nordpol : 0.02 UTC — Als ich heute Morgen erwachte, knisterte mein linkes Ohr. Das war vermutlich darum gewesen, weil ich auf meinem linken Ohr mehrere Stunden lang träumend ruhte. Für einen Moment dachte ich, meine Ohrmuschel wäre von Papier gemacht. Während ich so lag und lauschte, erinnerte mich an eine Geschichte, die ich in einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West in New York vor längerer Zeit erlebte. Ich erzählte bereits von dem alten Mann, der hinter einem Tresen auf Kunden wartete. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, doch eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüßte, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf dem Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in demselben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. – stop
Aus der Wörtersammlung: ohrmuschel
traumgeschichte
foxtrott : 22.02 UTC — In der vergangenen Nacht träumte ich von einem seltsamen Kind, das war nämlich so im Traum, dass das Gehirn des Kindes zu wachsen schien, das Gehirn war in den Ohrmuscheln sichtbar geworden, von einem dünnen Häutchen geschützt, das beinahe durchsichtig gewesen war. Es kitzelt in meinen Ohren, sagte das Kind. Wir saßen in einer Straßenbahn. Ich erwachte. Es war ziemlich heiß am Morgen, als ich erwachte. — stop
freitag
india : 4.10 — Gestern Abend im Gespräch entdeckte ich die Existenz der Ohrmuschelforscher. Es existieren außerdem Herzforscher, Knochenforscher, Lungenforscher, Kehlkopfforscher. An dieser Stelle höre ich auf zu erzählen. Heute ist Freitag. Guten Morgen. — stop
von ohren
nordpol : 2.08 — Montag. Friedvolle Nacht, sofern ich meine Fenster schließe, meine Telefone, den Fernsehapparat, das Radio und meinen Router ausschalte, und mich mit nichts als mit Buchstaben beschäftige. Ich entdeckte bei den Gebrüdern Grimm 320 Wörter in der Umgebung des Wortes Ohr. Würde ich dieses Wort und seine zentrale Bedeutung nicht kennen, würde ich vermuten, dass es sich um ein bedeutendes Wort, eine bedeutende Eigenschaft oder einen bedeutenden Gegenstand handeln könnte. Schöne Wortlebewesen darunter, welche tatsächlich existieren. Eines aber habe ich höchstpersönlich erfunden. Auch dieses Wort existiert fortan als ein Wort unter den Öhrenwörtern: Ohrbacken Ohrberge Ohrbommel Ohrbrausen Ohrbusch Ohrenaffe Ohrenbläser Ohrengeflüster Ohrengel Ohrgewölbe Ohrengift Ohrenläpplein Ohrenperle Ohrenraupe Ohrensucht Ohrentaucher Ohrenteufel Ohrenzeuge Ohrenzirpe Ohrfasan Ohrfeige Ohrgäbelein Ohrgang Ohrgedächtnis Ohrgegend Ohrkruspel Ohrlillitaner Ohrküssen Ohrlippe Ohrlitze Ohrenlos Ohrmuschelstein Ohrpinsel Ohrrose Ohrschallen Ohrspritze Ohrsteinchen Ohrringen Uhrwerk — stop
innenohrmuscheln
echo : 6.22 — Ludwig, der mich gestern Abend besuchte, hatte einen kleinen Rausch mitgebracht, an dem wollte er weiter voran arbeiten. Er hatte darum eine Flasche billigen Cognacs in eine Papiertüte gesteckt, um sie den Abend über an seinem Bauch zu wärmen. Wenn er ab und zu einen Schluck aus der Flasche nahm, machte er seine Augen zu Schlitzen, er konnte dann nicht mehr sehen, obwohl er eigentlich nichts schmecken wollte. Es war ein lustiger Abend, einmal schlief Ludwig ein im Bad, ich weckte ihn und führte ihn zurück in die Küche. Das war gegen 22 Uhr gewesen. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt keine Beweise dafür finden, dass Ludwig mir noch immer zuhörte oder mich überhaupt noch hören konnte. Aber sich selbst schien er noch wahrnehmen zu können. Wörter entgleisten, die Sätze, die seine Geschichten erzählten, waren jedoch mittels Kombination verständlich. Um kurz vor Mitternacht berichtete Ludwig von einer Frau, die er einmal liebte. Sie wohnte lange Zeit in Lissabon, was sie dort machte, wovon sie lebte, wusste Ludwig nicht zu berichten, aber dass sie über besondere Ohren verfügte. In ihren Ohrmuscheln links und rechts sollen sich weitere kleine Ohrmuscheln befinden, exakt in derselben Form angelegt, nur eben kleiner. Aber nicht genug damit, wenn man mit einer Taschenlampe in die Innenohrmuscheln der Frau leuchtete, waren ein weiteres Paar noch kleinerer Ohrmuscheln zu entdecken. Das war eine seltene anatomische Erscheinung. Als ich wissen wollte, wie sich Ludwig implizierte Muschelformationen erklärte, war der verliebte Mann bereits eingeschlafen. Er saß vor meinem Küchentisch, die Flasche war geleert, der Kopf auf seine schmale Brust gesunken, so schlief er, ohne vom Stuhl zu fallen. Als ich am frühen Morgen die Küche betrat, saß er noch immer in dieser Haltung am Tisch. Beinahe hätte ich ihn für ein Kunstwerk gehalten, für eine bekleidete Gipsfigur: Trinkender Freund. Aber Ludwig atmete. Der Atem war flach. Es war ein Atem, der gerade noch zum Leben reichte. Ich musste Ludwig wecken, ich musste ihn wecken, um nicht schuldig zu werden. – Guten Morgen. Es ist Montag. — stop
ohrmuschel
delta : 6.08 — Wieder Franz Kafka lesen. Das Schloss. Der Prozess. Menschen vor und in den Machtmaschinen. Im Jahr 1910 notiert Kafka in sein Tagebuch: Meine Ohrmuschel fühlte sich frisch, rau, kühl, saftig an wie ein Blatt. — stop
muscheln
nordpol : 6.36 — Ich hatte einen lustigen Traum. In diesem Traum saß ich mit einem jungen Mann in einem Café. Ich erinnere mich, dass wir uns über Charlie Parker unterhielten, während ich beobachtete, wie sich die Ohren des jungen Mannes sanft bewegten, so als würden sie über hunderte Muskeln verfügen, Lebewesen mit je einer Seele und eigenem Willen sein. Sie entfalteten sich vor meinen Augen, schirmten aus zur Größe einer Untertasse, dann wieder kehrten ihre Muschelränder zueinander zurück, die Ohren des jungen Mannes wurden zu Knospen, sie sahen jetzt aus, als würden sie schlafen. Aber das war noch nicht alles gewesen, was ich träumte. Der junge Mann hatte nämlich seine Ohrmuscheln bald so dicht zueinander gefaltet, dass er sie in seinen Schädel einführen konnten, sie waren nun vollständig im Kopf verschwunden. Meine Ohren schlafen, sagte der junge Mann und lachte. Aber dann wurde er schnell wieder ernst, weil eine seiner Ohrmuscheln sich verklemmt hatte, während das andere Ohr bereits aus seinem Gehörgangetui hervorgekommen war. stop. Freitag. stop. Die Luft riecht Schnee. stop. Nichts weiter. — stop
kokons
echo : 22.58 — Im botanischen Garten das leise, das Nichtdenken geübt. Ich legte mein Ohr auf einen hölzernen Tisch und dachte nichts. Aber da war etwas merkwürdig: Mein Ohr auf dem Tisch hörte sich selbst. Und das andere, zum Himmel gerichtete Ohr, erlebte den Besuch einer Ameise. Also dachte ich doch an die Ameise, wie sie meine Ohrmuschel untersuchte. Wie gut, an Ameisen und an nichts Weiteres denken zu müssen. Dann schlief ich ein. Als ich erwachte, dachte ich sofort weiter an nichts. Die Ameise war verschwunden, aber ich hörte mein Ohr auf dem Tisch, und ich hörte den Gesang einer Nachtigall, die zunächst geschwiegen, dann aber meinen Besuch vielleicht vergessen hatte, weil ich reglos zu einer Pflanze unter anderen Pflanzen geworden war. Ich fragte mich, denke ich, indem ich der Stimme eines Vogels lausche? Ist das Denken nur dann gedacht, wenn ich meiner denkenden Stimme zuhöre, mich und meine denkende Stimme also wahrnehme? Immer wieder bemerkt, dass ich Sekunden zuvor noch an etwas oder über etwas gedacht habe, obwohl ich mir nicht zugehört hatte. Eine Gedankenerinnerung. Manchmal verhalten sich Gedanken wie Räume, Kokons, die verwickelte Gedankenpakete enthalten. Schallplattengedanken. Ich könnte demnach Schallplatten verzeichnen, die angenehme Stimmen und Stimmungen wiederholen, frohe Begegnungen und gelungene Gespräche. — stop
ohren gebraten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : OHREN
In der vergangenen Nacht hab ich von Euch geträumt. Hört zu! Wir spazierten am Atlantik an einem frühen Abend in der Dämmerung. Schnee war gefallen. Eis schindelte in der Bucht vor Coney Island, ein verrücktes Geräusch, eines, das ich nicht beschreiben kann, vielleicht weil das Geräusch so flüchtig gewesen war, dass ich nichts festhalten konnte von seiner Substanz in meiner Erinnerung, obwohl uns das Geräusch über Stunden begleitete. Ihr hattet rote Stiefel an den Füßen und wart in Pelze gewickelt, viel zu groß, sodass man Euch kaum noch sehen konnte. Einmal wachte ich auf, sah mich im Zimmer um, schlief dann sofort weiter, weil ich Euere hellen Stimmen noch hören konnte. Ihr hattet Euch in der Nähe einer fahrbaren Bude in den Schnee gesetzt. Feuer flackerten in Fässern. Unweit lag ein Walfisch im Wasser ohne Haut. Über den Flammen schaukelten Pfannen, in welchen menschliche Ohrmuscheln in der Hitze sausten. Das Krachen, das Knistern des knusprigen Fleisches zwischen unseren Zähnen begleitete mich durch den vergangenen Tag, der ein Tag gewesen war, da ich bald stündlich die Gegenwart meiner Wachohren prüfte. Nie zuvor habe ich mir vorzustellen versucht, wie ich selbst oder meine Ohren, – nein, das ist schon eine ganz andere Geschichte, die ich Euch nur dann erzählen werde, wenn Ihr mir schreiben solltet, dass ihr sie unbedingt hören wollt. Euer Louis, gute Nacht!
gesendet am
27.05.2011
8.48 MESZ
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