marimba : 0.08 — o b e r l i d f u r c h e
Aus der Wörtersammlung: mitternacht
ein kind
marimba : 6.16 — In der Schnellbahn vom Flughafen wieder ein merkwürdiges Kind beobachtet. Das Kind saß auf dem Schoß der Mutter, hatte einen Schnuller im Mund und betrachtete Fahrgäste, die dort in seiner nächsten Nähe saßen oder standen. Alle waren sie müde, ein Langstreckenflug von New York her über den Atlantik lag hinter ihnen, das Kind aber schien gut geschlafen zu haben. Es hatte blitzblanke Augen von dunkelbrauner Farbe, und mit diesen Augen nun arbeitete es sich von einem Erwachsenengesicht zum nächsten. Wenn die Augen des Kindes ein Gesicht erreichten, verweilten sie eine gewisse Zeit lang, als ob sie sich das Gesicht für immer einprägen, oder aber als ob sie in dem Gesicht etwas finden wollten, nach dem gesucht werden musste. Wenn das Kind mit der Beobachtung eines Gesichts fertig geworden war, hüpften seine Augen auf das nächste Gesicht, und so weiter und so fort. Nie, ich meine, nie, solange ich das Kind und seine Augen beobachtete, kehrte sein Blick zu einem Gesicht zurück, das es bereits einmal besucht hatte, sodass ich behaupten möchte, dass seine Augen, das heißt, das Gehirn des Kindes, den Raum des Zuges systematisch untersuchte. Für eine Sekunde hatte ich den Gedanken, dass das Kind vielleicht ein uralter Mensch gewesen war, der rückwärts lebte, für den sich die Zeit umgekehrt hatte, der bald den Anfang seiner Existenz wieder erreichen würde, der noch einmal alles ansah, mit Kinderaugen, aber vielleicht einem uralten Gehirn. Wer aber, wenn ich dieses Gefüge weiterdenke, war diese müde Frau gewesen, auf dessen Schoss das Kind ruhte und schaute? – Weit nach Mitternacht. Habe den Verdacht, diese Geschichte schon einmal erzählt zu haben. Ein Déjà-vu. Werde mir sofort zur Beruhigung eine kleine Ente braten. — stop
gedankenstimme
india : 5.12 – Ich wiederholte einen Gedanken, den ich gegen Mitternacht wahrgenommen hatte, in dem ich versuchte, ihn zunächst langsam und kurz darauf in einer schnelleren Weise zu denken. Und während ich also Geschwindigkeiten probierte, entdeckte ich, dass ich einerseits mit Wörtern, mit Stimmwörtern denke, aber auch ohne Stimme, ohne Wörter. Ich kann die Wörterstimme in meinem Kopf schneller denken oder ich kann sie langsamer denken. Gedanken, erste Gedanken, die scheinbar ohne Sprache sind, sind dagegen so schnell, dass sie bereits fertig geworden sind, wenn sie in meinem Kopf bisher nicht angefangen haben. – Gestern wurde Radovan Karadžić gefangen. — stop
fliegende arme
delta : 0.05 — Wieder kurz nach Mitternacht. Immer schneller laufen die Tage. Gerade eben entdeckte ich auf Karteikarte 705 eine Notiz, die ich am 7. März 2006 in einem anatomischen Präpariersaal vermerkte. Sie geht so: Heute beginnt die Präparation der Gesichter. Wilhelm, 21, erzählt, er habe von hautlosen Armen geträumt, die an Propellerflügeln hinter ihm her durch den Saal schwebten. Meistens schlafe er aber gut. Wenn Wilhelm einmal nicht schlafen kann, liest John Steinbeck. Das beruhige. — stop
libellen
sierra : 3.22 — Heut Nacht sitz ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle eben, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
schreibtischkäfer
echo : 1.52 — Seit einer Stunde genau wohnt ein Käfer auf meinem Schreibtisch. Der Käfer ist so klein, dass ich ihn zunächst nicht sehen konnte, aber ich konnte ihn riechen, er roch nach heißem Zinn, was doch sehr seltsam war, weil der Käfer, als ich ihn nach längerer Suche endlich gefunden hatte, kühl, wenn nicht kalt in meiner Hand auf dem Rücken lag. Ich war zunächst in die Küche gewandert, um nach meinem Bügeleisen zu sehen, dann öffnete ich die Wohnungstür, inspizierte meinen Kühlschrank, prüfte den Zustand meiner Nase, und kehrte an den Schreibtisch zurück. Jetzt hatte sich der Käfer durch Bewegung verdächtig gemacht. Da war nun also ein Käfer sichtbar geworden unter einer Lupe, und dieser Käfer, der nach heißem Zinn roch, bitter, und süß nach Maschinenöl, trug anstatt eines Panzers Menschenhaut. Als ich ihn mit einem Finger vom Tisch in meine Handfläche schob, öffnete er seine Flügel und kämpfte, um Luft unter seine Tragflächen zu bekommen. Alle Mühe war vergeblich, der Käfer war zu schwer oder doch zu müde, von einer längeren Reise, weiß Gott woher. — Weit nach Mitternacht, schwüle Luft, sitze vor dem Schreibtisch, betrachte den Käfer und der Käfer betrachtet mich. Der Eindruck, wir beide sind nicht sicher, ob wir nicht vielleicht, der eine dem anderen, je ein Albtraum sind. — stop
zebraspringspinne
echo : 0.50 — Kurz nach Mitternacht. Gerade eben entert meine Zebraspringspinne den Tisch. Eigentlich wollte ich rasch eine kleine Geschichte erzählen, von einem afrikanischen Mann, dem ich regelmäßig begegne morgens vor der Zentralstation, einem Mann, der immer wieder betrunken ist und immer wieder nur einen Schuh trägt und eine seltsame Sprache spricht, eine Mixtur aus französischen, englischen, deutschen und afrikanischen Wörtern. Aber jetzt sitzt die Spinne auf dem Tisch und der afrikanische Mann muss warten. Ich ahne bereits, wo meine Spinne wohnt. Wieder die Frage, ob diese Spinne dieselbe Spinne ist, mit der ich den vergangenen Sommer verbrachte? Wie groß wird die Spinne auf meinem Schreibtisch einmal werden, wie lange kann ich mit ihr noch befreundet sein? Ob sie sich der Gefahr bewusst ist, in der sie sich befindet? Was eigentlich frisst diese Spinne, die meine Spinne ist, solange sie nicht flieht? — Neun Uhr zwölf in Rangen, Burma. — stop
lichtschlitten
0.12 — Am späten Abend, um 22 Uhr und 28 Minuten präzise, verzeichnet der Google-Index 2.850.000 Ergebnisse für die Suche nach Albert Camus in 0,15 Sekunden und für das Wort Sonne 31.500.000 Einträge in 0.03 Sekunden. Ist es Menschen möglich, einen Zeitraum von 0.15 Sekunden vorzustellen? Könnte ich, wenn ich übte, ein Gefühl bewirken, für die Zeitdifferenz zwischen 0.15 Sekunden und 0.03 Sekunden? Wie lange Zeit müsste ich mit lauter Stimme sprechend zählen, bis ich die Zahl 850.000 erreicht haben würde? Könnte ich so weit zählen, ohne einmal schlafen zu müssen? – Kurz nach Mitternacht. Ich scanne die Fotografie einer indischen Frau, die vielleicht nie erfahren wird, dass die Aufnahme ihrer Person unter der Bezeichnung darjiling.gif der Elektrosphäre zugefügt worden ist. — Das feine Geräusch der Motoren, die den Lichtschlitten ziehen. Sieben Uhr achtundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop
harold and maude
2.05 — Ich habe mir etwas Luxus gestattet. Ich habe mich mit einer Schachtel Pistazieneis auf mein Sofa gesetzt und einen Film betrachtet, den ich vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen und seither nie wieder vergessen habe : Harold and Maude. Ein großes Vergnügen. Wie weit entfernt in der Zeit doch Harold erscheint. Unlängst noch, ist er vertraut und nah gewesen. Aber Maude ist in meinen Augen sehr viel jünger geworden. Für einen kurzen Moment habe ich überlegt, in welcher Art und Weise ich mein Leben gestalten sollte, um Maude einmal als junges Mädchen wahrnehmen zu können. — Zwei Stunden nach Mitternacht, also später Nachmittag. Nichts zu tun in dieser Nacht, als mit Dorothy Parkers New Yorker Geschichten durch die Zeit zu segeln. — stop
mandelkern
1.38 — Gegen Mitternacht eine Viertelstunde lang das Wort Mandelkern, 10 Zeichen, in meinem Kopf hin und her geschoben. Ein Gefühl, federleicht, vielleicht deshalb, weil sich die arbeitende Struktur im Wort wieder erkannte. — stop