india : 22.58 UTC — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete einmal ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüßte, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf dem Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in demselben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
Aus der Wörtersammlung: sommer
im juli
echo : 0.10 UTC — Einmal, vor einem Jahr präzise, ging ich im Haus der alten Menschen herum. Da waren geöffnete Türen, und da schaute ich hinein in die Zimmer. Ich beobachtete einen alten Mann, der vor seinem Rollstuhl kniete, und eine alte Dame mit schlohweißem Haar, die lag wie ein Mädchen, mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen im Bett wie in einer Sommerwiese. An einem weiteren Tag beobachtete ich ein Bett, in dessen Kissentiefe ein kleiner Mensch ruhen musste. Nur Hände waren von ihm zu sehen, die sich bewegten, die Schatten warfen, die spielten oder mit der Luft sprachen, Stunde um Stunde, Tag für Tag. — Und jetzt ist ein Jahr später geworden, es ist November, es ist Zeit zu berichten, dass der kleine unsichtbare Mensch im August gestorben ist. Vielleicht ist er an den Wirkungen der Zeit gestorben oder aber in seinem Bett an den Folgen eines ohrenbetäubenden Lärms, der auf ihn einwirkte monatelang, weil man das Haus über ihm um ein Dachgeschoss erweiterte, während er noch immer in seinem Bett lag. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung öder eine Befürchtung oder eine Behauptung, nichts weiter. — stop
unter freiem himmel
sierra : 15.08 — Ich spazierte im Park. Und wie ich so spazierte, dachte ich, vielleicht bist Du schon 5105 Male durch diesen Park spaziert, warum nicht. Da entdeckte ich plötzlich, dass jeder der Bäume des Parks zwei Meter über dem Boden ein Schildchen trug an seinem Stamm. Zunächst entdeckte ich ein Schildchen am rauen Stamm einer Spottnuss. Auf dem Schildchen waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen verzeichnet, das könnte ein Code sein, dachte ich, dann ging ich weiter, um an dem Stamm einer Eibe ein ähnliches Schildchen zu bemerken. Wieder waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen auf grünem Hintergrund aufgetragen. Eine Stunde lang betrachtete ich Stämme der Bäume des Parks, Stämme der Rotbuchen, Birken, Zwergnusskastanien, Erlen, Eichen und eines gewöhnlichen Trompetenbaums, sie alle waren mit einem Schildchen von Metall versehen, Ziffern, einem Schatten demzufolge, einem besonderen Blick. Vermutlich, dachte ich, wird irgendwo ein Buch oder ein digitales Verzeichnis existieren, in dem die Existenz der Bäume festgehalten ist, ihre Namen möglicherweise und ihr Alter, vielleicht auch, wie sich die Bäume benehmen im Winter und im Sommer. Zuletzt dachte ich, dass ich eventuell durch ein Museum spaziere. Das denke ich noch immer. Winter ist geworden. — stop
palanca
echo : 22.52 UTC — Abends von der Vaporettostation Palanca her die Küste nach Zitelle spaziert, dann wieder ein kleines Stück zurück. Es ist bald spät geworden, kurz nach 10 Uhr. Langsam, von Schleppern gezogen, bewegt sich in diesem Augenblick das Personenfrachtschiff Queen Mary 2 durch den Giudecca Canal ostwärts in Richtung des offenen Meeres. Da stehen Menschen weit oben an Deck hinter der Reling, die so klein sind, dass man, ohne ein Fernrohr zu verwenden, nicht zu erkennen vermag, ob sie vielleicht winken, man könnte sie für armlose Wesen halten. Weit links, zur Seite gerückt in den Schatten einer Brüstung, hockt auf einer Stufe der Steintreppe zur Chiesa del Santissimo Redentore hinauf, eine junge Frau, die etwas durcheinander zu sein scheint. Da ist ein Koffer, geöffnet. Sie hat den Inhalt des Koffers, Kleider, Schuhe, einen blinkenden Kamm, und Blusen, auch einen Sommerhut, um sich herum ausgebreitet. Sie sitzt dort im Kreis ihrer Besitztümer wie in einem Nest, trinkt aus einer Flasche Wein, und flucht mittels italienischer Sprache zu dem Schiff hinauf, dass es eine wahre Freude ist. Man wird sie dort oben in der Ferne kaum hören, nur ich vermutlich, der in ihrer Nähe hockt und das Wasser beobachtet, das dunkel schimmert. Es die Zeit der Flut bereits. Das Wasser berührt die Kronen der Quais, da und dort geht es an Land, um über das uralte Pflaster zu züngeln. Eine Gruppe von Ameisenschatten passiert mich westwärts, eine halbe Stunde später kommen sie mit ein paar Brosamen zurück. Beständiges Brummen. Gestern war ein sonniger Morgen gewesen, da wurde ich von einem hellen Pfeifen geweckt. Ich öffnete das Fenster, eine Frau grüßte vom gegenüberliegenden Haus herüber, sie brachte an einem Seil, das ein Rädchen an der Fassade meines Hauses bewegte, gerade feuchte Tücher aus, so haben wir Kinder noch Seilbahnen von Haus zu Haus gezogen. — stop
sommerhüte
alpha : 2.08 UTC — An einem warmen Sommerabend warten Menschen vor einem Markt auf Bänken. Einer nach dem anderen tritt in den Laden und kommt bald je mit einer Wassermelone zurück. Man sitzt dann wieder auf der Bank, halbiert die kühle Frucht, löffelt sie aus und setzt sich das Schalengehäuse auf den Kopf. So geschehen in einer mitteleuropäischen Stadt an einem Samstag gegen zehn Uhr am Abend. — stop
papiere
delta : 22.58 UTC — In diesem Moment, da die Temperatur der Luft 38 °C erreicht, darf ich einen Text zitieren, den ich vor Jahren bereits notierte. Er handelt von Eispapieren und von einem besonderen Kühlschrank, den ich damals in Empfang genommen hatte, von einem Behälter enormer Größe. Ich schrieb, ich wiederhole, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollte ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen, man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop
radar
juliett : 0.08 UTC — Wenn die alte Dame, sie trägt einen Sommerhut auf dem Kopf, in ihrem Rollstuhl sitzend erwacht und ihre flinken Augen öffnet, fragt sich alle Welt, was sie wohl sehen und denken mag. — stop
von grammophonen
marimba : 18.52 UTC — Einmal gehe ich im Traum eine Straße spazieren. Da und dort Warenhäuser und Läden, schön warm beleuchtet, seltsamerweise ohne Ausnahme Schallplattenläden. Grammophone sind zu erkennen, ganz alte Kisten. Plötzlich kommt mein Bruder auf einem Fahrrad vorbei, kurz darauf Vater im Rollstuhl sehr kraftvoll. Er leuchtet vor Begeisterung, diese Geschwindigkeit, er ist ungeheuer geschickt mit seinem Stuhl. Der Rollstuhl ist von Kirschbaumholz, er blüht. Bald sind Vater und Bruder in einer Seitenstraße verschwunden. — Kurz nachdem ich erwacht war, erzählte ich Mutter meinen Traum, er gefiel ihr. Jetzt sitzt sie selbst im Rollstuhl. Wenn dieser, ihr kleiner Rollstuhl doch nur blühen würde, es ist Mai, sie trägt einen Sommerhut und schläft. — stop
luftsprache
alpha : 22.12 UTC – Ich spazierte im Haus der alten Menschen. Da waren geöffnete Türen, und da schaute ich hinein in die Zimmer. Ich beobachtete einen alten Mann, der vor seinem Rollstuhl kniete, und eine alte Dame mit schlohweißem Haar, die lag wie ein Mädchen, mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen im Bett wie in einer Sommerwiese. Einmal beobachtete ich ein anderes Bett, in dessen Kissentiefe ein kleiner Mensch ruhen musste. Nur Hände waren von ihm zu sehen, die sich bewegten, die Schatten warfen, die spielten oder mit der Luft sprachen, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr vermutlich um Jahr. — stop
gregorina
delta : 8.02 UTC — Ich hörte im Radio heute Morgen, in Finnland soll einfach nur anwesend zu sein bereits als Kommunikation wahrgenommen werden. — Vor den Fenstern im Süden fällt Schnee. Im Haus der alten Menschen läuft ein Mädchen herum, das Gregorina heißt. Sie ist tatsächlich anwesend im Kopf einer alten Dame, sie läuft über die Flure von Zimmer zu Zimmer. Plötzlich ist Sommer geworden, in den Zimmern blühen Apfelbäume, und das kleine Mädchen, das 70 Jahre alt geworden sein muss, hüpft herum und singt, weshalb die alte Dame, die Gregorina wahrnehmen kann, und auch die Apfelbäume, voller Glück ist, weil Gregorina zu Besuch gekommen. Sie sagt: Schau, ist das nicht wunderbar, sie ist noch immer so wie damals, Gregorina. Gut, dass wir die Apfelbäume hereingeholt haben. Es ist kalt draußen, glaube ich. Komm, ich will aufstehen. — stop