echo : 0.02 — In einem Reisebericht notiert Ludwig Hohl : 8 Uhr 30. Meer. — Meer leer. stop. Beobachtungszeit = Belichtungszeit. stop. In der vergangenen Nacht hatte ich wieder einmal den Traum vom Mann geträumt, der vor einem Aquarium sitzt und einen Schwarm dunkelblauer Fische betrachtet. Als ich hinzutrat, hörte ich, dass der Mann mit leiser Stimme Zahlen flüsterte. Ich fragte ihn, was er denn berechnen würde, und der Mann antwortete, dass er die Fische zähle, dass er sich nicht sicher sei, ob es sich bei dem Schwarm blauer Fische, um einen Schwarm aus 1556 oder aus 1557 Einzelpersonen handele. stop. Ist das wilde Spiel der Polarlichter am Himmel aus einer Tiefe von 70 Metern unter der Meeresoberfläche vor Neufundland noch zu erkennen? — stop
Aus der Wörtersammlung: oberfläche
roman opalka
tango : 2.15 – Eines Tages im Jahre 1965, vielleicht an einem Samstag, vielleicht an einem Sonntag, ich konnte schon laufen und hatte gelernt, mir die Schuhe zu binden, nahm Roman Opalka den kleinsten seiner verfügbaren Pinsel in die rechte Hand und malte mit titanweißer Farbe das Zeichen 1 auf eine schwarz grundierte Leinwandfläche. Bevor er diese erste Ziffer malte, fotografierte er sich selbst. Er war gerade 34 Jahre alt geworden, und als er etwas später seine Arbeit unterbrach, — er hatte weitere Ziffern, nämlich eine 2 und eine 3 und eine 4 auf die Leinwand gesetzt -, fotografierte er sich erneut. Er war nun immer noch 34 Jahre alt, aber doch um Stunden, um Ziffern gealtert. Auch am nächsten und am übernächsten Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr, wurde er älter, indem er Ziffern malte, die an mathematischer Größe gewannen. Wenn eine Leinwand, ein Detail ( 196 x 135 cm ), zu einem Ende gekommen war in einer letzten Zeile unten rechts, setzte er fort auf einer weiteren Leinwand oben links, die indessen eine Lichtspur heller geworden war, als die Grundierung des Bildes zuvor. Bald sprach er Zahl für Zahl lauthals in die Luft, um mit seiner Stimme auf einem Tonband die Spur seiner Zeichen zu dokumentieren. — In unserer Zeit, heute, ja, sagen wir HEUTE, oder nein, sagen, wir morgen, ja, sagen wir MORGEN, wird Roman Opalka mit weißer Farbe auf weißen Untergrund malen, Ziffern, die nur noch sichtbar sind durch die Erhebung des Materials auf der Oberfläche des Details. Der Betrachter, stelle ich mir vor, muss das Bild von der Seite her betrachten, um die Zeichen in ihren Schatten erkennen zu können. — stop
körperzeit
15.35 – Körperzeit kennt nur eine Richtung. Die elektrische Wahrnehmung der Wirklichkeit, der gegenwärtigen wie der vergangenen Wirklichkeit, scheint dagegen niemals linear zu sein. Vielleicht deshalb, weil sich die Substanzen der Erinnerung wie Flüssigkeiten verhalten. Eine Ordnung hineinzudenken fordert Arbeit, ein Vorher und Nachher zu identifizieren, Konsequenz. Nie kann ich sicher sein, ob ich meine vergangene Zeit gerade wiederfinde oder ob ich eine ganz andere, nie dagewesene Zeit erfinde. — Habe einen Katalog jener Erscheinungen erstellt, die ich in der Google Earth Pixelwelt aufsuchen werde, beispielsweise Kamelkolonnen auf einer Wüstenoberfläche oder die Spuren des Krieges in der Stadt Grosny, Ground Zero, Goldgräbersiedlungen am Amazonas, meine alten Spazierwege in Paris, Eisverkäufer im Central Park, die kleine Stadt Petuschki und ihre Eisenbahn, Elephantisland, Menschenkarawanen auf dem Chomolungma, Soveto, Lampedusa, Alcatraz. — Null Uhr siebzehn in Lhasa, Tibet. — stop
lowrysteine
3.15 — Bei feiner Coltranemusik Notizparticles für Lowrystory übertragen. Sagen wir : Atlantik : Dampfer : Koffer : Blackout : Ellis Island : Trompete : Mexiko : Höllenstein : Gin : Satellit : Vulkan : Bellevue : Walfischvogel : Melville : Battery Park : : lunar caustic. — Um nicht einzuschlafen, verbringe ich diese Nacht auf einem sehr harten, hölzernen Gartenstuhl. 70 Meter tief unter der Wasseroberfläche, 2000 m hoch über dem Meeresboden. | stop | Lichtblitze einer Meduse. | stop | Schlafende Wale. | stop | Senkrecht schwebende Türme. | stop | Ein Granatbarsch, der sich um mein linkes Ohr bemüht. | stop | Salz im Mund. | stop | Suche nach neuen Pseudonymen. — Elf Uhr fünfundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop
zeitort
[ 0.08 ] — Ich schreibe diesen Text an einem Zeitort, der eigentlich nicht existiert. Habe mich um 0.05 Uhr an die Schreibmaschine gesetzt, aber noch ehe ich meine Hände auf die Tastatur gelegt hatte, war schon 1 Uhr geworden und ich hatte noch keinen einzigen druckbaren Satz notiert. Habe ich mir also eine zusätzliche Stunde Zeit fabriziert. Wieder war 0 Null Uhr geworden und ich dachte notierend über das Wassersprechen nach. — Ist es möglich, unter einer Meeresoberfläche Wörter aufzusagen? Ist es überhaupt Menschen möglich, unter Wasser so deutlich zu sprechen, dass zu verstehen ist, was ausgesprochen, das heißt, ausgeatmet wurde? Wie hört sich eine menschliche Stimme an, die unter Wasser spricht? Wie viele Sätze kann ich mit einer gesunden, mit einer prall mit Luft gefüllten Lunge so deutlich sprechen, dass von einer Unterhaltung die Rede sein könnte, wenn ich eine Antwort von einem weiteren Taucher erwarten würde? — stop
hemingway
7.05 — Unter einem Ahornbaum eine Hütte. Räume, so niedrig, dass ich mich, als ich eintreten will, bücken muss. Ein Tisch, auf dem ein Glas Milch steht, das dampft. Eine Katze schläft auf dem Tisch neben einer Gruppe scharf angespitzter Bleistifte von gelbem Holz. Ernest Hemingway, kaum höher als 150 cm, betritt den Raum. Er setzt sich an den Tisch und beginnt mit einem der Bleistifte in die Luft zu schreiben: Das merkwürdige Leuchten, das die Sonne jetzt, da sie höher steht, im Wasser hervorruft, und auch die Formen der Wolken über dem Festland bedeuten gutes Wetter. Aber der Vogel ist jetzt nahezu außer Sicht und nichts zeigt sich auf der Oberfläche des Wassers außer einige Stellen von gelbem, sonnengebleichtem Saragossatang und der violett schillernden, gallertartige Blase einer Portugiesischen Galeere, die dicht neben dem Boot treibt. Sie legt sich auf die Seite und richtet sich auf. Sie treibt munter, wie eine Luftblase dahin, mit ihren gefährlichen Nesselfäden, die beinahe einen Meter weit hinter ihr durchs Wasser ziehen. — Leichter Regen. — stop
libelle
17.57 — Eine Libelle, die dicht über der Wasseroberfläche nach Fliegen jagt. Höre das Brummen ihrer Flügel. Ein kraftvolles Geräusch. Eines dieser Geräusche, die man mit dem Bauch zu hören meint, als wären dort geheime Ohren für Libellengeräusche angebracht. In diesem Moment nun, die Libelle schwebt fast bewegungslos vor mir in der Luft, der Gedanke, man sollte winzige Generatoren auf den Rücken der Libellen verschalten, genau dort, wo die Mechanik des Fluges aus ihrer Brust entsteht. — Das schöne Licht der Dioden über den Sommerseen. — Existieren vielleicht heimliche Strukturen in meinem Körper, die nicht bereits mit einem griechischen oder lateinischen Namen bezeichnet sind? — stop
vilem flusser
16.18 — Einmal, vor langer Zeit, habe ich mir vorgenommen, zwei oder drei Bücher auswendig zu lernen, Wort für Wort. Sagen wir für Tage, da die Sonne nicht aufgehen will und der Strom ausfällt. Oder um einen Menschen, der vielleicht traurig und müde geworden ist, begeistern zu können. Fangen wir also an. Vilem Flusser. Die Geste des Schreibens: ES HANDELT SICH DARUM, ein Material auf eine Oberfläche zu bringen ( zum Beispiel Kreide auf eine schwarze Tafel ), um Formen zu konstruieren ( zum Beispiel Buchstaben ). Also anscheinend um eine konstruktive Geste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen ( zum Beispiel Kreide und Tafel ), um eine neue Struktur zu formen ( Buchstaben ). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Wort — graphein — beweist das. Der Schein trügt in diesem Fall. Vor einigen tausend Jahren hat man damit begonnen, die Oberflächen mesopotamischer Ziegel mit zugespitzten Stäben einzuritzen, und das ist der Tradition zufolge der Ursprung der Schrift. Es ging darum, Löcher zu machen, die Oberfläche zu durchdringen, und das ist immer noch der Fall. Schreiben heißt immer noch, Inskriptionen zu machen. Es handelt sich nicht um eine konstruktive, sondern um eine eindringende, eindringliche Geste. — stop