echo : 20.55 UTC – In einem Park beobachtete ich einen Mann, der einem Roboter folgte. Es war ein warmer Tag. Die Maschine in der Größe eines Staubsaugers rollte über den Rasen, wohl in dem Auftrag, das Gras zu schneiden. Der Mann bewegte sich in derselben Geschwindigkeit leicht versetzt hinter dem Roboter, umkreiste in dieser Weise Bäume in einem engen Bogen, um bald wieder den Horizont ins Auge zu fassen. Der Roboter fuhr so lange Zeit schnurgerade weiter, bis er auf einen Weg traf, also auf Gelände ohne Grasnarbe. Dort drehte er auf der Stelle um und fuhr in einem zufälligen Bogen zurück über die Rasenfläche hin. Leichtbekleidete Menschen waren zu sehen, wie sie den Roboter fixierten. Sobald sich das kleine Wesen einer dieser liegenden Personen näherte, wurden leise Hupgeräusche hörbar, ein Versuch der Verständigung vielleicht. Manchmal kniete der Mann nieder. Er schien jenen Boden zu untersuchen, der soeben noch von dem Roboter überfahren worden war. Der Mann schaute durch eine Lupe und sammelte mittels einer Pinzette von dem Rasen kleinere Gegenstände oder Teile von Würmern und Käfern auf und legte sie in einer Tüte ab. Indessen der Mann arbeitete, wartete der Roboter. Das war im vergangenen Sommer gewesen. Ein Roboter auf einer Wiese ohne Hunde, warum? — stop
Aus der Wörtersammlung: sommer
am inarisee
sierra : 0.15 UTC – Stundenlange Beobachtung des Inarisees zur Polarnachtzeit. Taubengrauer Himmel. Hinter Wolken wandert grünes Licht langsam ostwärts. Leuchtendes Blau steigt am Horizont aus dem Nebel, der dicht über der Eisfläche liegt. Schnee, einzelne Flocken. 5 Leuchtpunkte schimmern in der Ferne durch den Bildausschnitt der Kamera, die seit dem späten Sommer filmt. Der See war noch zu sehen im Sommer und im Herbst, Wasser, dunkel. In der Polarnacht nun wundervolles Licht des Himmels, Sterne, auch Mond, der hell strahlt, als sei er Sonne. Und eben das seltene Licht der Menschen, Menschenlicht. Die Grenze nach Russland ist 15 Kilometer entfernt. — stop

inari 5 bird island
gestaltmantel
aus der serie
vagabondit 8 NM
porträtzeichnung
pencil
kein schnee
ginkgo : 20.16 UTC – Auf einem Tisch ruht eine Fotografie. Ich hatte sie auf ein Blatt starken Papieres (180 Gramm) gedruckt. Es ist Abend. Sommerlicht. Ein Tisch von Holz. Blätterschatten, die sich kaum bewegen. Meine Hand hält die Fotografie an ihrem westlichen Rand mit zwei Fingern fest. Die Hand einer weiteren Person hält die Fotografie an ihrem östlichen Rand mit einem Finger fest. Die Fotografie zeigt eine Bushaltestelle der Stadt Mariupol. Splitter liegen auf der Straße. Glas, Steine, Metall. Und zwei menschliche Körper. Die Gesichter der Körper sind von weißen Tüchern bedeckt. Es regnet. Einer der Körper trägt eine blaue Hose, der andere eine gelbe Hose. Ein Stofftier liegt in der Nähe auf dem Boden. Die Körper sind kleine Körper. Die Körper sind Kinderkörper. Ein Fuß in einem Schuh steht etwas entfernt auf dem Boden. Ein Turnschuh mit einem Fuß und einem halben Bein. Der Finger, der die Fotografie an ihrer östlichen Seite berührt, tippt auf das Bild nahe des einsamen Fußes. Der Finger berührt die Straße. Die Stimme einer Frau ist zu hören. Sie sagt: Das ist nicht echt. Das ist gut gemacht. Wo hast Du das Foto her? Das ist gut erfunden. Die halbe Welt wird das glauben, so gut ist das erfunden, aber nicht gut genug, nur die halbe Welt wird das glauben. Du siehst, diese Unmenschen erschießen ihre eigenen Kinder. Und dann sagen sie, die Anden waren das. Aber das ist komplett gut erfunden! So etwas gibt es nicht. Das ist ein Kunstfuß, alles künstlich. Das ist wirklich gut gemacht. Du redest Unsinn! Du warst nicht dort, Du hast das nicht mit eigenen Augen gesehen. Man stirbt nicht, wenn ein Fuß verloren geht. Es war Winter dort. Es muss geschneit haben. Wo ist der Schnee? Du musst wissen, dass das alles gefälscht ist, das sieht doch jeder vernünftige Mensch auf der Stelle. Du darfst nicht immer glauben, was Du siehst. Warum steht der Fuß aufrecht? Irgendjemand hat ihn dort auf die Straße gestellt. Sie haben sich Mühe gegeben, das muss man Ihnen lassen. Das ist gut gemacht. Der Turnschuh müsste blutig sein. Da haben sie einen Fehler gemacht. Schön montiert, aber mit einem Fehler, das Blut fehlt, schon wieder einmal fehlt das Blut. Sie sagen, die Orks haben das gemacht. Wir machen so etwas nicht. Wir sind keine Orks. Wir glauben an Gott. Du weißt, dass wir an Gott glauben, es ist eine Schande. Warum zeigst Du mir so etwas? Du warst nicht in Mariupol. Wenn Du in Mariupol gewesen wärest, würdest Du das wissen, dass man so etwas niemals dort gesehen haben kann. Es war Winter im März. Kein Schnee, siehst Du, kein Schnee.- stop

der Inarisee
im november
mit uhrzeit
ursprung
hydra No 3
echo : 20.38 UTC — Eine Filmdatei existiert seit Jahren im Gedächtnis meiner Computermaschine. Ich habe diese Datei noch nie geöffnet. Sie soll Bilder enthalten, die den gewaltsamen Tod des Journalisten Daniel Pearl vor laufender Kamera zeigen. Immer wieder der Gedanke, die Frage, was ich unternehmen, was ich fühlen, wie ich leben würde, wenn ich wüsste, dass Bilder des Todes eines von mir geliebten Menschen, seine Erniedrigung, seine Verzweiflung betrachtet werden oder betrachtet werden könnten von Abertausenden wilder und fremder Augenpaare. — Kann man mit einer Hydra verhandeln? — Ich stelle fest. Das Wesen dieser digitalen Hydra der Grausamkeit ist zu ungeheurer Größe gewachsen. In Kanälen der Telegram-Applikation sind tausendfach Filmdokumente publiziert, die den Tod kämpfender Menschen an den Frontlinien in der Ukraine zeigen. Sie werden in ihrem Sterben aus der Luft beobachtet, von den Augen der Drohnen, die zunächst nach Bewegung der Menschen suchen, die unter ihnen in Wäldern und Gräben liegen. Drohnen und ihre Augen sind tödliche Geschöpfe. Sie bombardieren, sie filmen, sie prüfen ihr Werk. Noch, es ist Sommer 2024, wirken sie nicht autonom. — stop

In einer Nebelkammer
Spuren kleinster
Teilchen
die Vater
beobachtete
von der vernunft : eine bestandsaufnahme
lima : 16.28 UTC — vielleicht ist er im Wald spazierend gestolpert. Eine Wurzel, sagen wir, seine eigenen Füße, eine Libelle? In diesem Augenblick leichten Schreckens hatte er sich vielleicht an mich erinnert, jener gemütliche Herr, mit dem ich vor der Zeit der Pandemie bekannt gewesen war. Er wünscht jetzt wieder, oder weiterhin, mit mir in der digitalen Sphäre befreundet zu sein, sendet eine Anfrage, die mich zur persönlichen Timeline führt. Seltsame Botschaften dort wie folgende in Form gepresst: Ein Tag im August des Jahres 1975 soll bereits so heiß gewesen sein wie der August in diesem gegenwärtigen Sommer. Die Löschung von Beiträgen im Internet sei die moderne Methode der Bücherverbrennung. Bürgergeld für geflüchtete Menschen übertreffe um ein Vielfaches das Einkommen arbeitender nicht geflüchteter Menschen. Er notiert weiterhin, dass er sein Land zurückhaben wolle. Er sei gegen jede Art des Krieges, er sei wirklicher Friedensstifter, einer, der sich Erich Maria Remarques Merksatz „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen“ zu eigen machte. Er wünscht die Zeitumstellung abzuschaffen und ist der festen Überzeugung, dass Alex Soros Kamala Harris unterstütze, weswegen Kamala Harris 25 Milliarden Dollar besitzen würde. Er liebt Burgen und Schlösser sowie nicht verhüllte Frauen. 92000 Araber lebten in Dortmund, er hat sie gezählt. Er ist bei guter Gesundheit, mein Freund, der seltsam gewordene Mann zitiert Schopenhauer: Natürlicher Verstand könne fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand. stop – Die Beobachtung eines Gewebes, eines Teppichs, eines Mantels. Oder eines Unterholzes, eines Dickichts. — stop
eine wespe
alpha : 8.15 UTC — Ich habe den Eindruck, dass Eichhörnchen in der sommerlichen Hitze gern weit oben in den Bäumen sitzen. Kaum Schatten, aber vielleicht Hoffnung auf etwas Wind. Heut flimmert die Luft schon am frühen Morgen. Nachts ist eine Wespe nahe dem Fensterbrett in einer Kaffeetasse ertrunken. Ich lese, in der Stadt Kyjiw wurden Menschen dreifach von Luftalarm geweckt, während ich schlief. Ein Anfänger in der Erfahrung eines Luftalarms, wird vielleicht empört sein, dass eine aggressive Macht ihn beschießt, das ist denkbar. Ich würde gern ein Buch elektrischer Seiten mit einem kleinen Gehirn erfinden, in dem sich im Verborgenen eine wunderbare Geschichte befindet. Einmal im Jahr, an einem Tag zu einer präzise ausgemachten Stunde träumt das Buch und die Geschichte wird sichtbar für diese eine besondere Stunde. — stop
delay line
zoulou : 23.02 UTC — Ein heißer Tag vor 12 Jahren. Tatsächlich Sommer. Vater, der im Rollstuhl im Garten sitzt, bittet mich, ein Glas Milch zu holen. Ich stehe vor dem Kühlschrank. Die Tür des Kühlschranks ist offen. — In der vergangenen Nacht im Halbschlaf immer wieder der Gedanke, dass ich vergessen hatte, Vater das Glas Milch in den Garten zu tragen. Ich suchte im Traum nach dem Kühlschrank. Ich holte ein Glas Milch und trat in den Garten. Ich dachte noch: Es ist Nacht, Vater ist längst nicht mehr unter uns. Ich stellte das Glas auf einen Tisch und legte mich wieder ins Bett zurück — Im Jahr 1978 besuchte ich Vater an seinem Arbeitsplatz im Kernforschungszentrum CERN. In der Box der Wissenschaftler war es heiß und schwül. Ventilatoren rauschten. Vater war jung gewesen. Der Pullover, noch bekannt im Sommer vor 12 Jahren, vermutlich auch die Hose, die er auf einer Fotografie festgehalten war, welche ich gestern entdeckte. Vater und sein Team verlegten Leitungen, Kilometer um Kilometer über Spulen, um Signale in der Zeit zu verzögern. Elektrische Signale sind lautlose Wesen. — Sommer. Die Nächte warm. — stop

CERN
im Sommer einer
Nachtschicht
von ziffern
bamako : 23.02 UTC — Ich packe einen Koffer. Harte, sehr harte Schale, hart wie die Schale der Pekannüsse. Ich lege Hemden hinein, und Hosen und eine Jacke, es könnte kalt werden nachts dort, wohin ich reise. Brille, Turnschuhe, bunte Strümpfe und 1 Paar Handschuhe, Halstücher in Gelb und Rot und Blau. 2 Bücher, die von Vögeln erzählen, 1 Landkarte, 2 starke Batterien für Schreibmaschine, 1 Gummiband, Seife, 1 Stetson Hut, 1 Pullover taubengrau, 1 Pullover gelb, 1 Telefon. Letzte Phase vor Abreise. Ich sitze und schau mir an, was ich als Reiseordnung betrachte. Ich klappe den Koffer zu und verschließe mein Gepäck, in dem ich das Zahlenschloss wild bewege. Der Koffer ist zu, ich kann ihn nicht öffnen. Ich suche nach einem Zettel. Ich bin aufgeregt. Ich mahne zur Ruhe. Ich sage: Sei gleichmütig, Louis! Geduld, Louis! Eine Zahl ist zu erinnern, vier Stellen. Noch ist Zeit. Ich beginne mit der Zahl 001. Zwei Fliegen sausen herum. Im Café um die Ecke wird gefeiert. Ich beobachte, als gehörten sie nicht zu mir, meine Finger, die in rhythmischer Bewegung Zahlen versuchen. Astor Piazzolla: Tiempo Nuevo. Es geht darum, keine der möglichen Zahlen zu übergehen, es geht um Präzision. Eine wunderbare Nacht, noch früh. — stop
louis
alpha : 20.02 UTC — Am 6. Juli 1978 notiert Wilhelm Genazino Folgendes > Geheimnisse des Wohnens: Im Sommer: eine einzelne Fliege ist im Zimmer: Sie stößt manchmal an eine Scheibe, fällt aber sonst kaum auf, lässt auch den Bewohner in Ruhe. Angenehmes Gefühl, mit einem solchen Tier einen Nachmittag zu verbringen. — Fliege Louis, von der ich kürzlich erzählte, sitzt seit drei Tagen bereits reglos auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Es ist hell geworden, dann wieder dunkel, und wieder hell. Unverändert sitzt Fliege Louis, seit drei Phasen der Dunkelheit bereits auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Noch immer bewege ich mit behutsam. — stop

Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
Am Montmartre
von handboten
sierra : 22.01 UTC — Terroristen planten einen Angriff auf zivile Menschen im Süden Israels jahrelang. Ihre Kommunikation, bis zuletzt unbemerkt, muss über Papiere und menschliche Boten organisiert worden sein. Später höre ich, sie telefonierten mittels von Hand gelegter Telefonleitungen in Tunneln unter der Stadt Gaza. Ich stelle fest, die Folgen ihrer Tat, werden noch immer in der digitalen Sphäre verhandelt. Ich beobachte diese freundlichen Vögel, die rücklings in Händen der Menschen liegen, indessen sie mit ihren Fingern durch blutige Kanäle segeln. Nie könnte ich präzise sagen, wie sich jene Menschen, die ich beobachte, in dieser Zeit ihres Segelns verändern, ihr Gehirn, ihre Ansichten, ihre zukünftige Handlungsweise. — stop

Mutters letzter
Sommerhut der ihr immerzu
in die Stirn rutschte
als noch Sommer mit
Mutter war


