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fritz stern

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tan­go : 22.22 — Fritz Stern ist in New York gestor­ben. In einem Inter­view mit Kul­tur­zeit erklär­te er noch im Febru­ar: Beschäf­tigt Euch mit der Ver­gan­gen­heit, um sich an den mensch­li­chen Schick­sa­len aus der Ver­gan­gen­heit zu ori­en­tie­ren, sich zu erin­nern, und das nicht ein­fach hin­zu­neh­men und zu glau­ben, dass die Errun­gen­schaf­ten der Zeit zwi­schen 1945 und — sagen wir mal — 1970, dass man das nicht ein­fach als gege­ben hin­neh­men kann. Und zu glau­ben, das ist so, das bleibt so. Es bleibt nur so, wenn man es ver­tei­digt. Die­ser Appell soll­te gera­de an die Jugend gestellt wer­den. Ich weiß nicht, wie weit das im Augen­blick geschieht. Ich glau­be, nicht genug. — stop
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london . mittags

picping

MELDUNG. Auto­mo­bi­le, fol­gen­de, wur­den am frü­hen Nach­mit­tag nach einem Kauf­haus­be­such zu Lon­don in Mar­tha B., 90, vor­ge­fun­den. Magen — 1 Biz­zar­ri­ni P538 [ 1967 ], Dünn­darm — 1 Laf­fly Feu­er­wehr­fahr­zeug [ 1923 ], Dick­darm — 1 Mar­lin Roads­ter [ 1914 ]. Ein Rich­ter hat­te die Durch­su­chung des hoch­be­tag­ten Bau­ches bereits zum fünf­ten Male ange­wie­sen. — stop

tapetenfabrik

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mrs sini reiss

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marim­ba : 0.08 — Vor eini­ger Zeit besuch­te ich Mrs. Sini Reiss, die im 22. Stock eines Wohn­hoch­hau­ses nahe der Clark Street wohnt. Ich hör­te, sie sei hoch­be­tagt und habe ihr Apart­ment seit über zehn Jah­ren nicht ver­las­sen. Die alte Dame lese viel und schaue gern vom Bal­kon aus zu den oran­ge­far­be­nen Schif­fen hin, die zwi­schen Man­hat­tan Süd und Sta­ten Island pen­deln. Ich erkun­dig­te mich, ob ich mich mit der alten Dame unter­hal­ten müs­se. Nein, nein, ich sol­le nur ein paar Geträn­ke vor­bei­brin­gen und viel­leicht ein wenig nach dem Müll schau­en, Mrs. Reiss habe noch nie einen deut­schen Mann ken­nen­ge­lernt, nur wel­che im Fern­se­hen gese­hen, sie wer­de sicher neu­gie­rig sein, sie spre­che aber nur sehr wenig, sie wer­de also neu­gie­rig vor allem mit ihren Augen sein. Über­haupt sol­le ich mich nicht wun­dern, ich wür­de das hören, sobald ich aus dem Auf­zug stei­ge, in ihrer Woh­nung sin­gen Vögel und brül­len Affen und zetern Zika­den unent­wegt. Wenn du die Augen schließt, dann meinst du dich im Urwald zu befin­den, das ist so, weil es in den Ohren der alten Dame seit vie­len Jah­ren hef­tig rauscht und pfeift, wes­halb sie jene frem­den Stim­men in ihre Woh­nung hol­te, damit sie das Geräusch, das sich in ihren Ohren befin­det, nicht als ihr eige­nes Geräusch wahr­neh­men müs­se. Mrs. Sini Reiss tra­ge ein Wölk­chen schloh­wei­ßen Haa­res auf dem Kopf, ihr Mund sei hell­rot geschminkt, ihre Wan­gen apri­ko­sen­far­ben bepu­dert, sie tra­ge ein dun­kel­blau­es Kos­tüm, und sie lese die New York Times von der ers­ten bis zur letz­ten Sei­te Tag für Tag, sie wis­se über die Welt gut Bescheid, aber sie wol­le eigent­lich nichts hören und nicht spre­chen, son­dern nur die Zei­tung lesen und den Vögeln und Zika­den lau­schen. Genau so ist es gewe­sen. Es war ein Diens­tag. — stop
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schatten eines mädchens

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nord­pol : 0.58 — Ich notier­te: Viel­leicht ist das so, dass sich die See­le eines Ortes, bei­spiels­wei­se die See­le eines Fähr­schif­fes, auf Wör­ter über­trägt, wenn die­se Wör­ter an dem Ort, von dem sie erzäh­len, geschrie­ben wer­den wäh­rend einer län­ge­ren Zeit der Beob­ach­tung. Ich sehe, was ich nicht erfin­den kann. Oder ich erfin­de, was ich nur hier erfin­den kann. Ja, so könn­te das sein. South Fer­ry. Hur­ri­ca­ne Deck. Zit­tern­des, schep­pern­des Brum­men. Obwohl Mai, bläst eis­kal­ter Wind durch eine halb­ge­öff­ne­te Tür ins Inne­re des Schif­fes. Ein Mäd­chen, das unent­wegt lei­se spricht, hüpft über den höl­zer­nen Boden des Decks. May i have your atten­ti­on, plea­se. The Fer­ry is docking short­ly. Die Stim­me des Mäd­chens, die kaum hör­bar ist, aber sicht­bar, spricht die Sät­ze der Maschi­nen­stimm­loops nach. Sie lacht und eilt, ihre Mut­ter hin­ter sich her zie­hend, zum Heck des Schif­fes, wo sich in die­sem Moment das Land dem Schiff durch die Dun­kel­heit in Gestalt einer eiser­nen Brü­cke ent­ge­gen fal­tet, Trom­pe­ten­ge­räu­sche, wim­mern­des Metall, Klän­ge, die das lachen­de Mäd­chen imi­tie­rend zu über­tö­nen sucht. Ein paar Möwen, die dicht über dem Schiff krei­sen, ver­ren­ken ihre Köp­fe, als ob sie dem Mäd­chen zuhö­ren wür­den. — stop
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im museum

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tan­go : 2.12 — Auf der Suche nach Tex­ten, die das Wesen der Brief­mar­ken­samm­ler beschrei­ben, ent­deck­te ich eine wun­der­vol­le Beob­ach­tung der Schrift­stel­le­rin Dubrav­ka Ugre­sic. Sie notiert: Im Ber­li­ner Zoo­lo­gi­schen Gar­ten steht neben dem Bas­sin mit einem See­ele­fan­ten eine unge­wöhn­li­che Vitri­ne. Hier lie­gen unter Glas die im Magen des See-Ele­fan­ten Roland gefun­de­nen Gegen­stän­de, nach­dem die­ser am 21. August 1961 ver­en­det war, und zwar: Ein rosa Feu­er­zeug, vier Eis­stie­le (Holz), eine Metall­bro­sche in Gestalt eines Pudels, ein Fla­schen­öff­ner, ein Damen­arm­band (Sil­ber?), eine Haar­span­ge, ein Blei­stift, eine Was­ser­pis­to­le aus Plas­tik, ein Plas­tik­mes­ser, eine Son­nen­bril­le, ein Kett­chen, eine klei­ne­re Metall­fe­der, ein Gum­mi­rei­fen, ein Spiel­zeug­fal­schirm, eine Eisen­ket­te, (ca. 40 cm lang), vier lan­ge Nägel, ein grü­nes Plas­tik­au­to, ein Metall­kamm, ein Püpp­chen, eine Bier­do­se (Pil­se­ner, 0,33 l), eine Streich­holz­schach­tel, ein Kin­der­pan­tof­fel, ein Kompaß, ein Auto­schlüs­sel, vier Mün­zen, ein Taschen­mes­ser mit Holz­griff, ein Schnul­ler, ein Bund mit Schlüs­seln (5 St.), ein Vor­hän­ge­schloß, ein Plas­tik­etui mit Näh­zeug. / aus: Das Muse­um der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on. — stop

muscheln2

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ein reisekoffer

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gink­go : 3.55 — Das Geräusch der trop­fen­den Bäu­me vor dem ewi­gen Brau­sen der Stadt. Eine Nacht voll Wintergewit­ter, glim­mende Vögel irren am Him­mel, Nacht­vö­gel ohne Füße, Vogel­we­sen, die nie­mals lan­den. Als ich vor eini­gen Tagen nach Esme­ral­da such­te, brauch­te ich eine Wei­le, um die klei­ne Schne­cke mit ihrem Gehäu­se auf dem Rücken fin­den zu kön­nen. Sie saß schla­fend auf einer Fens­ter­schei­be. Es war nicht schwer, sie vom Glas zu lösen und auf den Rücken mei­ner rech­ten Hand abzu­set­zen. Esme­ral­da beob­ach­te­te mich von dort aus mit einem Auge, das sie weit aus ihrem Kopf gestreckt hat­te, wäh­rend das ande­re Auge unsicht­bar blieb, viel­leicht weil es wei­ter schlief, weil ein ein­zel­nes Auge genüg­te, um mich zu betrach­ten oder in Schach zu hal­ten. Indem ich mich mit einem Ohr Esme­ral­das Schne­cken­ge­häu­se näher­te, war da wie­der der Ein­druck, ein lei­ses Sum­men zu ver­neh­men, das von einem hel­len Ticken beglei­tet war, als wäre im Häus­chen eine Uhr ein­ge­sperrt. Aber der eigent­li­che Grund, wes­halb ich nach Esme­ral­da such­te, war nicht der Wunsch gewe­sen, an Esme­ral­das Häus­chen zu lau­schen, viel­mehr woll­te ich Esme­ral­da ihren Sche­cken­rei­se­kof­fer zei­gen, eine Schach­tel von 10 cm Län­ge, 5 cm, Höhe, 5 cm Brei­te. Die Schach­tel war per­fo­riert, feins­te Löcher, sodass Luft in sie ein­drin­gen konn­te, außer­dem mit einem feuch­ten Tuch aus­ge­klei­det. Vor­sich­tig hob ich Esme­ral­da an und set­ze sie in der Schach­tel ab, dann schloss ich den Deckel und sag­te zu Esme­ral­da hin: In einer Stun­de hole ich Dich wie­der her­aus. Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich vor zwei Wochen. Noch immer leich­ter Regen. — stop

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deja vu

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kili­man­dscha­ro : 0.58 – Fünf Fin­ger. Hand für Hand, fünf Fin­ger. Immer wie­der erstaun­lich. Gera­de eben habe ich an mei­nen lin­ken Zei­ge­fin­ger gedacht. Ich habe in mei­nem Kopf gesagt: Bewe­ge Dich! Und der Zei­ge­fin­ger beweg­te sich. Die­se Hand auf dem Tisch scheint mei­ne Hand zu sein. Das Geräusch des Atems. Selt­same Spra­che. – stop

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von den zwergseerosen

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nord­pol : 1.58 — Als ich R. frag­te, wie häu­fig sie ihren Brief­kas­ten besu­chen wür­de, um nach­zu­se­hen, ob viel­leicht Post für sie ein­ge­trof­fen sei, dach­te ich an Ágo­ta Kris­tóf, die in einer Geschich­te notier­te: Mei­nen Brief­kas­ten gehe ich zwei­mal täg­lich lee­ren. Um elf Uhr mor­gens und um sieb­zehn Uhr abends. Der Brief­trä­ger kommt nor­ma­ler­wei­se frü­her vor­bei, mor­gens zwi­schen neun und elf, das ist sehr unre­gel­mä­ßig, und nach­mit­tags gegen sech­zehn Uhr. Ich gehe immer so spät wie mög­lich nach­se­hen, um sicher zu sein, dass er schon dage­we­sen ist, sonst wür­de der lee­re Brief­kas­ten fal­sche Hoff­nun­gen in mir wecken und ich wür­de mir sagen: „Viel­leicht war er noch nicht da“, und dann müss­te ich spä­ter noch mal run­ter­ge­hen. — R. hör­te zu. Kurz dar­auf erzähl­te sie, dass sie per­sön­lich über­haupt kei­nen wirk­li­chen Brief­kas­ten haben wür­de, aber ein Post­fach, und die­ses Post­fach besu­che sie nur ein­mal in der Woche, weil es für täg­li­che Besu­che viel zu weit ent­fernt sei, sie müs­se durch die hal­be Stadt fah­ren, um ihr Post­fach zu errei­chen, das sei genau so geplant, ein Post­fach in gro­ßer Ent­fer­nung. Auch E‑Mail wür­de sie nicht mehr beant­wor­ten, oder nur sel­ten, man kön­ne ihr zwar schrei­ben, aber man dür­fe nicht erwar­ten, dass man eine wirk­li­che Ant­wort erhal­ten wür­de, immer­hin emp­fan­ge man eine Notiz sofort, nach­dem man ihr geschrie­ben habe, die erwäh­ne, nie­mand kön­ne sicher sein, dass sie die gera­de gesen­de­te Nach­richt jemals lesen wür­de, es sei aber immer­hin mög­lich. Als ich R. zum letz­ten Mal sah, hat­te sie gera­de erfolg­reich den Ver­such unter­nom­men, Zwerg­see­ro­sen auf dem Rücken ihres rech­ten Unter­ar­mes anzu­sie­deln. Das war im Herbst des ver­gan­ge­nen Jah­res gewe­sen, ich konn­te R.s Haut­ge­wäch­se deut­lich erken­nen, sie blüh­ten in wei­ßer Far­be, ich mein­te, einen fei­nen Duft ver­neh­men zu kön­nen, und mach­te mir ein paar sor­gen­vol­le Gedan­ken der See­ro­sen­wur­zeln wegen, ihrer Tie­fe. — stop

drohne24