charlie : 3.12 — Ich stellte mir eine Versuchsanordnung vor. Ich sollte für die Verwirklichung dieser Versuchsanordnung Nahrungsmittel horten, zwei oder drei Enten ( je 1 kg), Maronen ( 1 kg ) , Wasser ( 10 l ), Mandarinen ( 2 kg ), dunkles Brot ( 2 kg ), helles Brot ( 1 kg ), Marmelade ( 0,5 kg ), Kaffee ( 3 Pfund ) und Butter ( 0,5 kg ). Ich würde meine Computermaschinen einer Nachbarin übergeben, mein Festnetztelefon zertrümmern ( ich brauche ohnehin ein Neues ), mein Handy ins Eisfach legen und dort vergessen, weiterhin Filmabspielmaschinen jeder Art aus der Wohnung tragen, auch alle Bücher, aber im Gegenzug einige Tausend Karteikarten auf meinem Küchentisch stapeln. Dann lange Zeit von Stille, Tage der Ruhe und Konzentration, ich sitze oder gehe in der Wohnung unter dem Dach auf und ab, und notiere Wörter. Es geht nämlich darum, alle Wörter meiner Sprache, die ich erinnern kann, aufzuschreiben, je ein Wort auf eine Karte, um herauszufinden, über wie viele Wörter ich verfüge. Mit welchem Wort werde ich beginnen? — stop
Aus der Wörtersammlung: pfund
amsterdam
ai : ägypten
MENSCHEN IN GEFAHR: „Die Frauenrechtlerin Azza Soliman sowie 16 weitere Personen, die bei einem friedlichen Gedenkmarsch Augenzeug_innen einer Tötung durch die Polizei geworden waren, müssen am 4. Juli vor Gericht erscheinen. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe bis zu 50.000 Ägyptischen Pfund (rund 5.800 Euro). Das Gericht ordnete am 13. Juni die persönliche Anwesenheit der Angeklagten bei der Anhörung am 4. Juli an. Die 17 Angeklagten waren am 23. Mai von einem Kairoer Gericht von dem Vorwurf der “Teilnahme an illegalen Protesten” und der “Störung der öffentlichen Ordnung” auf Grundlage des repressiven Demonstrationsgesetzes freigesprochen worden. Drei Tage später legte die ägyptische Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel ein. Die Anhörung am 13. Juni war die erste im Rechtsmittelverfahren. Sie fand vor dem Berufungsgericht Zainhom in Anwesenheit von zwei Prozessbeobachter_innen der Delegation der Europäischen Union in Kairo statt. / Laut dem von Azza Soliman gegründeten Rechtshilfezentrum für ägyptische Frauen Center for Egyptian Women’s Legal Assistance bemerkte das Gericht, dass die Angeklagten bei dieser Anhörung nicht wie vom ägyptischen Prozessrecht vorgesehen vor Gericht erschienen waren. Die Rechtsbeistände der Verteidigung führten an, dass ihre Mandant_innen das Recht hätten, von Rechtsbeiständen vertreten zu werden. Sie haben ihre Mandant_innen instruiert, dass nicht alle von ihnen am 4. Juli erscheinen müssen. / Der Polizeibeamte Yassin Hatem Salahedeen wurde am 11. Juni wegen der Tötung der linksgerichteten Aktivistin und Dichterin Shaimaa Al-Sabbagh zu 15 Jahren Haft verurteilt.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 13. August hinaus, unter »> ai : urgent action
lakritze
MELDUNG. Ein halbes Pfund Lakritze bei El Corte [ Plaça de Catalunya, 14, Barcelona ], damit in der Tüte ist Odile, eine Rose, zwanzigzwölf voller Glück über die Straße gegangen. Kurz darauf in Folge von Meteoriten durchschlagen: Kioskdach, 2 Passeig de Gràcia, 12 Uhr 14, 3 Gramm. Markise, 666 Gran Via de les Corts Catalanes, Erdgeschoss, 12 Uhr 16, 0.8 Gramm. Motorhaube, 67 Carrer del Bruc, 12 Uhr 17, 1.8 Gramm. Jedwede Feuersbrunst wurde gelöscht. — stop
amsterdam
wangenschirm
india : 5.12 — Nehmen wir einmal an, man erkundigte sich, ob ich bereit wäre, mir einen Bildschirm anstatt Wangenhaut auf mein Gesicht verlegen zu lassen, einen hochauflösenden Lichtschirm, sowie einen kleinen Speicher, der unsichtbar in einen meiner Wangenknochen vertieft werden könnte. Welche Filme würde ich selbst auf meinem Gesicht zur Aufführung bringen? Ganz sicher Jim Jarmusch’s Down by law oder Wong Kar Wai’s Melodram 2046. Eine aufregende Idee. Welchen Filmen würde ich wohl begegnen, wenn ich in eine U‑Bahn steige, sagen wir in der Stadt Madrid. Wie wir uns gegenübersitzen und schauen. An der Haltestelle Bilbao wünsche ich auszusteigen, aber eine ältere Dame hält mich an, reicht mir eine Pfundnote, bittet mich dringend, sitzenzubleiben, weil sie noch nicht fertig sei, dieser wunderbare Streifen, den sie noch nie gesehen habe: Paris, Texas. — Existieren vielleicht Menschen auf unserer Erde, die nach ihrer Geburt niemals von einem weiteren Menschen berührt worden sind? — stop
amsterdam
nordpol : 21.36 — Wieder die Wahrnehmung, dass jene Hand auf dem Tisch, die ich als meine Hand erkenne, schon immer in meiner Nähe gewesen ist. Feinste Spuren der Zeit, wie von leichten Winden auf die Haut geworfen. — Zu Amsterdam soll in den späten Nachmittagsstunden der Preis für 100 Gramm gerösteter menschlicher Ohren von 66 auf 58 englische Pfund gesunken sein. Warum? — stop
amsterdam
sierra : 7.05 — Immer wieder wundere ich mich darüber, wie ein Bild, eine Vorstellung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Eindruck haben würde, Arbeit verrichtet zu haben, weitere Bilder erzeugt, Geschichten, Filme, Zeiträume von Abwesenheit. Ich erinnere mich, in einem dieser Räume kürzlich in Amsterdam gewesen zu sein, während ich zur selben Zeit im Zug durch südliche Landschaft reiste. Ich hatte das Bild eines Lädchens vor Augen, in welchem in einer Pfanne menschliche Ohren geröstet wurden. Es roch gut nach gebratenem Fleisch und natürlich frage ich mich, woher ich diese Vorstellung genommen habe. Menschen standen bis auf die Straße hinaus, warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, eine Portion der gerösteten Ohren in einer Papiertüte entgegenzunehmen. 100 Gramm kosteten 72 englische Pfund, vielleicht war es deshalb, in Anbetracht des Preises, so still im Laden, man hörte nur ein Zischen, sobald aus einem Schäufelchen eine weitere Portion Ohren in die Pfanne fiel. Aber draußen auf der Straße war Tumult entstanden. Während die einen sich über den enormen Preis der Ohren beschwerten, waren andere sehr deutlich gegen den Verkauf menschlicher Ohren überhaupt eingestellt. Das sind gezüchtete Organe, sagten sie, sie waren nie an einem menschlichen Kopf befestigt. Andere hingegen empörten sich darüber, dass es doch verrückt sei, für etwas, das niemals echt gewesen war, eine derart exzellente Summe Geldes pro Gramm bezahlen zu müssen. Die einen wie die anderen schienen mir recht zu haben. Fenster gingen zu Bruch, berittene Polizei fegte über eine Brücke. Und wie ich in dieser Weise in einem Zug sitzend einen Film erlebte aus dem Nichts, beobachtete mich ein Freund. Ich bemerkte ihn nicht. Als ich ihm später erzählte, was ich erlebt hatte, sagte er, er habe indessen, in der Beobachtung meiner Person, nicht den geringsten Laut gehört. — stop
echinocereus coccineus xdl — 77
sarajevo
ginkgo : 6.38 — Ich habe diese Geschichte gestern Abend selbst erlebt. Wenn sie mir jemand anderes als ich selbst erzählt haben würde, hätte ich sie vielleicht nicht geglaubt, weil sie schon ein wenig verrückt ist. Die Geschichte beginnt damit, dass ich in einem Café sitze und auf einen jungen Mann warte, der mir etwas erzählen will. Ich bin frühzeitig gekommen, bestelle einen Cappuccino und schalte mein kleines Handkino an, beobachte eine Dokumentation der Arbeit Maceo Parkers in New York, mitreißende Musik, soeben umarmt die Sängerin Kym Mazelle den Posaunisten Fred Wesley, als der junge Mann, den ich erwartete, plötzlich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den kleinen Bildschirm. Sofort kommen wir ins Gespräch. Ich frage ihn, welche Musik er gehört habe, als Kind in der belagerten Stadt Sarajevo. Jedenfalls nicht solche Musik, antwortet er, und lacht, no Funk, wir hatten keinen Strom. Avi ist heute Anfang dreißig, dass er noch lebt ist ein Wunder. Tatsächlich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sarajevo erzählt. Einmal fragte ich ihn, was er empfunden habe, als er von Karadzics Verhaftung hörte. Anstatt zu antworten, perlte in Sekundenschnelle Schweiß von Avis Stirn. Heute schwitzt er schon, ehe er überhaupt zu erzählen beginnt, weil er weiß, dass er gleich wieder berichten wird von den Straßen seiner Heimatstadt, die nicht mehr passierbar waren, weil Scharfschützen sie ins Visier genommen hatten. Man schleuderte Papiere, Zigaretten, Brote, Wasserflaschen in Körben von einer Seite der Straße zu anderen. Diese Körbe wurden nicht beschossen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er nicht verstehen konnte, was mit ihm und um ihn herum geschah, auch dass ein Holzsplitter sein linkes Auge so schwer verletzte, dass er jetzt ein Glasauge tragen muss, das so gut gestaltet ist, dass man schon genau hinsehen muss, um sein künstliches Wesen zu erkennen. Er sagt, er könnte, wenn ich möchte, das Auge für mich herausnehmen. Aber das will ich nicht. Ich erzähle ihm, dass ich damals, als er klein gewesen war, jeden Abend Bilder aus Sarajevo im Fernsehen beobachtet habe. Was das für Bilder gewesen seien, will Avi wissen. Ich sage: Das waren Bilder, die rennende Menschen zeigten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fernsehen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und überall passierte. Und diese Geräusche. Plötzlich nimmt der junge Mann mein kleines Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopfhörer in seine Ohren ein, hört Maceo Parker, Kim Macelle, Fred Wesley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhythmus der Musik mit dem Kopf. Ein Wispern. — stop