alpha : 8.32 UTC — Ein Schriftsteller soll existieren, der all jene Gegenstände, über die er präzise zu schreiben wünscht, besitzen muss, um sie drehen und wenden zu können, in sie hineinsehen, also öffnen, zerlegen und wieder, wenn dann noch möglich, zusammenfügen. Es wurden beispielsweise gekauft: Eine rote Reiseschreibmaschine Olivetti Valentine nach dem Design des Ettore Sottsass, ein Kaleidoskop von Metall und buntem Glas, ein aufziehbares Vogelwesen mit Federn eines Straußes, ein Messingmikroskop Leitz No158461, eine fliegende Schnecke. Den Kauf dieser fliegenden Schnecke hatte ich nur geträumt wie die Schnecke selbst, und zwar mehrfach, ein sehr langsam durch die Luft fahrendes Wesen ohne Flügel. Ich wachte auf, sobald ich nach der Schnecke greifen wollte mit den Händen eines Kindes. Eigentlich sollte ich niemals das Ende eines Traumes erzählen, Traumenden befinden sich nicht selten bereits mit einem Bein im neuen Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirklichkeit nennen, ich bin dann schon wach geworden auf einem Bein, habe die Fenster geöffnet, es regnet zum Beispiel, auf der Straße weit unter mir bewegen sich Regenschirme, Menschen sind keine zu erkennen, aber ein paar nasse Tauben, die sich, von der Schwere ihres Gefieders in die Tiefe gezogen, kaum noch in der Luft zu halten vermögen. Eine Exkursion zur Kaffeemaschine hin nütze ich, um mein Mikroskop vom Tisch zu holen. Tatsächlich erkenne ich jetzt eine Herde goldgrüner Frösche, die sich an der Hauswand gegenüber westwärts bewegen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, prasselt auf die Blätter der Bäume, tropft von den Regenrinnen auf blecherne Fenstersimse, was für ein wunderschöner Morgen, schon habe ich den Traum, den ich träumte, beinahe vergessen. — stop
Aus der Wörtersammlung: regenrinne
von blüten
lima : 15.01 UTC — Vor der Verkündung des Urteils hat sich das Gericht vornehm zurückgezogen. Der Angeklagte sitzt auf seinem Platz und wartet. Links und rechts etwas erhöht haben sich auch seine Verteidiger, zwei angesehene Anwälte der Stadt, von ihren Plätzen nicht erhoben, man rechnet mit einer raschen Entscheidung. So auch der Staatsanwalt, ein jüngerer Herr, nicht einmal seine Robe hat er abgelegt, währenddessen er den Angeklagten gleichen Alters in einer vorsichtigen Art und Weise betrachtet, als sei er sich nicht sicher, mit seinem Plädoyer eine ausreichende Begründung für die hohe Strafe dargelegt zu haben, die er zuletzt über den Angestellten der städtischen Bibliotheken zu werfen forderte. Genau so hatte er noch gesprochen, werfen, nicht verhängen solle man eine Strafe über diesen Mann, der sich hier im Saale höchst unauffällig benommen hatte. Wann hatte er die erste Blume freigelassen, wann den ersten Samen ausgestreut? War es ihm denn nicht in den Sinn gekommen, dass er unrecht handelte, als er mit Vorsatz versuchte Urwald in der Stadt auszusetzen? Ja, wie konnte er denn glauben, dass man ihn ohne Strafe davon kommen lassen würde, nachdem seine Larentiae Sinensios vor dem Opernhaus das Pflaster sprengten, nachdem man im schönsten der zentralen Parks gerade noch verhindern konnte, dass der goldrote Samenstaub der Lobelia Frasensis sich des Palmenhauses bemächtigte? Ja wie konnte er gestatten, dass man ihn rühmte als einen guten Menschen, da doch die von ihm vornehmlich unter der Straßenbahnfahrt in die Luft gepuderten Kostbarkeiten der Nemuso Lasastro in den Lungen der städtischen Bürger wundersame Blüten zu treiben begannen? Man hatte lange Zeit Mühe, sie in ihrem Wachstum zu begrenzen. Das Wunder ihrer feuerroten Kelche drang aus den Gräbern derer, die an den Blüten erstickten. Dort, unter den Ulmen und Kastanienbäumen, kämpften die Gärtner einen ungleichen Kampf, wie ihre Brüder und Schwestern in den Hängenden Gärten der gläsernen Bankentürme, die vergeblich versuchten, die Taraxaca des gefräßigen Schäferkorbbaums aus ihren Häusern zu kämpfen. Morgens, wenn die herrliche Oktobersonne von Osten her in die riesigen Atriien schien, sah man wohlgeformten Fallschirme dieser fruchtbarsten Pflanzengeschöpfe in den künstlichen Winden des Gebäudes auf und niedergehen. Es war dies die Stunde, da man sich geschlagen gab, um dann doch wieder auszuschwärmen, um den Notrufen zu folgen, die von verzweifelte Angestellten aus ihren Büros abgesetzt worden waren. Der junge Staatsanwalt sieht durch das kühle Licht des Saales zu dem Angeklagten hinüber, und ein Schauer überläuft ihn bei dem Gedanken, dass gerade jene von der Stadt bezahlten Stunden des Studiums es den Bibliothekaren ermöglichten, in den biologischen Sammlungen und Archiven nach den Gierigsten unter den Blumen dieser Welt zu forschen. Er sieht diesen bescheidenen Herrn an einem behördlichen Schreibtisch sitzen, einem hölzernen, wie er die Fächer seiner ledernen Tasche mit Samen munitioniert. Und dann sieht er ihn spazieren, da dort lächelnd eine Dosis Blütensamen auf den Boden werfend, sodass schon bald darauf im Wechsel der Duft von Kamille, der Duft der blauen Andenhyazinten vom Schotter der Straßenbahngeleise aufzusteigen begann. Aus der Regenrinne des Polizeipräsidiums wuchert noch heute eine Commeline Cestre himmelhoch über Radioantennen hinaus, das Bersten ihrer Nüsse im Oktober ist noch über hunderte Metern hin deutlich zu hören, es sind Schüsse, es ist die reinste Gefahr, die dort über den Dächern der Stadt auf den Winter lauert. Da sitzen sie nun, ein junger Herr, ein Samenwerfer und ein junger Staatsanwalt, und warten auf das Urteil, das eine gerechte Strafe aussprechen möge. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights / 3
sierra : 5.12 UTC — Es ist Samstag und ich habe gerade eine Meldung gelesen, die mir ein Programm meines Particles-Servers sendete, es habe nämlich ein Mensch, der nahe oder in Washington D.C. leben soll, einen Text besucht, der von Raymond Carver erzählt. Ich las meinen Text nach längerer Zeit wieder einmal mit älter gewordenen Augen. Und ich dachte mir, dass ich im Grunde nicht sicher sein könne, ob ein menschliches Wesen meinen Text in der Weite des World Wide Web entdeckte, oder ob eine Maschine mein Particles besuchte, die einer Spur von Schlüsselwörtern folgte. Der Text, der am 12. Dezember 2014 notiert wurde, geht so: Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von sehr kleinen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
nikolai wassiljewitsch
marimba : 0.12 UTC — Eigentlich sollte ich niemals das Ende eines Traumes erzählen, Traumenden befinden sich nicht selten bereits mit einem Bein im neuen Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirklichkeit nennen, ich bin dann schon wach geworden auf einem Bein, habe die Fenster geöffnet, es regnet zum Beispiel, auf der Straße weit unter mir bewegen sich Regenschirme, Menschen sind keine zu erkennen, aber ein paar nasse Tauben, die sich, von der Schwere ihres Gefieders in die Tiefe gezogen, kaum noch in der Luft zu halten vermögen. Eine Exkursion zur Kaffeemaschine hin nütze ich, um mein Mikroskop vom Tisch zu holen. Tatsächlich erkenne ich jetzt eine Herde goldgrüner Frösche, die sich an der Hauswand gegenüber westwärts bewegen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, prasselt auf die Blätter der Bäume, tropft von den Regenrinnen auf blecherne Fenstersimse, was für ein wunderschöner Morgen, schon habe ich den Traum, den ich träumte, beinahe vergessen. Wie gut die Luft heute riecht, das denke ich noch, und erkenne in diesem Augenblick zwei menschliche Nasen, die dicht nebeneinander auf dem Rücken einer Straßenlampe sitzen, sie sind sicher aus einem Buch gehüpft, das ich nicht lesen kann, weil es in russischer Sprache aufgeschrieben wurde, ich erinnere mich, Gogol, nicht wahr, ich sollte bald Gogols Nase lesen, auch sollte ich ein wenig der russischen Sprache lauschen, um bald wieder glücklich einzuschlafen. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights / 2
zoulou : 3.55 — Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von engen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
leuchtfeuer
echo : 8.01 — Die Wiederholung einer Nachtzeit vor wenigen Stunden noch. Regen. Das Geräusch des Wassers, ein Geräusch des Bodens, der Stämme, der Dächer, der Regenrinnen. Vielleicht, weil in ihm Zeit enthalten ist, Tropfen für Tropfen zu einer regelmäßigen Bewegung, höre ich dieses Geräusch als ein beruhigendes Geräusch. Oder auch deshalb, weil ich das Wesen der Kiemenmenschen in mir trage, weil ich von Menschenwohnungen erzähle, die unter Wasser stehen. An diesem kühlen Morgen ist etwas Wesentliches festzuhalten, ein angenehmes Wort, das Wort Leuchtfeuer. Und dass ich von Kranichen träumte, ja träumte, selbst ein Kranich unter Kranichen zu sein. Wir flogen eine Küste entlang. Ich erinnere mich, dass ich durstig gewesen war, weil viel Sonne vom Himmel brannte. Die Kraniche bemerkten bald, dass mich die Hitze quälte. Sie suchten nach meinem Schnabel, um mich mit Wasser zu füttern. Aber ich hatte keinen Schnabel, sondern einen menschlichen Mund, weshalb sie bald aufgaben, mich füttern zu wollen. Stattdessen näherte sich einer nach dem anderen, um nachzusehen, welch seltsamer Vogel mit ihnen nach Norden flog. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights
echo : 22.12 — Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop