himalaya : 17.50 UTC — Gestern klingelte mein Telefon, nein, wirklich, mein Telefon meldete nicht nur einen Anruf, es klingelte tatsächlich, weil ich einen Signalton eingestellt hatte, der einem Klingelton der Telefone meiner Kindheit sehr ähnlich ist. Mein Telefon vermag gleichwohl zu zwitschern oder zu summen oder zu trompeten, wie Elefanten sprechen, aber wenn mein Telefon klingelt in der Weise meiner Kindheit, mag ich das am liebsten, oder wenn es Benny Goodman spielt, aber dann gehe ich nicht dran, dann hebe ich nicht ab, dann höre ich zu und tanze ein wenig in der Wohnung herum bis die Vögel an mein Fenster klopfen: Louis komm, die Arbeit wartet! — Gestern also klingelte mein Telefon. B. mein Patenkind, war in der Leitung, und ich freute mich sehr, weil ich ein halbes Jahr nichts von ihr gehört hatte. Kannst du dich erinnern an unsere Affengeschichte? Oh, ja, sagte B., da habe ich mich gefürchtet, da war ich noch klein. Es ist interessant, fuhr sie fort, ich fürchte mich vor der Geschichte noch immer, obwohl ich schon erwachsen geworden bin. B. erzählte noch ein wenig von Berlin und von New York, und als sie aufgelegt hatte, suchte ich nach einer Notiz der Affengeschichte, die schon so lange Zeit in der Vergangenheit liegt, dass B. bald selbst einmal von Affen erzählen wird. Die Geschichte geht so: Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. – Warum, fragte ich, will der Mann das tun? – Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. – Er ist gelähmt. – Und der Affe? – Der Affe nicht. – Was geschieht mit dem Kopf des Affen? – Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon. — stop
Aus der Wörtersammlung: utc
maryland
lima : 9.15 UTC — Vor wenigen Stunden noch auf dem Sofa sitzend, beobachtete ich Esmeralda wie sie sich mir langsam über den hölzernen Boden meines Arbeitszimmers von der Diele her kommend näherte. Immer wieder einmal hielt die kleine Schnecke kurz an, betrachtete Strukturen des Holzes, Wirbel insbesondere, die sie aus irgendeinem Grund für bemerkenswert erachtete. Eine halbe Stunde später war sie bei mir auf dem Sofa angekommen, fuhr sogleich ihre Fühler in den Kopf zurück, um ein wenig zu schlafen. Gegen 22 Uhr weckte ich Esmeralda. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass ich nicht wusste, wie ich Esmeralda präzise ansprechen sollte: Guten Morgen vielleicht, oder doch: Guten Abend! Welche Uhrzeit haben wir, dachte ich, gerade in Maryland? Ich überlegte einige Minuten lang, indessen Esmeralda mich aufmerksam zu betrachten schien. Dann schlief sie wieder ein. — Heute ist der 1. Mai. Regen. Nichts weiter. — stop
ein mädchen
alpha : 17.15 UTC — Auf dem Heimweg begegnete ich in der Nähe einer Kreuzung einem Mädchen namens Lara, das ich sofort wiedererkannte. Lara stand auf der Straße und zeichnete mittels eines Putzgerätes Herzen von Seife auf die Frontscheiben schnurrender Automobile. Vermutlich versuchte sie in dieser Weise einen Kontakt zu Personen herzustellen, die in den Limousinen warteten, um einen Auftrag zur Säuberung der Fahrzeugscheiben insgesamt zu erhalten. Lara war nicht sehr erfolgreich, aber ebenso entschlossen und charmant, wie vor Jahren noch, als sie versucht hatte, im Bahnhof mein Portemonnaie zu rauben. Eigentlich sollte Lara um diese Uhrzeit in der Schule sein. Plötzlich bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde, sie lächelte zunächst, blickte dann aber äußerst grimmig in meine Richtung, nicht etwa, weil sie in mir unmittelbar eines ihrer früheren Opfer erkannte, sondern vermutlich deshalb, weil sie in meinem Blick etwas entdeckte, das sie an frühere Tätigkeitsfelder erinnerte. Also flüchtete sie mittels eleganter Sprünge über zwei Motorhauben hinweg zur gegenüberliegenden Straßenseite hin. Dort drehte sie sich um und lächelte. — stop
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delta : 0.02 UTC — g e h i r n k a m m e r
kaktusblüte
nordpol : 18.52 UTC — Ein Zufall führte mich in einem Moment zu Herrn K., als er gerade zum ersten Mal sein neues Bürozimmer betrat. Er führte einen Karton mit sich, nicht größer als eine Schuhschachtel. Aus diesem Behältnis hob er eine Notebookschreibmaschine, ein Mäppchen mit Bleistiften, eine farbige Fotografie sowie einen Kaktus, der blühte. Herr K. prüfte die Schubladen des Schreibtisches, der zu dem kleinen Zimmer mit Ausblick auf einen Park gehörte, sie waren leer. Seinen Kaktus stellte er auf die Fensterbank, die Fotografie neben ein Telefon, das sich bereits im Zimmer befunden hatte, ehe Herr K. eingetreten war. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte: Wissen Sie, mehr brauche ich nicht. Das sollten Sie immer bedenken, nur niemals heimisch werden, nur nicht glauben, dass Ihnen dieses Büro gehört. Im Gegenteil, Sie selbst gehören diesem Zimmer wie jeder andere, der nach Ihnen an dieser Stelle arbeiten wird. Wer in und von diesem Zimmer aus operiert, muss sich bewusst sein, dass er jederzeit ebenso plötzlich wie er gekommen ist, auch wieder gehen wird. In dieser Postion, die Sie hier oben bekleiden, haben Sie Erfolg oder sie haben keinen Erfolg. Binden Sie sich also nicht, arbeiten Sie konzentriert und genießen Sie die Aussicht, aber, um Himmels willen, fühlen Sie hier niemals zu Hause! — Diese Geschichte ereignete tatsächlich an einem Freitag im Juli des vergangenen Jahres. — stop
iphepha
ulysses : 17.35 UTC — Ich stelle mir vor, jeder Gedanke jedes einzelnen Menschen dieser Welt würde für eine Minute zu Wörtern auf Papier. Wie viel Papier? — stop
2 engel
sierra : 16.15 UTC — Ein Freund zeigte eine Mappe, die er stets mit sich nimmt, um zur Arbeit zu fahren. Schau, sagte er, bei diesem Fach hier handelt es sich um ein operatives Fach, in welchem sich vier weitere Fächer befinden, dort ruhen Schlüssel, Portemonnaie, Codekarten, Handytelefon. Das zweite größere Fach linker Hand birgt Abteile für meine Reisebücher für die Straßenbahn, 1 Kühlfach für Schokolade, 1 Fach, in welchem 2 fingerlange Engel hausen, das öffnen wir lieber nicht, und in diesem Fach hier nun befinden sich weitere sehr wesentliche Dinge, Blütensamen beispielsweise, 1 Streichholzschachtel, 1 Kompass und 1 Wanderkarte, 1 Kaffeethermoskanne, 1 Fotoapparat, 28 Beutel Trinkwasser des Jahres 1988, 16 Portionen Fertignahrung, 3 Kilogramm Trockenbrot, 36 Tabletten gegen Seekrankheit, 1 schwimmfähiges Messer, 5 Signalfackeln in Rot, 2 Signalfackeln in Gelb, 1 Signalflöte, 1 Schöpfgefäß, 1 Rettungswesten, 1 Wurfring mit Leine, 1 wasserdichte Taschenlampe, 14 Batterien, 1 Gasfeuerzeug, 5 Fettstifte, 1 Überlebenshandbuch in finnischer Sprache, 1 Funkschreibmaschine mit Handkurbel. — Seltsame Geschichte. — stop
nachtfaltung
sierra : 20.22 UTC – Etwas Merkwürdiges hat sich ereignet. Ich will das schnell erzählen. Es ist nämlich so, dass ich einer Figur, die in einem Textgeschehen existiert, vor Monaten einmal, ich glaube im November bereits, einen Namen gegeben habe, welcher dunkel leuchtet, ein mächtiger, unheimlicher Name. Es handelt sich um die Zeichenfolge Mandrill. Immer wieder einmal erzählte ich in der langsamen Entwicklung des Textes von einem Mann dieses Namens. Als Mandrill gestern unvermittelt in einer Weise handelte, die ich nicht erwartet hatte, zart und einfühlsam, schmerzte der Name, als hätte ich meiner Figur Unrecht getan. Heute Morgen war die wilde Verwerfung, die ich gestern noch spürte, wieder schön gefaltet. Ich trat ans Fenster im ersten Licht der Sonne, der Himmel war voll Wasserdampfspuren, welche Nachtfernflüge an den Himmel zeichneten. Kein Mensch auf der Straße, aber zwei Eichhörnchen, die auf einem Briefkasten saßen. Das habe ich noch nie so gesehen, gestern noch hätte ich behauptet, Eichhörnchen würden niemals auf Briefkästen sitzen. Deniz Yücel weiterhin in Haft. — stop
landau
ulysses : 16.05 UTC – Wenn ich Menschen, junge oder ältere Menschen frage, ob sie den Moment erinnern, da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Schuhe gebunden haben, sind sie erstaunt, nicht nur deshalb, weil ich mich nach einem weit zurückliegenden Ereignis erkundigte, sondern auch, weil sie nicht selten sofort in der Lage waren, eine Geschichte vom Schuhbinden zu erzählen. Menschen, welche sie lehrten, ihre Schuhe zu binden, auch die Farbe der Schuhe oder Orte, eine Treppe, die Küche oder ein Garten kehrten ins Bewusstsein zurück. Wer sich die Schuhe selbst zu binden vermag, kann das Haus verlassen, kann eine komplexe Figur mit Händen gestalten, überall auf der Welt scheint die Methode der Schleife zu existieren, ja, Schleifen sind komplexe Strukturen, die einerseits sich selbst erhalten mittels Umarmung, andererseits sich auf einen Zugwunsch hin sofort aus ihrer Bindung lösen. Ich selbst habe mich in Landau unter einem Apfelbaum auf einem Bänkchen von Holz sitzend in der Schuhbindung geübt, meine Damalsschuhe waren blau und rot, die Gänseblümchen weiß, der Löwenzahn gelb, die Luft roch nach Stall und meine Tante duftete nach Moos und 4711. Gidhsti, die in Eritrea groß geworden ist, sagte: Was für eine seltsame Frage! Wir hatten nichts zu binden, wir sind barfuß gewesen oder trugen Sandalen. Ich war ungefähr 20 Jahre alt, als ich lernte, meine Schuhe zu binden. Darauf muss man erst einmal kommen, an einem Sonntagnachmittag. — stop
von rechenkernen
lima : 18.12 UTC — Apfelkern. Mandelkern. Rechenkern. — Ich stellte mir vor, wie ich mit feinsten Werkzeugen einen Kirschkern öffne, wie ich in der Kirschkernhöhle ein gefaltetes Blatt Papier ablege, auf dem mit kleinsten Schriftzeichen ein Gedicht verzeichnet wurde. Wie ich nun den Kern verschließe, wie ich ihn zurücklege in seine Frucht, wie ich jetzt zufrieden und glücklich bin. — Oder die Vorstellung der Rechenkerne eines Prozessors. Wie ein oder zwei Romanentwürfe möglicherweise heimlich in ihren Registerwerken versteckt sein könnten, kuriose Idee. Das habe ich mir ausgedacht, weil ich gestern Abend hörte, dass Rechenkerne für mathematisch-logische Spracheindrücke zu jeder Zeit empfänglich sind. Darüber sollte unbedingt weiter nachgedacht werden. — stop