nordpol : 20.01 UTC — Lese in Louis Kekkolas Eisbuch Jennifer.Five. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends, Vögel pfeifen. In diesem Moment trage ich Handschuhe. Ich habe mein Tonbandgerät angeschaltet und spreche leise, indem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen halte. Kaum habe ich eine Seite abgetastet, schließe ich den Kühlschrank, gehe in der Wohnung spazieren und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Dann kehre ich zurück und lese mit dampfendem Atem weiter. Höre in diesen Minuten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekunden Zeit erteilt, um das Buch ungestüm warmer Heizluft auszusetzen. Auf Seite 52 entdecke ich Louis Kekkola’s Notiz über 22 Pinguine, die nordwärts reisten in Flugzeugen in hölzernen Behältern, um auf Grönland weiterzuleben. Sie sollen dort das Nordlicht (Aurora borealis) studieren. — stop
Aus der Wörtersammlung: ton
nuris drache
echo : 18.02 UTC — Nuri erzählt, er habe unlängst einen Drachen gebaut, so wie ihn bereits sein Vater baute, Knochenstreben vom Holz der Blauglockenbäume, Flughäute aus Transparentpapieren in dunkelblauer und dunkelroter Farbe. Ein sehr langer Schweif war da außerdem noch, an dessen Ende wiederum eine Box befestigt worden war, leicht, ein Tonabspielgerät von der Größe einer Walnuss. Dort drin spielt eine Computermaschine Benny Goodman nicht sehr laut, aber doch weithin hörbar. So geht man dann in den Park, wenn man einen Drachen baute, wie Nuri ihn erzählte. Und wie der Drache singend an Höhe gewinnt, nun, die Vögel. — stop
nachtfeuer
ginkgo : 2.33 UTC — Ich wählte meine eigene Telefonnummer, ich wollte mich in dieser Weise erkundigen, ob meine Wohnung noch existierte. Ich dachte, wenn meine Wohnung vielleicht unter Wasser stünde oder in Brand geraten sei, da wäre auch mein Telefon selbst schwer betroffen, demzufolge müsste, wenn mein Telefon sich mit einem langsamen Freizeichen melden würde, eine Aussage möglich sein wie diese in etwa: Weder Wasser noch Feuer! Ich lauschte ein oder zwei Minuten jenem beruhigenden Tonzeichen, plötzlich aber meldete sich eine Stimme: Ja bitte? Das war nun meine eigene Stimme gewesen, die sich meldete und behauptete, gerade erst aufgewacht zu sein. Es ist noch Nacht, sagte meine Stimme, und ich sagte noch, Du hörst Dich an, als wäre ich es selbst, der sich meldete. Kann ich nur bestätigen, antwortete die Stimme, die meine Stimme zu sein schien, das machst Du gut! Ist alles in Ordnung, fragte ich? Ich habe überlegt, ob vielleicht ein Brand ausgebrochen sein könnte wegen Vergesslichkeit, oder Wasser bis an die Decke wegen Vergesslichkeit. Einige Minuten lang sprachen wir noch über das Wetter, es regnete da und dort, und darüber, dass wir vielleicht nicht ganz wach gewesen waren, als wir telefonierten. — stop
amplitude
sierra : 8.12 — Vergangene Nacht, eine Wiederholung, habe ich sieben Stunden Schlaf aufgezeichnet. Kaum richtig wach, lade ich die Datei in mein Tonbearbeitungsprogramm. Was ist zu hören, was hat sich ereignet? Gegen 1 Uhr kommt meine Nachbarin nach Hause, sie schlägt die Tür zu, heftige Amplitude. Gegen 2 Uhr der Abdruck einer Polizeisirene, zweifach, in einem Abstand von Minuten. Immer wieder das Rascheln der Bettdecke. Drei Male scheine ich spaziert zu sein. Gegen 5 Uhr erzähle ich eine Geschichte. Ich höre meine Stimme. Ich erzähle vom Fliegen und weiteres, unverständlich. — stop
washington
geräusch
echo : 18.07 UTC — Von Zeit zu Zeit denke ich mir ein Geräusch aus und dann denke ich das Geräusch so lange, bis ich mich an das Geräusch erinnern kann. Gestern war das gedachte Geräusch, das Trompeten eines Trompetenkäfers. Ein ganz wundervoller Ton. — stop
regen
zoulou : 18.07 UTC — Ein Freund erzählte von einer Rede, die er an einem späten Sommerabend auf einem Anrufbeantworter vorfand, als er nach Hause gekommen war. Diese kleine liebevolle Rede war von seiner sterbenskranken Frau kurz vor ihrem Tod im Hospital für ihren geliebten Mann gesprochen worden, während er gerade auf dem Fahrrad von ihr zurück nach Hause fuhr. Es hatte geregnet. Er saß in der Küche im letzten Licht des Tages. Er erzählte, er habe lange Zeit geweint, sich die Rede immer wieder angehört, dann beschlossen, die Stimme seiner geliebten Frau mittels eines Tonbandes aufzunehmen. Irgendetwas muss kurz darauf geschehen sein, wovon er nicht berichten wollte. — stop
von pfirsichen
echo : 10.26 UTC — Wie die Briefe langsam sterben, ihre Umschläge, Papiere, Postwertzeichen, welche Flugzeuge und Schmetterlinge zeigen, die gleichfalls seltener werden. Wenn die Briefe langsam sterben, dann auch jene, die Briefe schreiben für andere Menschen, die nicht lesen können. Ich stellte mir einen älteren Herrn vor, der in einem Büro von Holz in London sitzt, letzter seiner Zunft, dutzende Kollegen haben schon vor Jahren ihre Arbeit eingestellt, haben ihre hölzernen Schreibabteile und ihre Schreibmaschinen verlassen, da werden jetzt Lampen verkauft oder Schmuck oder Telefone oder Kartons mit Reis und gebratenen Hühnern. Wie ist solch eine Vorstellung möglich, werden Sie vielleicht fragen. Nun, es ist so, dass ich mir dachte, dass dieser letzte Briefschreiber der Stadt London den Auftrag erhalten hatte, einen unendlichen Brief zu schreiben, weswegen sie zu zweit sind, ein fein gekleideter älterer Herr, der den Brief diktiert, der Auftraggeber, und eben jener ältere Herr, der die Zeichen des Briefes mittels einer Tastatur auf Papierbögen trägt. Sie sind zu einer kleinen Attraktion geworden. Manchmal schlafen sie oder nehmen etwas vom nachbarschaftlichen Reis zu sich, auch Pfirsiche oder Melonen bei großer Hitze. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 734, Luftfahrt — 38, Automobile — 68 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 2, 19. Jahrhundert – 28, 20. Jahrhundert – 1324, 21. Jahrhundert — 7832 ], Trolleykoffer [ blau : 5, rot : 18, gelb : 22, schwarz : 122 ], Seenotrettungswesten [ 7805 ], physical memories [ bespielt — 1, gelöscht : 77 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 3587 ], 1 hölzernes Fernglas ohne Gläser, Brummkreisel : 2, Öle [ 0.77 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 6, Kniegelenke – 32, Hüftkugeln – 56, Brillen – 65 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 33, Größen 38 — 45 : 21 ], Plastiksandalen [ 5325 ], Reisedokumente [ 388 ], Kühlschränke [ 1 ], Telefone [ 765 ], Gasmasken [ 5 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 8 ], Engelszungen [ 155 ] | stop |
sammlung
echo : 0.22 UTC — Entdeckte an diesem Tag eine Sammlung der Romane, Erzählungen und Journale Paul Nizons in einem Band. Das elektrische Warenhaus, welches dieses Buch verbreitet, – nur noch sieben Exemplare sollen vorrätig sein -, wirbt für den Kauf mit einer Preisersparnis von 82 Prozent, ein schweres Produkt, in dem sich Buchwesen auflösen und die Zeit, in der sie zur Welt gekommen sind. — Einmal, vor zehn Jahren, war ich Paul Nizon wieder begegnet. Ich beobachtete, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trugt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar war grau geworden, und doch war er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. Kurz darauf erinnerte ich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnete in der Straße, in der ich noch immer wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Da war noch etwas Weiteres gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. — stop