himalaya : 18.08 — Er schreibe, erzählte M., damit sich in seinem Leben nicht alles wiederhole, Tag, Nacht, Winter, Sommer, wenn ich erfinde und das Erfundene notiere, dann ist das so, als würde ich neues Land entdecken, das ich betreten, auf dem ich spazieren kann. Deshalb bleibe sein Leben spannend, es würde ihm wohl nie langweilig werden, auch wenn er sich wochenlang mit ein und derselben Frage beschäftigen würde, zum Beispiel, weshalb er noch nie eine Fliege bemerken konnte, die auf dem Rücken fliegen kann, obwohl sie doch längst erfunden worden sei. — Vor wenigen Minuten habe ich an M. seit langer Zeit wieder einmal gedacht, es war vielleicht deshalb gewesen, weil ich einen Film beobachtete, der von der Arbeit und dem Leben John Irvings erzählt. Der Schriftsteller erwähnt Folgendes: Jener Zeitraum, wenn ein Buch veröffentlicht wird, wenn alle Leute mit dir darüber reden, ist sehr kurz, es ist nach wenigen Monaten vorbei. Dagegen hat das Schreiben des Buches vielleicht vier, fünf, sechs oder sogar sieben Jahre gedauert. Und für das nächste Buch benötigt man dann wieder so lange. Durch das Ringen habe ich gelernt, dass man diesen langen Prozess lieben muss. Man muss es lieben, zu üben, dieselbe Bewegung hundertmal zu wiederholen, mit demselben langweiligen Sparringspartner. Es dauert lange, Zentimeter für Zentimeter, hier etwas durchstreichen, diesen Satz an diese Stelle, den Satz hier weg und dorthin schieben, die Leute würden einschlafen, wenn sie einem Schriftsteller bei der Arbeit zusehen, oder einem Ringer beim Training. Es war wichtig für mich, das zu lernen. — stop
Aus der Wörtersammlung: sommer
salinenweg
whiskey : 0.01 — Ich schlief über einem Buch des Schweizer Schriftstellers Nicolas Bouvier. Ehe ich fest eingeschlafen war, hatte ich in letzter Sekunde noch einen Gedanken wahrgenommen. Ich sagte zu mir mit leiser werdender Stimme: Du solltest einmal überlegen, ob es sinnvoll ist, nach einer Methode zu suchen, im Schlaf ein Buch lesen zu können. Ja, das wäre eine interessante Geschichte. Man würde sich natürlich an die erzählende Wirklichkeit des Buches selbst nicht erinnern, das man gerade noch las oder hörte, während man schlief, weil man das Buch nicht bewusst wahrnehmen konnte, und doch wäre man mit Herrn Bouvier nach Galway geflogen wegen eines Lochs im Sturm. Man wäre in einer Art und Weise nach Galway geflogen, dass man sich einmal später so gut an diesen Flug erinnern könnte, als wäre man selbst dort in Kilronan gewesen, eine Ahnung, Geräusche, Luft und Leute. — Das geschmeidige Wort Salinenweg. Wie ich über eine hölzerne Brücke gehe im Winter, ich streiche mit einer Hand Schnee von einem Geländer. Immer wieder, im Sommer, im Frühling, im Herbst, wenn ich diesen Ort passierte, erzählte ich von diesem Moment, als ich im Winter den Schnee berührte. — stop
holly
remington : 18.05 — Ich träumte, von einer Staten Island Fähre auf das offene Meer hinaus getragen worden zu sein. An Bord des Schiffes waren zahlreiche Menschen gewesen, sie fotografierten einander, manche lasen in einer Zeitung, andere tranken Kaffee aus Pappbechern oder telefonierten. Niemand schien sich zu wundern, dass die Fähre, hinsichtlich einer üblichen Reisedauer von 25 Minuten, nicht landete. Stunden vergingen. Einmal fegte ein Sturm über das Schiff hinweg, hunderte Möwen flatterten kreischend über die Decks. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte, als ich erwachte, eine Frau habe mir gegenüber Platz genommen. Ich meine, mich an ihren Namen erinnern zu können, ich glaube, sie hieß Holly. In diesem Augenblick, als ich die Augen öffnete, transferierte sie einen Text mittels eines Pinsels auf ein quadratisches Blatt Papier, das von mindestens 50 cm Durchmesser gewesen war. Sie trug eine Sonnenbrille sowie einen Sommerhut auf dem Kopf, außerdem ein helles Kleid, auf welchem vereinzelt Kirschen aufgedruckt worden waren, und schwere Wanderschuhe, deren Schnürsenkel sie nicht verknotet hatte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde schlief auch Holly ein, ihr Kopf neigte sich zur Seite, kurz darauf glitt das Papier, das sie beschriftet hatte, von ihren Schenkeln und landete vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konnte, was Holly notierte: Lesemaschine No. 82 / Dachgarten, 75, Greenwich Avenue Manhattan [ Schlüssel : Mrs. M. Linneker — 8. Stock ] > Die Geschichte von den Papiertierchen. Handzeichnung, ca. 68 pt: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, sollte bald einmal wach werden. — stop
rose
sierra : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
radio
charlie : 0.08 — Gestern Abend hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand wollte mich wecken. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich dachte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch sehr schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop
nachtmann
lima : 3.28 — Seit Jahren, Nacht für Nacht gegen drei Uhr, höre ich das Pfeifen eines Zeitungsboten, der auf einem Fahrrad von Osten her in unsere Straße kommt, um nach einer Schleife von wenigen Minuten, die ihn westwärts führt, wieder zu verschwinden. Ich bin ihm in dieser langen Zeit nie persönlich begegnet, und ich kann auch nicht mit Sicherheit sagen, welche Zeitung er in die Briefkästen unseres Hauses steckt. Ein einziges Mal habe ich neugierig aus dem Fenster gespäht, ich erinnere mich an eine bitterkalte Nacht. Die Gestalt des Mannes war weit entfernt zu sehen gewesen, er trug eine Wollmütze, Handschuhe und eine Lederjacke, das ist vielleicht der Grund, weshalb er auch in heißen Sommernächten in meinen Augen weiterhin eine Wollmütze trägt und pfeift, weil ihm möglicherweise kalt ist und einsam. Es ist seltsam, in all den Jahren seiner Gegenwart in meinem Leben, scheine ich keinen weiteren Gedanken zu seiner Person hinzugefügt zu haben, als wäre der Mann eine abgeschlossene Geschichte, die sich exakt wiederholt. Plötzlich, vor wenigen Minuten, die Frage, ob der Mann eventuell in der Zeitung liest, die er zu den schlafenden Menschen bringt, und ob ihm nicht manchmal deshalb unheimlich zumute sein könnte. — stop
am nachttisch
india : 3.02 — Ich träumte von Winterfliegen. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich, vor Jahren einmal über Winterfliegen nachgedacht zu haben. Ich notierte Folgendes: Die Gattung der Winterfliegen sollte in eisiger Umgebung existieren, in Höhlen, die sie mit ihren Fliegenfüßen persönlich in den Schnee eingraben. Vielleicht, das ist möglich, sind Winterfliegen von Natur aus eher kühle Wesen, oder aber sie tragen einen wärmenden Pelz, ein Fell, wie das der Eisbären, weiche, weiße Mäntel von Haut und Haar, die ihre äußerst langsam schlagenden Herzen schützen. Diese Fliegen, dachte ich, werden einhundert Jahre oder älter, sie könnten sich von feinsten Stäuben ernähren, vom Plankton, das aus den vom Wind gebeugten Wäldern angeflogen kommt, von Moosen, Birkenpollen, vom Kotsand nordischer Füchse. Ich stellte mir vor, sie sind weiß, so weiß, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spazieren. Man wird meinen, der Schnee bewege sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, stattdessen sind es die Fliegen, die nicht größer sind als jene Fliegen, die nachtwärts im Sommer aus einem Apfel steigen. – Ein ruhiger Tag, Augen zu, warm, Sonne. — Abends sitze ich in der Küche am Tisch. Ich öffne eine Schreibmaschine, die ich vor drei Jahren aus dem aktiven Schreibmaschinenleben in mein Schreibmaschinenmuseum transferierte, um nachzusehen, ob ich sie vielleicht noch einmal in Gang setzen könnte. Kleine Schrauben türmen sich zu einem Berg, es riecht nach Metall, nach Zinn, wie in der Kindheit, wenn ich meine Nase an Radiogeräte drückte. An der Wand in nächster Nähe hockt Esmeralda, sie scheint mich zu beobachten oder das Innere der Schreibmaschine. Aus dem Nebenzimmer dringen noch immer Kampfgeräusche, Schüsse von Gewehren, helle Töne, als würden Kieselsteine aneinander schlagen. Auch große Kaliber sind zu vernehmen, deren genaue Bezeichnungen ich nicht kenne, Mörser vielleicht, Panzerkanonen, Maschinenwaffen. Ein Mann, ich möchte seinen Decknamen an dieser Stelle nicht verzeichnen, sammelt Filme in der digitalen Sphäre, die er zu endlosen Ketten knüpft, Szenen aus dem syrischen Bürgerkrieg, zuletzt von dem Kampf um Kobanê. Personen stehen auf einer Straße, sie feuern auf Häuser, plötzlich fallen sie um. Ein junger Mann hüpft vor dem Körper einer jungen Frau, die auf dem Rücken liegt, ein Teil ihres Gesichtes fehlt. Der junge Mann preist Gott, er stellt seinen Stiefel auf die Brust der jungen Frau, die vermutlich, nein sicher, gegen ihn kämpfte. Bärtige Männer eilen gebückt über Felder, einem der Männer fliegt ein Arm davon. — stop
eidechsen
echo : 1.35 — Eine Bekannte, die in einem kurdischen Bergdorf groß geworden ist, erzählte, sie habe als Kind im Sommer mit Eidechsen gespielt, im Winter hüpfte sie vom Dach ihres Elternhauses in den Schnee. Es gab kein Telefon und die Schule lag drei Stunden zu Fuß entfernt. Man konnte die Kinder von Weitem über den Weg springen sehen, wie sie nach Hause kamen, da hatten sie noch 2 Stunden zu gehen. Eine karge Landschaft, kaum Bäume, aber blühende Büsche, deren Namen sich nicht so leicht in die deutsche Sprache übersetzen lassen. Ihren ersten Toten hatte das Mädchen wahrgenommen, als sie noch nicht schreiben konnte. Er lag auf dem Rücken auf einer Straße unweit der Schule. Ein dünner Fluss von Blut kam unter dem Körper hervor, auf dem Fliegen kletterten. Sie habe die Augen fest zugemacht, zu spät. Es ist jetzt eine schwere Zeit für sie und ihre Familie. Ich erzählte ihr von Filmen, die ich gesehen hatte, auf meinem Bildschirm unter dem Dach. Tausende Kinder, Frauen, Männer, die vor IS-Schergen in die Berge flüchteten, ohne Wasser und Nahrung. Natürlich kannte sie alle diese Bilder. Ich sagte, ich wäre beinahe sicher, dass die Art und Weise, wie ich flüchtende, leidende Menschen auf Bildschirmen betrachte, von der Art der Fernrohrbeobachtung sei. Sie antwortete unverzüglich, leise Stimme. — stop
herr bisaso
himalaya : 2.08 — Jeden Morgen, im Frühling oder im Sommer, Herbst oder Winter, erscheint Herr Bisaso gegen 4 Uhr am Terminal 1 des Frankfurter Flughafens. Er trägt eine graue Hose, ein dunkelblaues Hemd, eine gelbe Krawatte und ein Schildchen, auf dem das Wort SECURITY zu lesen steht, außerdem ein Stäbchen von etwa 1 Meter 50 Länge, das er in der rechten oder linken Hand mit sich zu führen pflegt. Das Stäbchen scheint aus Bambusrohr gemacht, an seiner Spitze sitzt eine weiche Beere von Leder und Samt, die von Herrn Bisaso vermutlich höchstpersönlich dort angebracht worden war. Der alte Mann ist von stattlicher Erscheinung, beinahe zwei Meter groß, er wurde in Mombasa geboren, lebt aber schon lange Zeit, Jahrzehnte, in Europa. Blitzblanke, schwarze Schuhe. Auf diesen Schuhen macht er sich nun auf seinen morgendlichen Weg, der ihn über das Terminal 1 zum Terminal 2 und wieder zurückführen wird. Ich sehe ihn, wie er sich umsieht und pfeift, er scheint fröhlich zu sein, er liebt den Morgen und vielleicht auch seine Arbeit, seinen Auftrag. In dieser Weise, leise pfeifend, nähert er sich einer Bank, auf welcher ein Mann liegt, der schläft. Das Hemd des Mannes ist verrutscht, sein Bauch zu sehen, auch sind seine Schuhe zu Boden gefallen. Es riecht ein wenig bitter in der Luft. Behutsam berührt Herr Bisaso den Mann mit jenem weichen Ende seines Bambuszeigers an der Schulter, und schon fährt der Mann hoch aus einem Traum, reibt sich die Augen, fuchtelt dann mit den Händen, und beginnt laut zu schimpfen. Guten Morgen, entgegnet Herr Bisaso mit tiefer Stimme. Er steht ganz ruhig und wartet, bis der noch halbwegs, Schlafende aufgestanden ist. Jetzt ist er zufrieden. Er schlendert zur nächsten Bank, die zum Nachtlager einer jungen Frau geworden ist, auch sie scheint ein wenig bitter zu riechen und ohne Koffer zum Flughafen gekommen zu sein. Bald steht auch sie, reibt sich die Augen, betrachtet den großen Mann und sein Stäbchen, das Herr Bisaso noch nicht sehr lange Zeit mit sich führt. Folgende Nachricht wäre vor wenigen Wochen noch möglich gewesen. MELDUNG: Von 4 bis 5 Uhr wurden in den Terminals des Frankfurter Flughafens 87 Personen, die auf Sitzgelegenheiten ruhten, von Mr. Bisaso geweckt. Er musste deshalb 2 Tritte, eine Umarmung, allesamt unwillkürlich, aber nur zwei Ohrfeigen entgegennehmen. — stop
heliumzeit
echo : 2.55 — Am Abend besuche ich Louis in seiner Küche unter dem Dach, Duft von Zimt und warmem Brot, in einer Lampe sirrt eine Wespe herum. Auf dem Küchentisch stapeln sich Tonbandspulen, 528 kleine Kassetten, die beschriftet sind: No 24 — Café Mozart 8. Mai / Laura — Über Lungenflügel : 1 Stunde 25 Minuten. Oder: No 48 — Botanischer Garten 5. Juni / Sebastian — Herzbetrachtungen : 2 Stunden 3 Minuten. Ich sehe Louis, wie er vor dem Tisch sitzt. Er ist alt geworden. Eine Schreibmaschine ruht unweit der Spulen. Es ist eine Hewlett Packard mit einem Bildschirm, sehr große Schriftzeichen, weil Louis nicht mehr gut sieht. Ein Satz ist dort zu lesen: Die Augen gehen auf, aber niemand sieht einen an. Ich höre Stimmen, sehr helle Stimmen. Stimmen in etwa so, wie sie klingen, wenn ein Mensch spricht, der Helium atmet. Louis sagt, das komme davon, dass er seine Tonbandmaschine schneller laufen lasse, beschleunigte Zeit, aus einer Stunde des Sprechens würde eine halbe Stunde, aus einem langen Schweigen ein kürzeres Schweigen. So, sagt Louis, ist das vielleicht zu schaffen in diesem Sommer, wenn ich nicht schlafe bis Ende September. — stop