Aus der Wörtersammlung: rachen

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nachtfeuer

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gink­go : 2.33 UTC — Ich wähl­te mei­ne eige­ne Tele­fon­num­mer, ich woll­te mich in die­ser Wei­se erkun­di­gen, ob mei­ne Woh­nung noch exis­tier­te. Ich dach­te, wenn mei­ne Woh­nung viel­leicht unter Was­ser stün­de oder in Brand gera­ten sei, da wäre auch mein Tele­fon selbst schwer betrof­fen, dem­zu­fol­ge müss­te, wenn mein Tele­fon sich mit einem lang­sa­men Frei­zei­chen mel­den wür­de, eine Aus­sa­ge mög­lich sein wie die­se in etwa: Weder Was­ser, noch Feu­er! Ich lausch­te ein oder zwei Minu­ten jenem beru­hi­gen­den Ton­zei­chen, plötz­lich aber mel­de­te sich eine Stim­me: Ja bit­te? Das war nun mei­ne eige­ne Stim­me gewe­sen, die sich mel­de­te und behaup­te­te, gera­de erst auf­ge­wacht zu sein. Es ist noch Nacht, sag­te mei­ne Stim­me, und ich sag­te noch, Du hörst Dich an, als wäre ich es selbst, der sich mel­de­te. Kann ich nur bestä­ti­gen, ant­wor­te­te die Stim­me, die mei­ne Stim­me zu sein schien, das machst Du sehr gut! Ist alles in Ord­nung, frag­te ich? Ich habe über­legt, ob viel­leicht ein Brand aus­ge­bro­chen sein könn­te wegen Ver­gess­lich­keit, oder Was­ser bis an die Decke wegen Ver­gess­lich­keit. Eini­ge Minu­ten lang spra­chen wir noch über das Wet­ter, es reg­ne­te da und dort, und dar­über, dass wir viel­leicht nicht ganz wach gewe­sen waren, als wir tele­fo­nier­ten. — stop

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kleiner mann

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nord­pol : 18.16 UTC — Eine Samm­lung von Ker­zen am Ende eines Bahn­stei­ges, Samm­lung von Rosen, Nel­ken, Tul­pen, hun­der­te Sträu­ße und Brie­fe in allen mög­li­chen Far­ben und Spra­chen: Mach’s gut, klei­ner Mann! Immer wie­der die­ser Satz, es leuch­tet auch am Tag, und Men­schen erschei­nen oder blei­ben ste­hen. Sie sind still, weil ein Kind von einem Zug über­fah­ren wur­de, weil ein ver­wirr­ter Mann das Kind vor einen Zug gesto­ßen hat­te, ein Mann, der in Afri­ka gebo­ren wur­de, wes­we­gen auch sehr böse Per­so­nen immer wie­der ein­mal böse Sät­ze über Haut­far­ben und Men­schen aus der Frem­de sagen. Meist aber ist es still, auch des­halb, weil die Foto­ap­pa­ra­te heut­zu­ta­ge Tele­fo­ne sind, die sich auch wie Foto­ap­pa­ra­te beneh­men, man hört nicht, wenn sie das Licht ein­fan­gen. Es wird viel foto­gra­fiert, viel­leicht weil es hier berührt, hun­der­te Ted­dy­bä­ren. Eine Frau, sie trinkt aus einer klei­nen Fla­sche Cognac, neben ihrem Roll­stuhl kau­ert ein Hund. Die Frau sieht elend aus, weint: Das arme Kind, sagt sie, und dass die hier foto­gra­fie­ren, das auch noch. Furcht­bar ist das. Dann fährt sie davon, sehr dicht an der Bahn­steig­kan­te ent­lang, Tage spä­ter ist vor Ort nichts mehr zu sehen, aber die Bil­der in digi­ta­len Kam­mern, auch vom Jun­gen, vom klei­nen Mann, ein Bild, eine Fäl­schung. — stop
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wildnis

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india : 8.15 UTC — Ein­mal, und in der ver­gan­ge­nen Nacht wie­der, im Traum eine Not­la­dung nach einem Flug dicht über das Was­ser hin über den Atlan­tik in einer Wild­nis vor New York. Wir wer­den eva­ku­iert, ich ver­ges­se im bren­nen­den Flug­zeug Kof­fer und Papie­re. Bin plötz­lich ein Nie­mand, einer, der in einem Bett liegt, in einem Zim­mer, in wel­chem sich Men­schen vor Bil­dern bewe­gen, die sie betrach­ten und bespre­chen. Auch ich bin ein Bild, wer­de dis­ku­tiert, darf mich nicht bewe­gen, kann Sprech­spra­chen nicht ver­ste­hen. — stop

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im juli

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echo : 0.10 UTC — Ein­mal, vor einem Jahr prä­zi­se, ging ich im Haus der alten Men­schen her­um. Da waren geöff­ne­te Türen, und da schau­te ich hin­ein in die Zim­mer. Ich beob­ach­te­te einen alten Mann, der vor sei­nem Roll­stuhl knie­te, und eine alte Dame mit schloh­wei­ßem Haar, die lag wie ein Mäd­chen mit weit von sich gestreck­ten Armen und Bei­nen im Bett wie in einer Som­mer­wie­se. An einem wei­te­ren Tag beob­ach­te­te ich ein Bett, in des­sen Kis­sen­tie­fe ein klei­ner Mensch ruhen muss­te. Nur Hän­de waren von ihm zu sehen, die sich beweg­ten, die Schat­ten war­fen, die spiel­ten oder mit der Luft spra­chen Stun­de um Stun­de, Tag für Tag. — Und jetzt ist ein Jahr spä­ter gewor­den, es ist Novem­ber, es ist Zeit zu berich­ten, dass der klei­ne unsicht­ba­re Mensch im August gestor­ben ist. Viel­leicht ist er an den Wir­kun­gen der Zeit gestor­ben oder aber in sei­nem Bett an den Fol­gen eines ohren­be­täu­ben­den Lärms, der auf ihn ein­wirk­te mona­te­lang, weil man das Haus über ihm um ein Dach­ge­schoss erwei­ter­te, wäh­rend er noch immer in sei­nem Bett lag. Aber das ist natür­lich nur eine Ver­mu­tung öder eine Befürch­tung oder eine Behaup­tung, nichts wei­ter. — stop

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mercato

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echo : 22.08 UTC — Immer der Nase ent­lang spa­zier­te ich zum Markt, wo nach­mit­tags See­mö­wen stol­zier­ten über den Boden, den sie längst so gründ­lich durch­sucht hat­ten, dass Fisch gera­de noch als Erin­ne­rung feins­ter Mole­kü­le in der Luft zu fin­den war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaun­lich. In die­sem Augen­blick erin­ner­te ich mich an einen frü­hen Mor­gen vor vie­len Jah­ren. Ich trat damals zur Zeit der Däm­me­rung auf den Mar­kus­platz. So dicht ruh­te Nebel über der Lagu­ne, dass ich nur weni­ge Meter weit sehen konn­te. Ich ging sehr vor­sich­tig vor­an. Vor irgend­ei­nem Kaf­fee­haus hielt ich an, setz­te mich auf einen Stuhl und war­te­te. Irgend­wo im Luft­was­ser­zim­mer, in dem ich Platz genom­men hat­te, hör­te ich Stim­men von Män­nern, die mit­ein­an­der spra­chen. Auch waren immer wie­der Pfif­fe zu hören, wie Rada­re oder Signal­tö­ne. Es waren Män­ner mit ver­mut­lich Rei­sig­be­sen, die den rie­si­gen Platz Kraft ihrer Arme und Hän­de feg­ten. Auch Melo­dien waren zu hören gewe­sen. Ich war­te­te unge­fähr eine Stun­de und lausch­te. Nie habe ich einen die­ser Män­ner gese­hen, aber ich habe von ihnen viel­fach erzählt. Es scheint über­haupt die Zeit, da man sich in Vene­dig noch ver­lau­fen konn­te, vor­über zu sein für alle Men­schen, die über eine Schreib­ma­schi­ne mit GPS-Ver­bin­dung ver­fü­gen. Es ist, glaubt mir, ein Ver­gnü­gen, die­se Radar­schreib­ma­schi­ne aus­zu­schal­ten und los­zu­ge­hen und nach da und dort zu lau­fen, stets in dem Glau­ben, man wüss­te, wo man sich befin­det. Es bleibt dann nichts wei­ter zu tun, als nach einer hal­ben Stun­de die Schreib­ma­schi­ne her­vor­zu­ho­len und nach­zu­se­hen und sich zu wun­dern und zu freu­en. — stop
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luftsprache

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alpha : 22.12 UTC – Ich spa­zier­te im Haus der alten Men­schen. Da waren geöff­ne­te Türen, und da schau­te ich hin­ein in die Zim­mer. Ich beob­ach­te­te einen alten Mann, der vor sei­nem Roll­stuhl knie­te, und eine alte Dame mit schloh­wei­ßem Haar, die lag wie ein Mäd­chen mit weit von sich gestreck­ten Armen und Bei­nen im Bett wie in einer Som­mer­wie­se. Ein­mal beob­ach­te­te ich ein ande­res Bett, in des­sen Kis­sen­tie­fe ein klei­ner Mensch ruhen muss­te. Nur Hän­de waren von ihm zu sehen, die sich beweg­ten, die Schat­ten war­fen, die spiel­ten oder mit der Luft spra­chen Stun­de um Stun­de, Tag für Tag, Jahr ver­mut­lich um Jahr. — stop

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halsposaune

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alpha : 15.12 — Es ist Frei­tag. Seit einer hal­ben Stun­de ver­harrt der Hilfs­po­li­zist Tho­mas Lie­ber­mann an der Cen­tral­sta­ti­on vor dem Gleis 8 völ­lig bewe­gungs­los, weil ihm ein sehr klei­ner Mann begeg­net war, der über Fähig­kei­ten ver­füg­te, die Herr Lie­ber­mann nicht vor­her­se­hen konn­te. Es war näm­lich so gewe­sen, dass er die­sen klei­nen Herrn kon­trol­lie­ren, das heißt prä­zi­se, den klei­nen Mann aus der Hal­le des Bahn­ho­fes ent­fer­nen woll­te, weil der klei­ne Herr sehr ärm­lich geklei­det war und außer­dem schmut­zig und ver­letzt durch eine Wun­de an der lin­ken Wan­ge, die nicht sehr gut, viel­mehr äußerst schreck­lich wirk­te. Sie beweg­te sich näm­lich, irgend­et­was in der Wun­de beweg­te sich. Nun ließ sich der klei­ne Herr, der einen schä­bi­gen, blau­en Kof­fer auf den Boden abge­stellt hat­te, nicht bewe­gen in Rich­tung des Aus­gan­ges zu gehen. Er sah Herrn Lie­ber­mann statt­des­sen mit einem fes­ten Blick ent­ge­gen, weil er der fes­ten Über­zeu­gung gewe­sen zu sein schien, dass er sich nicht oder nicht auf Befehl hin auf den Weg machen wür­de hin­aus in die Käl­te. Kurz dar­auf öff­ne­te der alte Mann sei­nen Mund. In die­sem Augen­blick erkann­te Hilfs­po­li­zist Tho­mas Lie­ber­mann, dass er etwas Außer­ge­wöhn­li­ches erleb­te. Denn in den Rachen des Man­nes tief im Schlund war, nun­mehr gut sicht­bar, der Klang­trich­ter einer klei­nen Posau­ne ein­ge­las­sen. Von dort her war unver­züg­lich ein sono­rer Ton zu hören, der die Hal­le erbe­ben ließ, sowie Herrn Lie­ber­mann in einen Zustand der Erstar­rung ver­setz­te. Das war vor einer hal­ben Stun­de gewe­sen, aber das erzähl­te ich bereits. Auch drei Tau­ben lie­ßen ihr Leben. — stop
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von kevin und liesl im zug

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tan­go : 22.52 UTC — Ich hör­te, er hei­ße Kevin. Er sag­te, er sei ohne Dach über dem Kopf. Auch im Som­mer oder im Herbst sei das Leben nicht leicht, im Som­mer habe er viel Durst, im Herbst fürch­te er sich vor dem Win­ter. Er wür­de gern sei­ne Geschich­te erzäh­len, war­um er so arm gewor­den sei, dass er kei­ne Woh­nung habe und nichts zu essen. Wenn Kevin spricht, ist sei­ne Stim­me sehr schön anzu­hö­ren. Es ist eine Stim­me, die gut sin­gen könn­te, ein Tenor viel­leicht. Nur das mit Kevins Geschich­te ist so eine Sache, ich höre Kevins Lebens­ge­schich­te seit Anfang des Jah­res im Mor­gen­schnell­zug zum Flug­ha­fen immer wie­der. Ich soll­te sagen, Kevin erzählt täg­lich eine ande­re Geschich­te, er ist im Grun­de ein guter Erzäh­ler, und auch ein guter Erfin­der. Im Win­ter erzählt er Win­ter­ge­schich­ten, im Som­mer Som­mer­ge­schich­ten. Ges­tern wur­de Kevin von einer jun­gen, mage­ren Frau beglei­tet. Sie war sehr schmut­zig. Kevin erzähl­te ihr, dass ich ihm manch­mal etwas Geld geben wür­de oder eine Bre­zel, auch dass ich auf­schrei­ben wür­de, was er berich­te. Sie setz­ten sich neben mich. Die jun­ge Frau sag­te: Wenn man träumt ist man im Inne­ren wach und warm. Am Flug­ha­fen stie­gen bei­de mit mir aus. Wir spra­chen eine hal­be Stun­de. Der Bahn­hof war wie­der ein­mal undicht. Regen kam von der Decke. Das Licht war teil­wei­se aus­ge­fal­len, an den Wän­den saßen ein paar dicke Krö­ten. Sie schnapp­ten mit arm­lan­gen Zun­gen nach Tau­ben, die über den Bahn­steig segel­ten. Ich hör­te, das Kno­chen­ge­spenst an Kevins Sei­te soll Lie­se­lot­te hei­ßen, sehr selt­sam die­ser Name für eine recht jun­ge Per­son. Ich erfuhr, dass sie Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten in Lon­don stu­dier­te, sie mag gern lesen, aber sie kom­me nicht dazu, weil sie das Bild ihres Vaters in sich tra­ge, der immer­zu betrun­ken war, ein schmer­zen­des Bild, das hell vor ihr leuch­te. Ich weiss jetzt, Bil­der eines betrun­ke­nen Vaters zu ver­dun­keln, erfor­dert unge­heue­re Kraft und Aus­dau­er. Lie­se­lot­te kann des­halb seit einem Jahr­zehnt nicht schla­fen. Sie mag Kevin, der so schö­ne Geschich­ten erzählt, dass sie bei­de von sei­nen Geschich­ten ein wenig wei­ter­le­ben kön­nen. Es ist jetzt Abend. — stop

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nach dem zug

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echo : 22.02 UTC — Men­schen, die glück­li­che Men­schen sind, gehen im Grun­de zunächst davon aus, dass sie von ande­ren Men­schen ver­stan­den, prä­zi­se, dass sie nicht miss­ver­stan­den wer­den, ich mei­ne in dem Sin­ne, dass Ver­stän­di­gung mög­lich ist, ent­we­der sofort, auf der Stel­le noch, oder mit­tels einer Nach­fra­ge kon­struk­ti­ve Ver­stän­di­gung letzt­end­lich gelingt, sagen wir Zivi­li­sa­ti­on, die nun auch in Mit­tel­eu­ro­pa bedroht wird von Per­so­nen, die auf ihr Land stolz sein wol­len in einer Wei­se, die Men­schen frem­der Spra­chen her­ab­setzt. — Am Mari­en­platz ver­liess ich den Zug. Ich stand unter War­ten­den, war­te­te selbst, beob­ach­te­te den Bahn­steig, auf dem war­ten­de Men­schen sich dräng­ten. Sie stan­den sehr nahe an der Bahn­steig­kan­te. Als der Zug ein­fuhr, dach­te ich, wäre ich ein Lok­füh­rer, wür­de ich in die­ser Situa­ti­on mei­ne Augen schlie­ßen. — stop

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korken

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del­ta : 0.15 UTC — Das waren Zei­ten, als wir noch Kin­der waren, die unter frei­em Him­mel mit Flug­dra­chen spiel­ten. Wie wir durch die Wäl­der kro­chen, um Kno­chen zu sam­meln. Ein Bild zeigt mich in kur­zen Hosen, wie ich einen Erd­ap­fel über offe­nes Feu­er hal­te, ich sam­mel­te Brief­mar­ken, Schmet­ter­lin­ge, Stei­ne und Kron­kor­ken, liess Seil­bah­nen über Bind­fä­den fah­ren von Haus zu Haus. Heu­te sam­me­le ich ger­ne Geschich­ten von Kie­men­men­schen, höl­zer­ne Ele­fan­ten oder Mari­en­kä­fer, die nachts schla­fend an war­men Lam­pen­schir­men sit­zen. — stop

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