flimmernde Wasser, bald trägt der Mann eine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer. Er schaltet seine Schreibmaschine an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor einem Bildschirm und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe seiner Verzeichnisse voran. Eine Viertelstunde steh ich hinter ihm und seh ihm zu. Dann erhebt sich der Mann, er steht jetzt zwei Meter vom Bildschirm entfernt und wartet. Der Bildschirm ist aus der Entfernung gesehen handlicher geworden, ein kleines Fenster von Licht. Dort kniet ein Mensch auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Eine Stimme ist zu hören, eine schrille Stimme. Sie spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Geräusche. Der Mann vor dem Schreibtisch tritt einen weiteren Schritt zurück. Er scheint flüchten zu wollen. Zwei Finger seiner rechten Hand formen einen Ring, er hält ihn vor sein linkes Auge, während das rechte Auge geschlossen bleibt. So verharrt er, leicht gebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atem zu hören, heftig. Kurz darauf steht der Mann wieder in der Küche, er lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht zu wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. Was machen wir jetzt? — stop / Koffertext 12 Feb. 2010 : In diesen Tagen sprechen die Mörder der IS englische Sprache.
Samia Yusuf Omar
ulysses : 0.03 — Exakt 418 Tage zurück, am Montag, dem 20. August 2012, meldeten Nachrichtenagenturen, die somalische Sprinterin Samia Yusuf Omar sei auf dem Weg nach London zu den olympischen Spielen ertrunken. Sie reiste auf einem Flüchtlingsschiff von Libyen aus nordwärts. Die Havarie des Bootes soll sich im Kanal von Sizilien nahe der Insel Malta bereits Anfang April ereignet haben. Einzige Vertreterin ihres Heimatlandes während der olympischen Spiele 2008 in Peking, hatte sich Samia Yusuf Omar allein auf den gefährlichen Weg nach Europa begeben. Sie lebte 22 Jahre. — stop / koffertext
georges perec
tango : 22.01 — Folgendes. Immer gegen 8 Uhr in der Früh brechen wir auf, Georges und ich. Wir gehn ein paar Schritte über die Rue de Javel, nehmen die 6er Metro durch den Süden, steigen dann um in Richtung Porte Dauphin, fahren mal unter, mal über der Erde im Kreis herum, bis es Abend oder noch später geworden ist. So kann man gut sitzen, zufrieden, durchgeschüttelt, Seite an Seite für viele Stunden, und Menschen betrachten, wie sie hereinkommen, Fahrgäste, wie sie im Waggon Platz nehmen, wie sie beschaffen sind, davon legen wir Verzeichnisse an, Georges ein Verzeichnis, und ich ein Verzeichnis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Verzeichnis aller Erscheinungen eines Raumes anzulegen, der nicht gerade erfunden wird, eines Raumes, der sich fortbewegt, der betreten und verlassen wird von Menschen im Minutentakt, das Verzeichnis eines Raumes, dessen Fenster sich von Sekunde zu Sekunde neu bespielen, weil es also unmöglich ist, das Verzeichnis eines wirklichen Raumes anzulegen, machen wir das so : in der ersten Stunde des Reisetages notieren wir ein Verzeichnis der zugestiegenen Krawatten, in der zweiten ein Verzeichnis der Schuhe und der Strümpfe, ein Verzeichnis, sagen wir, der Gehwerkzeuge und ihrer Bekleidung, dann ein Verzeichnis der Haartrachten, der Taschen, der Methoden sich im fahrenden Zug einen sicheren Stand zu verschaffen, der Gesprächsgegenstände, der Art und Weise sich zu küssen, zu streiten, oder aber ein Verzeichnis abseitiger Gestalten, ein Verzeichnis der Diebe, der Bettler, der Posaunisten, der Verwirrten ohne Ziel, je ein Verzeichnis der Sprachen und kleiner Geschichten, die wir aus der allgemeinen Bewegung zu isolieren vermögen. Von Zeit zu Zeit, während wir so fahren und notieren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Georges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel verschluckt, als lache er nur deshalb, weil er Mademoiselle Moreau wieder freilassen wolle. Dann weiß ich, Georges hat etwas gefunden, das er mir abends in irgendeinem Cafe, wenn wir fertig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser beider Köpfe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen aufbewahren lässt, vortragen wird, — „Auf Krawatte gelb, zehnzwei, lebende Ameise, argentisch, kreuz und quer. Der Codename Servals war Louviers“, sagt Georges und hebt sein Glas. Fünf Gläser Pastis, fünf Gläser Wasser, — dann sind wir wieder leicht geworden, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, nehmen wir den letzen Überlandzug nach Norden oder den 11er nach Süden, dorthin, wo die Feuernelken blühn, und wenn es endlich Morgen geworden ist, steigen wir um, öffnen die Fenster und fahren nach Westen in unserer Windmaschine spazieren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewitter aufsteigen und Schwefel vom Himmel kommen und weißes Licht, das die Landschaft entzündet. So haben wir schon sehr schöne Gedanken über das Feuer gefangen und über das Schlagzeug in diesem gewaltigen Raum, der über uns hängt, einem Raum, dessen zentrales Verzeichnis von nicht menschlichen Maßen ist, so dass wir bald nur schweigen und auf entfernte Menschen schauen, auf Szenen im rasenden Vorüberkommen, auf Filme, die in unseren hin und her hastenden Augen derart kurze Filme sind, dass sie einer Fotografie sehr nahe kommen, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbewegt. Es ist ganz so, als würden wir an einer gewaltigen Aufnahme der Zeit vorüberkommen, an einer Fotografie, deren Gegenwart wir nicht berühren, weil wir nicht aussteigen können, ohne das Leben zu verlieren, weil wir zu schnell, weil wir in einer anderen Zeit sind. — stop / koffertext