marimba : 5.15 — Schon immer bin ich ein Träumer gewesen, saß auf Bäumen, kam zu spät zur Schule oder zum Mittagessen, Fußballspiele endeten ohne mich, Züge fuhren in die falsche Richtung mit mir davon. Einmal küsste ich ein Mädchen so lange ich konnte, das heißt, sie küsste mich so lange sie wollte, weil die Zeit, von der ich erzähle, eine Zeit gewesen war, in der die Mädchen sich die Jungen zum Küssen holten, weil die Jungen noch mit Eisenbahnen oder anderen Jungen spielten. Während sie ihren sehr kühlen Mund auf meinen sehr kleinen Mund presste, sah sie auf die Uhr und manchmal lachten wir, ohne die Lippen voneinander zu lösen, weil die Winde aus unseren Nasen sich über unseren Wangen kreuzten. Bald sagte sie, eine Minute, und dann sagte sie, zwei Minuten, und so eilten wir von Rekord zu Rekord, zitternde Wesen ohne Zungen. Schon damals trug ich eine innere Uhr mit mir herum. Ich hatte eine genaue Vorstellung, wo diese Uhr zu finden sein musste. Nicht im Kopf, nicht in der Nähe meiner Ohren, dort wäre ihr Zählwerk zu hören gewesen. Und ich wusste, dass man sich auf innere Uhren, auf Körperuhren, nicht verlassen konnte, nicht wenn man gerade noch von einem Mund geküsst worden war.
die sonne ist rund
india : 5.08 — Wie in schwieriger Zeit im Schlaf die Welt nach und nach neu geordnet wird, kein Stein bleibt auf dem anderen. Jeder beginnende Tag, ein Tag vor unbekannter Landschaft. Jede erlebte Geschichte erzählt sich, als wäre sie nie geschehen. Die Sonne ist rund.
eisenbahn
nordpol : 15.02 — Als ich gestern Nachmittag mit einer Suchmaschine in Sammelordnern des Jahres 2003 nach Notiztexten forschte, die ich in den Tagen des Irakkrieges notiert haben könnte, entdeckte ich eine Passage, die von einem Loch in meinem Perserteppich erzählt. Ich konnte das Loch damals von meiner Position aus als Beobachter auf dem Sofa vor dem Fernsehbildschirm gut erkennen. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, dieses Loch nun plötzlich zu betrachten, obwohl ich viele Jahre die Verletzung des Teppichs, eine Scharte von der Breite einer Hand, nicht wahrgenommen hatte. Ich glaube, ich hatte die Geschichte, die davon erzählt, wie das Loch in den Teppich gekommen war, ganz einfach vergessen. Aber dann war sie plötzlich gegenwärtig, weil ein amerikanischer Panzer während einer Liveaufnahme in Bagdad ein Hotel beschossen hatte, in dem sich Journalisten befanden. Die Granate des Panzers traf einen Balkon und auf diesem Balkon einen Kameramann, dessen Körper, der noch heftig blutete, mit dem Aufzug ins Foyer gefahren wurde. Eine Stimme auf dem Bildschirm kommentierte das Geschehen mit dem Satz, der Journalist habe sich im falschen Moment am falschen Ort befunden. Und da war nun jene Geschichte von einer Sekunde zur anderen Sekunde wieder in mein Bewusstsein zurückgekehrt, die Geschichte, die vom Loch in meinem Perserteppich erzählte. Ich saß auf dem Sofa und notierte, dass ich mich wundere, und ich betrachtete den Teppich und das Loch, das von dem Splitter einer britischen Granate im Jahr 1942 in das Gewebe gerissen worden war, und für einen Augenblick sah ich meinen Vater, ein Kind, wie er auf diesem Teppich, der sein Teppich gewesen war, spielte, vielleicht mit einer Eisenbahn aus Buntmetall, die er gerade noch rechtzeitig aufgehoben haben könnte und mitgenommen in den Luftschutzkeller. — stop
brooklyn
george w. bush
tango : 14.12 — Mr. Bush mit Gattin auf Bildschirm. Wieder die Wahrnehmung, dass nicht der Präsident, sondern Mrs. Laura Bush mir äußerst unheimlich ist. – Lasst uns nicht trauern um die Gefallenen, sondern froh sein, dass diese Menschen gelebt haben. – Mr. Allister [ Militärpfarrer ] am 8. Tag der Bodenoffensive kurz vor Bagdad.
gehirn und alter
romeo : 10.12 — Irgendetwas in meinem Gehirn scheint sich verändert zu haben. Ich kann das ungefähre Alter der Menschen nicht mehr erkennen. Ich kann mit Sicherheit noch sagen, dieser Mann ist sehr alt oder diese Frau ist sehr jung.
herzgeräusch
echo : 2.08 — Gespräch über Geräusche, die menschliche Herzen erzeugen. Wundere mich, sagte ich, dass ich Deines nicht höre. Wundere mich über die Stille, die in Konzertsälen für Minuten herrschen kann. Fünftausend schlagende Herzen und doch diese Stille. — stop
taucher
himalaya : 0.12 — Menschen, die telefonierend in U‑Bahnen sitzen, machen Geräusche, als funkten sie aus einer anderen Zeit herüber, als wären sie Konserve, als würde eine uralte Schallplatte abgespielt, als würden sie in einem U‑Boot langsam sinken, kreischende, knisternde, krachende Töne aus tonnenschwerer Tiefe, aus dem Inferno spielender Kraken Stimmen, die Fragmente flüstern, sodass man nur noch verdammte letzte Dinge antworten kann. Dann aber Stille. Ein weiteres Ende. Man steht herum, man weiß nichts zu tun, man öffnet die Tür, Salz stürzt die Treppe herauf, und Luft, eine Welle feuchter Luft, vom Wasser gehetzt, das bereits um die Ecke donnert. Kaum hat man einen Gedanken gefasst, ist alles geflutet, der Flur, das Bad, die Lunge. Jetzt treiben sie herein, schweben in der Küche herum, machen Zeichen und Sätze, berichten von kleinen Schreibtischkriegen, Kommandanten der Tage. — stop
=
schreibmaschine
echo : 0.03 — Ein Mann. Der Mann sitzt auf einer Straßenkreuzung vor einer schweren Schreibmaschine. Langsam, Zeichen für Zeichen, notiert er einen Text, in dem er für jeden Buchstaben, den zu schreiben er sich vorgenommen hat, weit ausholt und seine Hand mit Kraft auf die Tastatur niedersausen lässt. Als ich näher komme, entdecke ich, dass der Mann eine Erzählung Herman Melvilles notiert. WAS! ruft der Mann, Sie haben von diesem Buch noch nie gehört! Na, dann kommen sie wieder in zwei Tagen und acht Minuten, dann wird alles fertig sein und sie können das Buch mitnehmen und lesen und weiterschreiben, sobald sie wach geworden sind. — stop