ginkgo : 20.18 UTC — Man könnte sich vor eine Schreibmaschine setzen, mit etwas Schokolade zur Seite und Wasser und Kaffee für ein oder zwei Tage Zeit, auch eine Ente könnte gegenwärtig sein, die bereits gebraten ist, und Brot und Reis. Weil die ausgedachte Schreibmaschine ohne jedes Papier notieren kann, muss man sich über Papiere keine Gedanken machen. Man beginnt zu schreiben. Man schreibt vielleicht zunächst nur ein Wort: Regen. Man schreibt das Wort Regen, weil in diesem Augenblick, da man zu schreiben beginnt, Regen vor den Fenstern vom Himmel fällt. Mit Regen könnte man beginnen, mit dem Wort Regen. Man schreibt also das Wort Regen, das unverzüglich auf dem Bildschirm erscheint. Es regnet. Ich höre, dass es regnet, das Geräusch des Regens, das mir vertraut ist, ein Geräusch, das ich als Kind bereits hörte, wie in diesem Augenblick. Kann mich nicht erinnern, wann es anfing zu regnen, vielleicht während ich noch überlegte, was ich notieren sollte, ein gütiger Regen, ein Regen, mit dem ich beginnen konnte. Wann lernte ich, was Regen ist? Wann hörte ich zum ersten Mal von dem Wort, das Regen bezeichnet? Was kann ich sagen über das Wort Regen. Wie lange Zeit müsste ich notieren in diesem meinem fortgeschrittenen Alter, um all das aufschreiben zu können, was ich weiß vom Regen? Wie viel Gramm? — Was weiß ich noch? — stop
Aus der Wörtersammlung: wasser
wildnis
india : 8.15 UTC — Einmal, und in der vergangenen Nacht wieder, im Traum eine Notladung nach einem Flug dicht über das Wasser hin über den Atlantik in einer Wildnis vor New York. Wir werden evakuiert, ich vergesse im brennenden Flugzeug Koffer und Papiere. Bin plötzlich ein Niemand, einer, der in einem Bett liegt, in einem Zimmer, in welchem sich Menschen vor Bildern bewegen, die sie betrachten und besprechen. Auch ich bin ein Bild, werde diskutiert, darf mich nicht bewegen, kann Sprechsprachen nicht verstehen. — stop
regenschirmtiere vol.3
ulysses : 0.12 UTC — Ein Journalist, der für das Radio arbeitet, erzählte unlängst am Telefon, er habe einmal an einer Reportage gearbeitet, die von der Entdeckung der Regenschirmtiere berichtete. Ungefähr in der Mitte seines Beitrages habe er einen Fehler entdeckt. Er saß vor dem Radiogerät und hörte der Stimme einer Sprecherin zu, die seinen Text sehr deutlich las, es war also zu spät, der Journalist konnte an seinem Fehler nichts ändern. Das versendet sich, wurde er von einer Redakteurin getröstet. Und ich dachte, das ist ein schönes Wort für verlorene Worte oder Gedanken, das ist wie mit Träumen, die sich von der Erinnerung lösen wie Regenwasser, das sich nicht wirklich festhalten, nicht wirklich begreifen lässt mit Händen, dieses helle Wasser, das die Luft erhellte in einem Traum, den ich gerade noch erzählen konnte auf einem Blatt Papier, ehe der Traum sich verflüchtigte, in dem ich mich wunderte, dass ich, beide Hände frei, durch die Stadt gehen konnte, obwohl ich doch allein unter einem Regenschirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und staunte, weil ich nie zuvor eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, Haut von der Art der Flughaut eines Abendseglers. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnet noch immer. Ich werde gleich telefonieren. — stop
schildkrötengeschichte
india : 15.03 UTC — Vor wenigen Stunden war ich im Stadtwald spazieren. Ich ging um einen Teich herum, in dem Schildkröten unter der Wasseroberfläche gegeneinander kämpften. Plötzlich hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand möchte Dich wecken. Und ich dachte, Du kennst diese Geschichte, das hast Du schon einmal geträumt. Du musst zunächst versuchen, wach zu werden, dachte ich. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich wanderte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich bemerkte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop
polarkäfer
sierra : 0.28 — Ein Polarkäfer, stellen Sie sich vor, das ist ein sehr kühler Käfer. Derart kühl oder kalt ist sein Körper, dass die Luft um ihn herum knistert, dass Wasser augenblicklich zu frieren beginnt, dass Schnee fällt in Räumen, da die Luft feucht ist, Vögel fallen zu Boden, wenn sie einem Polarkäfer zu nahe kommen, Mäuse und andere kleine Tiere erstarren. Polarkäfer lieben deshalb warme Gegenden der Welt, weil dort köstliche Lebewesen durch Kälte zu fangen sind, Würmer auch und Asseln und Ameisen, die ganz besonders wunderbar schmecken. Man kann das Knirschen ihrer Kieferwerkzeuge in der Stille gut vernehmen. Eher selten sind sie und weiß wie Schnee und im Inneren von der bläulichen Farbe des Gletschereises. Was ganz und gar unbekannt ist, das ist der Grund, warum sie so kalt sind, ihre Methode. — stop
lichtbild
alpha : 20.22 UTC — Einmal, vor zwei Jahren, notierte ich eine Geschichte, von der ich damals dachte, sie würde für reine Erfindung gehalten, weil kaum vorstellbar gewesen war, was ich in wenigen Sätze erzählte. Ich hatte mein Fernsehgerät beobachtet, dort waren auf dem Bildschirm Menschen zu erkennen gewesen, die auf Wagondächern eines Güterzuges von Mittelamerika aus durch Mexiko nach Nordamerika reisten. Eine gefährliche Fahrt, junge Männer, aber auch junge Frauen, immer wieder, so erzählt man, wurden sie beraubt oder fielen auf die Geleise und wurden vom Zug überrollt oder von Blitzen heftiger Gewitter getroffen. Lang waren die Überlebenden bereits unterwegs gewesen, hatten nach einiger Zeit kaum noch zu essen oder zu trinken. Hunger und Durst würden sie ganz sicher gezwungen haben, vom Zug zu springen, wenn da nicht weitere Menschen gewesen wären, arme Menschen, die entlang der Zugstrecke warteten, um den Zugreisenden Wasser und Nahrungsmittel in Tüten zuzuwerfen. Eine Frau, Maria, erzählte, sie und ihre Familie würden immer wieder hierherkommen zu den Zügen mit ihren Broten, dabei hätten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Wenige würden sie gerne teilen, immerzu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unternehmen, um den Flüchtenden zu helfen. Bald verschwand sie aus dem Bild, trat in den dichten Wald zurück, auch der Zug entfernte sich langsam. — Lichtbilder, das ist denkbar, die erinnert werden, verdichten sich, werden zu Bildern, die wie von selbst zurückkehren. Es scheint so wie mit Lügen zu sein, die X Male wiederholt, schrittweise scheinbar zu Wahrheit werden. — stop
eine stimme
sierra : 14.15 UTC — Regen und Sonntag. Ich hatte Mutter angerufen. Sie war unterwegs gewesen, vielleicht im Garten, vielleicht in den Bergen. Nach 10 Sekunden schaltete sich der Anrufbeantworter an. Eine Stimme, die die Stimme Mutters war, meldete vertraut: Hier ist der Anschluss von Paula und Jürgen. Ich sagte sofort meinen kleinen Spruch auf: Hallo, seid Ihr Zuhause? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es regnet. Als mein Vater gestorben war, hatte ich immer wieder einmal gedacht, wie seltsam ist, dass meine Mutter, solange sie nicht bei sich selbst anrufen wird, nicht bemerken würde, dass ihre Begrüßung anrufende Freunde irritieren könnte. Ich überlegte, ob ich Mutter nicht vielleicht bei Gelegenheit darauf aufmerksam machen sollte, dass wir eine weitere Tonbandaufnahme anfertigen könnten. Der Eindruck unverzüglich, ich würde meinen Vater durch diese Handlung distanzieren, einen Geist hinauswerfen aus dem Haus, in dem er weiterlebt, in seinen Spuren, in unseren Erinnerungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Computer. Und da sind seine Gartenschuhe, seine Schallplatten, seine Bücher und im Teich werden bald wieder Rosen blühen, Seerosen, weiß und rosa, die vor langer Zeit einmal von seiner Hand ins Wasser gesetzt worden waren. Ja, so war das gewesen. Heute wieder Regen und Sonntag. Und da sind nun Mutters Sommerschuhe verwaist und ihre Winterstiefelchen neben der Tür zum Garten. In einer Schublade in der Küche werde ich bald Mutters Bleistifte finden und Mutters Brillen und Rezepte von eigener Hand für Kuchen und Plätzchen für das Weihnachtsfest vor zwei Jahren. In einer weiteren Schublade ruhen ihr Reisepass, ihr Geldbeutel, ihr Telefonbuch, Broschen und Wanderkarten durch die Wälder am See. Und da ist ihre helle Stimme, ich weiß, dass sie im Telefon zu warten scheint, eine Stimme, die noch möglich ist. — stop
im haus der alten menschen : ein zimmer
tango : 22.22 UTC — Da sind Bilder und Fotografien an den Wänden, eine Katze und noch eine Katze, ein Mann unter einem Schneekirschbaum, der die Arme in die Luft wirft. Hände, die sich in ihren Fingern umarmen. Und zwei Lampen. Eine Lampe zum Knipsen und eine zum Streicheln, Licht an, Licht aus. Ein Hase von Bronze mit langen Ohren von Bronze. Ein hölzernes Kreuz auf einem Tisch. Ein weiteres hölzernes Kreuz an einer Wand. Und ein gusseiserner, bemalter Baum. Zwei blühende Orchideen, weiß. Ein Christstern, rot. Und ein Strauß geschnittener Blumen, wild. Ein Stern von Papier und eine Zeichnung von Kinderhand, dies und das. Pflegeschaumdosen. Cremetuben. Tücher. Tupfer. Klingen. Ein Radio. Vinylhandschuhe. Und eine Nahrungsmittelpumpe. Ein Bett. Eine Matratze, die sich bewegt. Ein Bündel getrockneter Blumen. Kompressen. Ein Messgerät. Ein Pillenzerstäuber. Fünf Bücher. Auch Proust, Briefe zum Leben. Ein kleines Schaf und ein Teddybär. Ein Engel von Porzellan. Ein Duftwasserflacon, Ohrstäbchen, Handvollmenge. Ein Rosenkranz und ein Tannenzapfen. Holzlöffel für Zunge und Hals. Eine Schere. Eine Pinzette. Eine Spritze. Ein Mundschaumstäbchen. Eine Windel. Terminplan für Logopädie gegen verlorenes Sprechen. Lavendelduftkissen. Keine Uhr, nur die eine, die mit mir ins Zimmer gekommen ist. — stop
vom träumer
india : 6.28 UTC — Bald einmal Visitenkarten für einen Träumer drucken, feine Papiere, die akkurat senkrecht in Cafés an einsamen Schokoladentassen lehnen. Zu lesen sind je diese Sätze: War wieder in Patagonien heut Morgen. Wasserhahn, auch Portemonnaie, vergessen. Bin gleich wieder da. Louis — stop
faltergeschichte
sierra : 0.55 — Ein Nachtfalter segelte durch mein Arbeitszimmer, als sei er eine Erinnerung. Das Tier war so müde und so schwach, dass es sich der Luft anvertraute. Kurz darauf saß der Falter auf dem Boden und ich hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. — Es ist jetzt bald 1 Stunde nach Mitternacht. Ein paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ich werde den Falter füttern, werde ihn mittels Zuckerwasser über den Winter bringen. Er könnte vielleicht 250 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der bei mir zu Kräften kommen möchte. — stop