20.15 — Kurze Anleitung zum Glücklichsein, sagen wir so: Man verlasse das Haus. Aufmerksam jede Bewegung des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man: Cortazar, Julio — Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man weiter spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Dort nehme man Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise, oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works! — stop
Aus der Wörtersammlung: alt
libellen
15.11 — Ich sitze bei großer Hitze von Büchern umgeben seit Stunden bereits auf dem hölzernen Boden meines Arbeitszimmers. Lese da eine kleine Geschichte und dort einen Absatz und hier eine Zeile und mische im Kopf und warte, bis sich alles wieder voneinander absetzt. Gleich werde ich Wong Kar Wais < 2046 > auflegen. Jetzt leichter Regen, die Fenster geöffnet. Dutzende Falter, die sich, nach Licht süchtig, wieder und wieder in den Bildschirm stürzen. Ich sollte mir zwei kraftvolle Libellen halten. — stop
trambahn
1.15 — Das Glühbirnenlicht alter Straßenbahnen, verlorenes Licht. — stop
unschärfe
0.26 — Jedes Erzählen, jedes Lesen scheint ein Vorrücken in einer Zeit zu sein, in der ich selbst gehalten bin wie ein Fisch im Wasser gehalten ist. Immer, auch dann, wenn es um Jahre zurückgeht im Text, liegt die wahrzunehmende Vergangenheit bis zu einem letzten Punkt je um ein Zeichen, um ein Wort, um Zeilen oder Seiten später, das heißt in der Zukunft. — stop
nebelhorn
1.28 — Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen hatte, auf dem Postamt würde ein Paket auf mich warten. Ich ging also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt. Und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten, nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam, dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegenstemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos. — Aber jetzt zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange Zeit auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann, war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz der Begeisterung kurz einmal eingenickt sein sollte. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und da sind zwitschernde Mädchenstimmen, und das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton. — stop
mandelbrot
3.38 — Seit einigen Tagen bereits werde ich nachts gegen 1 Uhr müde. Nicht einfach müde in einer Weise, dass ich noch sagen könnte – Jetzt bist Du also müde, solltest einen schönen starken Kaffee trinken oder etwas schwarzen Tee mit Honig. Nein, das ist eine Müdigkeit, die aus dem Hinterhalt kommt, als Überfall oder so etwas. Vorhin erst habe ich meinen Kopf auf die Schreibtischplatte gelegt, um meine Springspinne, die gerade aus ihrer Höhle gekommen war, aus der Perspektive einer weiteren Spinne betrachten zu können. Das war ein Fehler gewesen. Es ist jetzt bereits 3 Uhr 30 und ich habe noch nicht eine der drei sehr kurzen Kurzgeschichten gelesen, die ich mir zur Übung Nacht für Nacht verordnet habe. Werde nun vorsichtig in die Küche gehen. Dann etwas Carver lesen und vielleicht, wenn ich nicht wieder eingeschlafen sein werde, über das schöne Wort Mandelbrotmenge nachdenken, über die Temperaturen des Atlantischen Ozeans vor Neufundland, über schneeweiße Wale und andere wunderbare Dinge. — stop
nadine gordimer
10.15 — Lektüre der Erzählung Something out There von Nadine Gordimer aufgenommen. Sofort der Wunsch, in der Elektrosphäre nach einer Fotografie des Karibasee zu suchen, weil Mrs. Gordimer vom künstlichen Gewässer in der Savannenlandschaft erzählt, von Elefanten gleichwohl, die sich in seine Fluten stürzten, um uralten Wanderrouten zu folgen. — Was haben die ertrinkenden Tiere dort unter dem Wasserspiegel gesehen? — Wovon haben sie gehört in ihrer letzten Lebenssekunde? — Ich lese von der Tiefe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sollen, von der Luftfeuchtigkeit und vom Gewicht der Elefantenkörper, von der Biodichte ihrer Körper und von Kulturen in Seenähe siedelnder Menschen. Und während ich so vor mich hin lese, von Seite zu Seite, von Link zu Link, vergeht eine Stunde Zeit. Plötzlich erinnere ich mich an Nadine Gordimer und ihr Buch und setzte meine Lektüre fort. — stop
inszenierungsmaschine
2.26 — Sobald ich im Bauch einer elektrischen Inszenierungsmaschine 100 frei schwebende Textparticles von je 100 Wörtern über einen Zufallsgenerator miteinander verbinde, wird mit jedem weiteren Aufruf eines Textparticles jedes andere der 100 Textparticles möglich. Ich habe also eine Textversammlung, die sich wie eine Flüssigkeit verhält. Wie könnte ich nun eine Vereisung dieser Flüssigkeit erzeugen? Ich könnte zum Beispiel je 10 Textparticles zu einer Gruppe setzen und über einen Generator verschalten, sodass in einem ersten Schritt 10 Textparticles aus 100 Textparticles möglich wären. Oder ich bilde zwei Gruppen zu je 50 Textparticles und komme in dieser Weise auf zwei mögliche Textparticles einer ersten Wahl. Zwei Linien. Eine Weiche. Oder sehr gutes Eis. — Vielleicht sollte ich, wenn ich vom Schreiben eines linearen Textes spreche, zunächst an das Spinnen eines Eisfadens denken. Das Lesen, ein Vorgang der Enteisung. — Heute Nacht habe ich von 0 Uhr 12 bis 1 Uhr 52 Julio Llamazares wundervolle Stummfilmszenen aufgetaut.- stop
zeit 50
pergament
0.37 — In ein schützendes Korsett von Schaumgummi gepresst, ruhte eine Apfelbirne unter weiteren Früchten, sie glänzte, als hätte sie hohes Fieber. Habe sie mit nach Hause genommen und versuche gerade eben herauszufinden, ob es sich bei dieser Apfelbirne um eine Birne oder doch eher um einen Apfel handeln könnte. Zu diesem Zeitpunkt, es ist kurz nach zwölf Uhr, meine ich bereits herausgefunden zu haben, dass eine Apfelbirne nach Birne, nicht aber nach Apfel duftet, dass sie jedoch in Gestalt und Farbe einem gewöhnlichen Apfel ähnlicher ist, allerdings wiederum in die Pergamenthaut einer Birne gekleidet. Ein gelungenes Objekt. Ein Objekt, das in meinem Gehirn leichte Verwirrung zu erzeugen vermag. Ein wenig ist das so, als würde man von einer Frau, die man liebt, eine zärtlich ausgeführte Ohrfeige erhalten. — stop