zoulou : 18.07 UTC — Ein Freund erzählte von einer Rede, die er an einem späten Sommerabend auf einem Anrufbeantworter vorfand, als er nach Hause gekommen war. Diese kleine liebevolle Rede war von seiner sterbenskranken Frau kurz vor ihrem Tod im Hospital für ihren geliebten Mann gesprochen worden, während er gerade auf dem Fahrrad von ihr zurück nach Hause fuhr. Es hatte geregnet. Er saß in der Küche im letzten Licht des Tages. Er erzählte, er habe lange Zeit geweint, sich die Rede immer wieder angehört, dann beschlossen, die Stimme seiner geliebten Frau mittels eines Tonbandes aufzunehmen. Irgendetwas muss kurz darauf geschehen sein, wovon er nicht berichten wollte. — stop
Aus der Wörtersammlung: sommer
abend mit fliege no 1
alpha : 22.45 UTC — Seltsam ist das mit den Fliegen geworden, den Faltern, den Käfern. Früher noch an warmen Sommerabenden, sobald ich meine Fenster öffnete, waren unverzüglich, als hätten sie gewartet, dutzende Tiere in meine Wohnung geflogen, saßen auf und in Lampenschirmen, spazierten über Bildschirme der Schreibmaschinen und des Fernsehgerätes, hockten an den Wänden, besuchten meine unbekleideten Beine und Arme, Stirn auch und meine Hände, während sie mit den Tasten arbeiteten. Auch an diesem Abend könnten sie mich besuchen, es scheint jedoch, als wäre niemand da draußen oder nur sehr wenige Käfer, die Marienkäfer sind. Wenn ich an diesem Abend von einem Zimmer ins andere gehen würde, indessen eine Fliege mich in Kopfhöhe begleitete, wäre sie in genau dem Augenblick, da ich ihre Existenz mit meinen Wörtern verzeichne, eine erfundene Fliege. — stop
papiere körper
echo : 0.14 UTC — Unlängst entdeckte ich in der digitalen Sphäre ein Buch des amerikanischen Autors David Foster Wallace. Ich dachte, dieses Buch ist sehr umfangreich, schwer, vermutlich und verletzlich. Ich dachte außerdem, dass Sommer geworden ist, dass ich das Buch möglicherweise gerne in einem Park lesen würde, auf einer Bank sitzend oder im Gras liegend. Plötzlich kaufte ich eine elektronische Ausgabe des Romans Unendlicher Spaß, dessen Instanz wenige Sekunden später vollständig auf meiner kleinen, flachen Schreibmaschine angekommen war. Sehr erstaunlich, wie schnell das geht, geräuschlos, so die Anlieferung der vollständigen Werkausgaben Anton Tschechows, Franz Kafkas, Flaubert’s wenige Wochen zuvor. Nun ist das so, dass ich spürte, dass etwas fehlt, obwohl ich einen komplexen Text übermittelt bekommen, also zugenommen habe, meine Bibliothek, die Auswahl meiner Bücher, Wörter, Gedanken, die ich in meinem Zimmer auf und ab gehend sofort in die Hand nehmen und mir vor Augen halten könnte. Ich glaube, ich werde mir ein Stück Holz suchen, oder einen kleinen Karton, den ich beschriften könnte, um ihn stellvertretend in mein Regal zu stellen zu weiteren Büchern, die noch tatsächlich papierene Persönlichkeiten sind. — stop
nachtbienen
sierra : 10.02 UTC — Morgens höre ich in meiner Vorstellung wie das Radio angeschaltet wird unten im Wohnzimmer, unten in der Küche. Eine Stimme erzählt von Pablo Neruda. Die Stimme wird immer wieder von Musik unterbrochen, von feiner indianischer Musik. Das sind Geräusche wie früher, sehr viel früher noch, Geräusche einer Verbindung zur Welt, die sich fortsetzt. Weil Sommer ist, blühen im Garten Tulpen, rot, gelb, blau, orange. Man müsste einmal Blumen erfinden, die nachts ihre Blüten öffnen und leuchten, Nachtbienen, Nachtlibellen, Nachtwespen, Nachthummeln. — stop
bonsaimenschen
schildkrötengeschichte
india : 15.03 UTC — Vor wenigen Stunden war ich im Stadtwald spazieren. Ich ging um einen Teich herum, in dem Schildkröten unter der Wasseroberfläche gegeneinander kämpften. Plötzlich hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand möchte Dich wecken. Und ich dachte, Du kennst diese Geschichte, das hast Du schon einmal geträumt. Du musst zunächst versuchen, wach zu werden, dachte ich. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich wanderte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich bemerkte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop
ameisengesellschaft LN — 1722
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 1722 [ Stöpselkopfameise : Colobopsis truncatus ] Position 47°81’N 12°48’O nahe Übersee / Folgende Objekte wurden bei sommerlichen Temperaturen am 12. September des vergangenen Jahres von 16.00 — 18.02 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : einhundertzweiunddreissig trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], elf Baumstämme [ à 8 Gramm ], achtzehn Raupen in Grün, vier Raupen in Orange, zweiundsiebzig Insektenflügel [ vermutlich der Gattung der Birkenspanner ], siebzehn Streichholzköpfe [ à ca. 1.8 Gramm ], fünfzehn schwarzbäuchige Taufliegen der Drosophila melanogaster in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 34 Gramm aus vergangenem Jahr ], enhundertundeins Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], achtzehn gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], achtundachtzig Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], acht ovale Kamoenwandkäfer [ vergoldet ], zwei Aaskugeln eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, vierundvierzig Wildbienen, ein lego-Feuerwehrmann mit Helm [ in rot ] je 8.012 Gramm. — stop
auf dem friedhof
bamako : 20.16 UTC – Es war im Traum ein Sommerabend, schon Dämmerung. Ich spazierte über einen vertrauten Friedhof. Vertraut der Friedhof darum, weil ich schon als Kind dort gewesen war. Auf dem Friedhof lagen viele Menschen in den Gräbern, die ich, das Kind, noch kannte, da waren sie sehr lebendig und mächtig, weil eben erwachsen gewesen. Nun waren sie tot und dringend auf Hilfe angewiesen. Im Traum waren plötzlich Lichter in der Luft, sie kamen vom Westen her angeflogen, verteilten sich über den Kronen der alten Bäume, um kurz darauf langsam abzusteigen. Ich saß im Traum am Grab meiner Eltern, beobachtete aus nächster Nähe, wie sich eine Drohne näherte. Über einem Plateau von Handtellergröße hielt sie inne. Die Drohne summte sehr schön. Bald öffnete sich ihr transparenter Leib, die Drohne setze behutsam mittels einer Greifhand von blitzendem Metall ein Teelicht ab. Kurz darauf schloss sich ihr Bauch und sie flog schnell davon, auch Hunderte weiterer Drohnen summten da und dort. Licht nun über und unter den Bäumen. — stop
eine stimme
sierra : 14.15 UTC — Regen und Sonntag. Ich hatte Mutter angerufen. Sie war unterwegs gewesen, vielleicht im Garten, vielleicht in den Bergen. Nach 10 Sekunden schaltete sich der Anrufbeantworter an. Eine Stimme, die die Stimme Mutters war, meldete vertraut: Hier ist der Anschluss von Paula und Jürgen. Ich sagte sofort meinen kleinen Spruch auf: Hallo, seid Ihr Zuhause? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es regnet. Als mein Vater gestorben war, hatte ich immer wieder einmal gedacht, wie seltsam ist, dass meine Mutter, solange sie nicht bei sich selbst anrufen wird, nicht bemerken würde, dass ihre Begrüßung anrufende Freunde irritieren könnte. Ich überlegte, ob ich Mutter nicht vielleicht bei Gelegenheit darauf aufmerksam machen sollte, dass wir eine weitere Tonbandaufnahme anfertigen könnten. Der Eindruck unverzüglich, ich würde meinen Vater durch diese Handlung distanzieren, einen Geist hinauswerfen aus dem Haus, in dem er weiterlebt, in seinen Spuren, in unseren Erinnerungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Computer. Und da sind seine Gartenschuhe, seine Schallplatten, seine Bücher und im Teich werden bald wieder Rosen blühen, Seerosen, weiß und rosa, die vor langer Zeit einmal von seiner Hand ins Wasser gesetzt worden waren. Ja, so war das gewesen. Heute wieder Regen und Sonntag. Und da sind nun Mutters Sommerschuhe verwaist und ihre Winterstiefelchen neben der Tür zum Garten. In einer Schublade in der Küche werde ich bald Mutters Bleistifte finden und Mutters Brillen und Rezepte von eigener Hand für Kuchen und Plätzchen für das Weihnachtsfest vor zwei Jahren. In einer weiteren Schublade ruhen ihr Reisepass, ihr Geldbeutel, ihr Telefonbuch, Broschen und Wanderkarten durch die Wälder am See. Und da ist ihre helle Stimme, ich weiß, dass sie im Telefon zu warten scheint, eine Stimme, die noch möglich ist. — stop
schlafende mutter
delta : 22.02 UTC — Wie viele Tage schon sitze ich an Deinem Bett, liebe schlafende Mutter, Stunde um Stunde. Immer wieder denke ich, wie schwer es doch ist, zu einem Menschen zu sprechen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Hör zu, ich werde Dir eine Geschichte vorlesen, die ich Dir schon einmal las vor über einem Jahr. Einen Winter und einen Frühling und einen Sommer lang warst Du aufgewacht, um nun wieder zu schlafen. Ich ahne, dass Du meine Stimme hören kannst, ich habe gelernt. Erinnerst Du Dich an meine Geschichte, die von Deinen Brillen erzählt: Es war noch dunkel im Haus. Ich hörte ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch näherte sich, es kam über die Treppe abwärts heran. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine Deiner drei Brillen, liebe Mutter, die über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen durch die Luft zu bewegen, durch Räume oder den Garten. Deine Brille kam näher, durchquerte das Wohnzimmer, kreiste einmal um meinen Kopf, landete schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem Du, wie ich vergeblich hoffte, einmal wieder Platz nehmen würdest. Über drei Brillen verfügtest Du, liebe Mutter, und jede dieser Brillen konnte fliegen. Eine Brille stationierte im Dachgeschoss, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte Deiner Brillen, liebe Mutter, zu ebener Erde. Wie sie blinkten, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels unhörbarer Funksignale orientierten. Jetzt liegen sie auf dem Tischchen reglos neben Deinem Bett, als würden sie schlafen wie Du, liebe Mutter. – stop