ulysses : 5.16 — Das bewusste Denken scheint ohne Ausnahme ein Denken mit Stimme zu sein. Ich höre meine ureigene Gedankenstimme, als würde ich über Ohren gebieten, die nach innen gerichtet sind. Sobald ich nun einen Gedanken mittels der Stimme Paul Newman’s oder Jeanne Moreau’s in meinem Kopf zur Sprache bringe, habe ich einen bereits vorliegenden Gedanken erinnert, übersetzt, erzählt. Erstaunlich der Eindruck, dass sich mein Mund öffnet, sobald sich meine Hände einer Tastatur nähern. — Leichter Schneefall. stop. Von oben. — stop
Aus der Wörtersammlung: schnee
im schneehaus
whiskey : 0.12 — Man sollte, sagen wir, sobald man auf Reisen geht, Basskäfer in Streichholzschachteln liegend in der Jackentasche mit sich führen. Sie werden vielleicht musizieren, während man in einem Zug oder einem Flugzeug sitzt, so leise spielen, dass man nichts zu hören vermag, nur ein leises Beben spüren, das sich als Welle ausbreitet, wärmend der Gedanke an die Käfer, wie sie in ihren Koffern übend lungern. — Kurz nach Mitternacht. Heut ist Montag, seltsamster Tag unter den Tagen. Ich bin westwärts gewandert im Lesesaal der Bücher von Eis. — 52° Celsius, da knistert die Luft. Studierende Menschen sitzen vor gefrorenen Tischen auf gefrorenen Stühlen, Lokomotiven gleich stoßen sie Dampf aus Mund und Nase, nehmen Fahrt auf in der Lektüre aufregender Textpassagen, ihr Feueratem, feinster Schnee, der über den Büchern niedergeht. — stop
vögel
charlie : 2.08 — Plötzlich war er da, wie aus dem Nichts, der Junge heut Nacht woher zurückgekommen. Kniete auf einem Stuhl vor dem Bett, auf dem seine Mutter ruhte. Ein Arzt hatte zu ihm gesprochen, erklärt, weshalb die Mutter so lange Zeiten schlafen müsse, diesen merkwürdigen Schlaf, Monate, Monate, Monate. Und dass die Mutter nicht antworten, aber hören könne, wenn man zu ihr sprechen würde. Also erzählte der Junge seiner Mutter von der Schule, vom Schnee, vom Ballspiel, von dampfenden Lokomotiven seiner Modelleisenbahn. Manchmal flüsterte er, beugte sich hin zum schlafenden Ohr, erzählte von geheimen Dingen. Und von den Vögeln berichtete der kleine Mann, von Vögeln, die sehr nah gleich hinter dem Fenster an der Brüstung des Balkons ihre Schnäbel wetzten. Vögel waren das, besondere Vögel, sie halfen, weiterzuerzählen, wenn ihm nichts einfallen wollte. Einmal hörte ich, wie er einen Vogel erfand, ein Wesen, das allein durch Wörter für Sekunden existierte, einen Vogel der Poesie. Seine glockenhelle, aufgeregte Stimme, sein erhitztes Gesicht, seine müden Augen, seine Hände, die die Luft beschrieben. — stop
schlafbild
bamako : 22.15 — Inwiefern würde sich die Welt der Bilder verwandeln, wenn wir über die Möglichkeit verfügten, unsere Schlafträume zu fotografieren? Ich meine so zum Beispiel, während eines nächtlichen Spazierganges über einer Hochebene flammender Ahornbäume die Anweisung zu geben: stop.aufnahme.jetzt. Schon am nächsten Morgen dann auf dem Küchentisch neben Kaffeetasse, Melonenscheibe, Morgenzeitung, jener Stoß im Traum gebannter Momente, glühende Baldachine, sagen wir, über schneeweißen Wolken, Elefanten der Tiefsee, federleicht im Spiel vor Neufundland, Louisiana’s schillernde Küste. Wie man sich neuerdings zur Ruhe legt, lange vor der üblichen Zeit, im Sammelfieber blitzende Augen. Wo und womit wäre nun in der Verwirklichung der Idee des Traumbildapparates anzufangen? — stop
nachtende
sierra : 15.08 — Oder der Vordämmerungsschein der Schneekirschbäume, indem sie ihre Papiere entfalten. — stop
schneekamille
nordpol : 0.02 — Deine schneeweiße Hand, die an einem Sommernachmittag auf meinem Unterarm liegt. Wir wandern durch einen Wald. Klein bist Du geworden und leicht, und ich gehe, Du führst mich, mit geschlossenen Augen neben Dir her. Und plötzlich bist Du nicht mehr da. Ich sehe Dich, unsicher Deine Schritte über das Moos. Und wie Du kniest vor den lichten Blumen unserer Wiese. Deine weinende Stimme. Dein Klagen ohne Worte. Dein Schreien gegen den Himmel. Dein Beben in meinen Armen. Und wie Du flüsterst: Ich will nicht sterben. - Dann ist Nacht wie an vielen Tagen Nacht geworden. Ich stehe im halben Dunkel Deines Zimmers, so still, so still, und lausche nach Deinem Atem, sitze und lese und schau Dich an. Deine lächelnden Augen im Schlaf, der süße Himbeerduft des Morphiums, das Schnurren der Sauerstoffmaschine, Dein Seufzen, und wie Du wach geworden bist, Dein Blick für mich, wie Du mit Deinen tiefen Augen vom Wunder des Lebens erzählst. Nie wieder, erinnerst Du Dich, haben wir vom Tod gesprochen.
für marikki im himmel
bermuda
alpha : 0.03 — Ob es wohl möglich ist, ein Blatt Papier, das aus Millionen sehr kleiner Lebewesen bestehen wird, mit einer Schere, sagen wir, in zwei Teile zu zerlegen? Was sollte geschehen? Würden meine papierenen Tiere Geräusche erzeugen, die Widerspruch signalisieren, Empörung, Furcht? Oder würden sie weichen, sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, eine blitzschnell sich vollziehende Bewegung der Entropie? – Sonntag. stop. Warme, geschmeidige Stunden. stop. Hell vom Schnee, die Luft.
hydra No 2
lima : 22.55 — Es schneit angeblich, mag es schneien. Über dem Schnee und seinen Wolken scheint der Mond. — Was haben wir heute eigentlich für einen Tag, Sonntag vielleicht oder Montag? Abend jedenfalls, einen schwierigen Abend. Würde ich aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, während er Tee zubereitet, er sagt: Heute machen wir das, heut ist es richtig. Ein Bündel von Melisse zieht durchs samtig heiße, flimmernde Wasser. Jetzt trägt er seine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer, schaltet den Bildschirm an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor dem Schreibtisch und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe. Dann steht er, steht zwei Meter vom Bildschirm entfernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Da ist eine Stimme. Eine schrille Stimme spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Töne, sodass der Mann vor dem Schreibtisch einen Schritt zurücktritt. Er scheint sich zur Betrachtung zu zwingen. Zwei Finger der rechten Hand bilden einen Ring. Er hält ihn vor sein linkes Auge, das andere Auge geschlossen, und sieht hindurch. So verharrt er, leicht vorgebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atmen heftig zu hören. Kurz darauf steht er wieder in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. – Was machen wir jetzt? — stop
transkriptionen
alpha : 0.05 — Ein Datenspeicher, in dem alle je von Menschenhand geschriebenen Zeichensätze versammelt sein werden. Meine Schreibmaschine, ein Albtraum, könnte mit diesem frei schwebenden Gedächtnis in Verbindung stehen. Und während ich nun notiere, würde unverzüglich angezeigt, ob der gerade gedachte Satz bereits aufgeschrieben wurde oder nicht. — Schneeflocken, Früchte, leiseleicht, die aus Nachtbäumen fallen. — stop
auf dem viktualienmarkt
olimambo : 2.10 — Ein Eichhörnchen am Nachmittag, wie es durch den warmen Schnee springt. Immer wieder hält das Tierchen an, dreht sich nach mir um, betrachtet mich, als ob es meine Gedanken ahnen würde. Einmal sage ich leise zu ihm hin: Fürchte Dich nicht! Ich jage nur mit dem Kopf. – Das war auf dem Münchener Viktualienmarkt gewesen vor wenigen Stunden. Die Tage nun länger, bald wird Frühling und Menschen und das Bier und der Kaffee werden in Strömen fließen. Wieder, wie so oft schon, wenn ich von Bude zu Bude laufe und meine Nase in den Gewürzwind stecke, schau ich nach dem Achternbusch, Herbert. Würd’ gern einmal ein paar Worte mit ihm wechseln. Gestern war von ihm nichts zu sehen gewesen, weshalb ich ganz einfach an ihn gedacht habe, an eine Filmsequenz, deren Besichtigung mich um ein Haar das Leben gekostet hätte. Herbert Achternbusch in einem Tierhaus des zoologischen Gartens Hellabrunn. Er steht unter einem Faultier, das unbeweglich, und zwar sehr lange Zeit, an einem Ast hängt. Der Dichter bewundert die Klauen des Tieres und auch die Natur, was sie so macht. Kurz zwinkert das Faultier mit den Augen. Und Achternbusch ruft: Ja, da schau her, du bist ja ein Scheinschlaftier! – Guten Morgen, gute Nacht! — stop