charlie : 18.32 UTC — Helena, die sechs Jahre alt geworden war, fragte mich am Telefon, inwiefern sich ein Regenschirm von einem Schneeschirm unterscheide. Das ist eine aufregende Geschichte, dachte ich, ich habe von der Existenz der Schneeschirme noch nie zuvor gehört. Das ist nämlich so, sagte Helena, wenn es Regenschirme gibt, muss es auch Schneeschirme geben, wie Sonnenschirme und Windschirme. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte ich Helenas Frage. Du willst wissen, inwiefern sich Regenschirme von Schneeschirmen unterscheiden? Habe ich Dich richtig verstanden? Ja, antwortete Helena, was heißt inwiefern? Plötzlich war sie nicht mehr am Telefon. Ich hörte ihre Schritte, wie sie durch die ferne Wohnung lief, sie schien nach etwas zu suchen. Bald hörte ich ihre Stimme, sie erzählte eine Geschichte von einem Frosch, den sie im Garten entdeckt hatte, ihre Mutter lachte. Nach einer Weile hörte ich Helenas Schritte wieder näherkommen, dann ihre Stimme. Ich habe Dich fast vergessen, dass Du am Telefon bist, sagte Helena, das ist phänomenal. Sie lachte. Das ist ja wirklich phänomenal. Was bedeutet: phänomenal? — Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sei ein Automobil explodiert. An Bord habe ein hoher russischer Beamter der Stadt Mariupol vor einer Ampel gewartet. — stop
Aus der Wörtersammlung: sonne
unsichtbare Koffer
himalaya : 0.03 UTC — Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte gewesen. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zur Zeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Eine Fotografie, ich erinnere mich, zeigt mich neben meinem sterbenden Vater. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervorgespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich wie Hände sich falten. Mutter irrte etwas später dann zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — Das Radio erzählt, Menschen würden, ehe sie nach Wochen des Beschusses Keller verliessen, gebetet haben. Im Keller lagen ihre Toten. — stop
frau mit löffel
india : 5.28 — Einmal machte ich einen Ausflug zu einer Tante, die seit über zehn Jahren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außerdem nicht mehr denken kann. Der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit anderen alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. Sie schliefen einerseits, andere betrachteten mich interessiert, so wie man Vögel betrachtet oder Blumen. Es ist schon seltsam, dass ich immer dann, wenn ich glaube, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit beginne, eine Geschichte zu erzählen in der Hoffnung, die Geschichte würde jenseits der Stille vielleicht doch noch Gehör finden. Ich erzählte meiner Tante von einer Wanderung, die ich unlängst in den Bergen unternommen hatte, und dass ich auf einer Bank in eintausend Meter Höhe ein Telefonbuch der Stadt Chicago gefunden habe, das noch lesbar gewesen war und wie ich den Eindruck hatte, dass ich aus den Wäldern heraus beobachtet würde. Ich erzählte von Leberblümchen und vom glasklaren Wasser der Bäche und vom Schnee, der in der Sonne knisterte. Dohlen waren in der Luft, wundervolle Wolkenmalerei am Himmel, Salamander schaukelten über den schmalen Fußweg, der aufwärts führte. So erzählte ich, und während ich erzählte eine halbe Stunde lang, schien meine Tante zu schlafen oder zuzuhören, wie immer, wenn ich sie besuche. Ihr Mund stand etwas offen und ich konnte sehen, wie ihr Bauch sich hob und senkte unter ihrer Bluse. Am Tisch gleich gegenüber wartete eine andere alte Frau, sie trug weißes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreibmaschinenpapier. Vor ihr stand ein Teller mit Erbsen. Die alte Frau hielt einen Löffel in der Hand. Dieser Löffel schwebte während der langen Zeit, die ich erzählte, etwa einen Zentimeter hoch in der Luft über ihrem Teller. In dieser Haltung schlief die alte Frau oder lauschte. — Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariupol zahlreiche Menschen hohen Alters leblos in ihren Wohnungen entdeckt. Sie bewohnten insbesondere höhere Etagen. Die Aufzüge waren defekt. — stop
vom sprechen
tango : 16.55 UTC — Ich spreche zu schnell, dachte August, ich spreche zu schnell, zu häufig und zu lang. Ich werde fortan langsamer sprechen und seltener und leise. Er hatte sich, noch ein Kind, vorgenommen, langsamer und deutlicher zu sprechen, weil seine Freunde und seine Eltern und seine Lehrer immer wieder einmal bemerkt hatten, dass er viel zu viel sprechen würde. Du sprichst, lieber August, zu lang und zu schnell. Wenn er sich erinnerte, entdeckte er zahlreiche Wochen, Monate, Tage seines kurzen Lebens, da er versuchte, stiller zu werden. Er war durchaus erfolgreich gewesen, aber immer nur so lange er sich selbst zuhörte und sich in Gedanken sagte, langsam sprechen, August, langsam sprechen, jetzt hörst du auf zu sprechen. Du sagst einmal zehn Minuten lang nichts. August sah auf seine Uhr. Mutter fragte ihn, wie es in der Schule gewesen war, aber August sagte nichts, sah auf die Uhr und wartete. Warst du denn in der Schule, fragte Mutter. Natürlich, war ich in der Schule gewesen, dachte August, ich erinnere mich, soeben bin ich zurückgekehrt. Er sah auf die Uhr und war ganz still und er fühlte sich wohl und dann waren zehn Minuten Zeit der Stille des kleinen August vergangen. Kaum waren zehn Minuten Zeit vergangen, war August schon in den Garten gerannt. Mutter saß im Gras in der Sonne und schälte Kartoffeln. Heute habe ich kaum etwas gesagt in der Schule, erzählte August. Er sprach sehr langsam. Ich war ganz still, sagte August, fast bin ich eingeschlafen. Dann habe ich etwas gesagt, aber ich war wieder viel zu schnell. Da habe ich dann geschwiegen, habe nur die Hälfte erzählt von dem, was ich erzählen wollte. Da bin ich dann eingenickt. Und als ich wach wurde, habe ich diese furchtbare Stimme gehört. — Das Radio erzählt heute von einem jungen Mann, der eine Nachricht aus Mariupol an seine Geliebte sendete. Er schrieb: Ich habe Deine Mutter in der Nähe des Kindergartens begraben. — stop
PHZ 2022
MELDUNG. Ameisengesellschaft PHC — 2022 [ Pharaoameise : Monomorium pharaonis ] Position 46°28’N 30°45’O im Shevchenko Park zu Odessa / Folgende Objekte wurden bei winterlichen Temperaturen am 12. März von 9.00 — 10.02 Uhr MEZ über das nordwestliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : zwölf trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], achtundachzig Baumstämme [ à 2 Gramm ], elf Raupen in Weiss, sechs Raupen in Rot, vierzehn Insektenflügel [ vermutlich der Gattung Zitronenfalter,], vierhundertzweiundzwanz Streichholzköpfe [ à ca. 1.1 Gramm ], sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 502 Gramm des vergangenenen Jahres ], einhundertunddrei Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], vierzehn gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], siebenhundertsiebenundachtzig Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], secszehn hellgraue Diebkäfer [ schlafend ], fünfundfünfzig Aaskugeln eines afrikanischen Pillendrehers, einhunderachtundachzig Wildbienen, zweiundzwanzig Galläpfel, vierundvierzig Projektile 45 mm je 3.5 Gramm. — stop
ms molinari
whiskey : 15.47 UTC — In der Nacht zum 10. Dezember 2015 war etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Ich beobachtete auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine die pendelnde Bewegung zweier Fährschiffe der Staten Island Flotte auf der Upper New York Bay. Es handelte sich einerseits um die Fähre MS Molinari, andererseits um die Fähre MS Andrew J. Barberi. Stundenlange planmäßige Reisen der Schiffe von Stadtteil zu Stadtteil. Plötzlich, es war gegen 4 Uhr europäischer Zeit gewesen, 10 Uhr abends in New York, nahm die Fähre MS Molinari Kurs auf das offene Meer hinaus, ein so von mir noch nie zuvor beobachteter Vorgang. Nach einer halben Stunde wurde das Schiff langsamer, wartete einige Minuten, als würde es nachdenken, um kurz darauf zu wenden und zur St. George Terminalstation zurückzukehren. Wenige Minuten später verließ die Fähre John F. Kennedy, eigentlich eine Tagfähre, das Terminal in Richtung Manhattan Süd. Ich notierte: Das ist tatsächlich sehr seltsam, ich muss wach bleiben, ich muss das Seltsame weiter beobachten. Also blieb ich wach. Ich beobachtete stundenlang, längst war die Sonne aufgegangen, Fährschiffe der Staten Island Flotte auf einer digitalen Karte, ihre Symbole, ihre Namen. Am Nachmittag gegen 15 Uhr schlief ich vor dem Bildschirm ein. Zu diesem Zeitpunkt neigte sich in New York die Nacht langsam ihrem Ende zu. — stop
geburtstage
marimba : 0.18 UTC — Vaters und Mutters Geburtstage setzen sich fort. Todestage sind hinzugekommen. Manchmal fällt Schnee, wenn Geburtstage wiederkehren, manchmal scheint sehr warm die Sonne, wenn wir Todestage erinnern. Ich taste mit kleinen inneren Händen nach Gefühlen zu dieser Beobachtung. — stop
der kleine august
ulysses : 16.55 UTC — Ich spreche zu schnell, dachte August, ich spreche zu schnell, zu häufig und zu lang. Ich werde fortan langsamer sprechen und seltener und leise. Er hatte sich, noch ein Kind, vorgenommen, langsamer und deutlicher zu sprechen, weil seine Freunde und seine Eltern und seine Lehrer immer wieder einmal bemerkt hatten, dass er viel zu viel sprechen würde. Du sprichst, lieber August, zu lang und zu schnell. Wenn er sich erinnerte, entdeckte er zahlreiche Wochen, Monate, Tage seines kurzen Lebens, da er versuchte, stiller zu werden. Er war erfolgreich gewesen, aber immer nur so lange er sich selbst zuhörte und sich in Gedanken sagte, langsam sprechen, August, langsam sprechen, jetzt hörst du auf zu sprechen. Du sagst einmal zehn Minuten lang nichts. August sah auf seine Uhr. Mutter fragte ihn, wie es in der Schule gewesen war, aber August sagte nichts, sah auf die Uhr und wartete. Warst du denn in der Schule, fragte Mutter. Natürlich, war ich in der Schule gewesen, dachte August, ich erinnere mich, soeben bin ich zurückgekehrt. Er sah auf die Uhr und war ganz still und er fühlte sich wohl und dann waren zehn Minuten Zeit der Stille des kleinen August vergangen. Kaum waren zehn Minuten Zeit vergangen, war August schon in den Garten gerannt. Mutter saß im Gras in der Sonne und schälte Kartoffeln. Heute habe ich kaum etwas gesagt in der Schule, erzählte August. Er sprach sehr langsam. Ich war ganz still, sagte August, fast bin ich eingeschlafen. Dann habe ich etwas gesagt, aber ich war wieder viel zu schnell. Da habe ich dann geschwiegen, habe nur die Hälfte erzählt von dem, was ich erzählen wollte. Da bin ich dann eingenickt. Und als ich wach wurde, habe ich diese furchtbare Stimme gehört. — stop
ameisengesellschaft LN — 1722
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 1821 [ Honigtopfameise : Camponotus inflatus ] Position 36°40’S 144°16’O nahe Bendigo [ Australia ] / Folgende Objekte wurden bei hochsommerlichen Temperaturen am 31. Dezember des vergangenen Jahres von 9.00 — 10.02 Uhr AEST über das nordwestliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : einundfünfzig trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], elf Baumstämme [ à 5 Gramm ], zweiundzwanzig Raupen in Grün, sechs Raupen in Orange, achtundachtzig Insektenflügel [ vermutlich der Gattung Odysseusfalter,], sechs Streichholzköpfe [ à ca. 1.8 Gramm ], sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 122 Gramm aus dem vergangenem Jahr ], einhundertundzwei Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], zwölf gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], siebenundachtzig Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], zwei hellgraue Diebkäfer [ schlafend ], drei Aaskugeln eines afrikanischen Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, einhunderachtundachzig Wildbienen, fünfundfünfzig Galläpfel, zwei Injektionsnadeln je 3.005 Gramm. — stop
eine fotografie und ihre geschichten
tango : 15.08 UTC — Vater sitzt auf einer Bank nahe der Brooklyn Bridge. Es ist später Nachmittag. Vater lacht. Die Sonne steht tief, warmes Licht fällt auf hölzerne Blanken. Über den Schatten, den Mutter wirft, stolziert eine Möwe. Mutter fotografiert ihren Mann mit seinem persönlichen Fotoapparat, weshalb er plötzlich auf einer Dia-Fotografie zu sehen ist, unerwartet. Vater, im karierten Sakko, scheint überrascht zu sein, als habe er nicht bemerkt, dass Mutter seinen Fotoapparat entwendete. Es ist ein Augenblick, von dem beide immer wieder erzählten. Gleich wird Vater aufstehen und sie werden von Brooklyn aus über die Brücke nach Manhattan spazieren. Als ich Jahre später selbst auf Reisen den Ort dieser Fotografie entdeckte, machte ich eine Aufnahme. Ich ging dann gleichwohl über die Brücke nach Manhattan zurück. Es war ein schöner Abend, wie damals zur Elternzeit. Es war Mai, ich war zufrieden, weil ich jene Straßenkreuzung entdeckt hatte, die Auggie Wren in dem Film Smoke Tag für Tag um acht Uhr in der früh fotografierte. Wochen später erzählte ich meinem Vater von diesem Nachmittag und wir setzen uns vor seinen Computer. Es war wie im Kino. — stop