Aus der Wörtersammlung: strukturen

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PRÄPARIERSAAL : kreide

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del­ta : 22.56 — Gewit­ter­him­mel. Abend. Mos­ki­t­o­fi­sche segeln von Zim­mer zu Zim­mer. Seit zwei Stun­den Juli­an, sei­ne tie­fe Ton­band­stim­me. Selt­sam ist, dass ich mich an Juli­ans Gesicht nicht erin­nern kann. Zeit und Ort der Ton­band­auf­nah­me, ein klei­nes Café in Schwa­bing zu Mün­chen, sind hin­ge­gen sofort erreich­bar. Sams­tag. Win­ter. Sobald sich die Tür des Cafés öff­ne­te, weh­te Schnee­wind her­ein. > Wir haben zunächst das Prä­pa­rat auf dem Tisch her­um­ge­dreht. Aber das sagt sich so leicht. Man kann das Prä­pa­rat nicht allei­ne her­um­dre­hen. Das Prä­pa­rat ist zu schwer, um von einer Per­son auf einem schma­len Tisch her­um­ge­dreht wer­den zu kön­nen. Wir haben das Prä­pa­rat gemein­sam bewegt. Ein inten­si­ver Moment. Wir schwit­zen. Wir hal­ten den Atem an. Das Prä­pa­rat ist feucht. Eine Hand hält den feuch­ten Kopf des Prä­pa­ra­tes, eine wei­te­re Hand einen feuch­ten Arm, Hän­de hal­ten feuch­te, küh­le Schen­kel, einen feuch­ten, küh­len Rücken, einen feuch­ten, küh­len Nacken. Wir haben noch nicht an Tie­fe gewon­nen, wir haben noch kei­nen Schnitt gesetzt. Wir sind noch am Anfang. Wir sind noch am ers­ten Tag. Wir haben noch nicht dar­über geschla­fen. Ich sehe, wie ich ein Stück Krei­de in die Hand neh­me. Ich neh­me die­ses Stück Krei­de in die rech­te Hand. Mit der lin­ken Hand tas­te ich über den Rücken mei­nes Prä­pa­ra­tes. Ich ertas­te Untie­fen, Kno­chen, fes­te Struk­tu­ren, die mei­nen Fin­gern Ori­en­tie­rung bie­ten. Sobald ich mit der lin­ken Hand eine Untie­fe, einen Kno­chen­punkt ertas­tet habe, zie­he ich mit der rech­ten Hand einen Kreis. Wenn ich mit der Krei­de den Kör­per berüh­re, gibt der Kör­per nach. Mein Fin­ger ist ein Werk­zeug des Tas­tens, die Krei­de ein Werk­zeug des Beschrei­bens. Ich zeich­ne dem Prä­pa­rat die Form eines Her­zens auf die Brust. Ich zeich­ne einen Magen auf den Bauch. Ich zeich­ne in die Tie­fe eine Nie­re links, eine Nie­re rechts. Ich habe die Ver­mu­tung eines Her­zens, ich habe die Ver­mu­tung eines Magens, ich habe die Ver­mu­tung einer Nie­re da und einer Nie­re dort. Das Prä­pa­rat ist ohne Geräusch. Es ist merk­wür­dig, alles scheint schon sehr lan­ge her zu sein, und doch habe ich den Ein­druck, dass kaum Zeit ver­gan­gen ist. Das Prä­pa­rat auf dem Tisch, die­ser Mensch, ist fast ver­schwun­den. — stop

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anatomischer traum

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alpha : 18.02 — Im Traum die maß­stabs­ge­treue ana­to­mi­sche Dar­stel­lung eines Tief­see­ele­fan­ten­rüs­sels auf der Madi­son Ave­nue ent­rollt. Leuch­tend rote Mus­kel­grup­pen, stau­nen­de Pas­san­ten, Poli­zei­fahr­zeu­ge sperr­ten Kreu­zun­gen, Stun­den rau­schen­den Glücks, bis ich Höhe 129th Street das Ende der For­ma­ti­on ereich­te. Unver­züg­lich mit der Sub­way down­town 23rd Street zurück. Abend war gewor­den, Nacht, ich begann im Licht einer Stirn­lam­pe, jeden ein­zel­nen Mus­kel der 120000 Struk­tu­ren hand­schrift­lich und ana­to­misch sinn­voll zu bezeich­nen: mus­cu­lus ama­zo­ni­us ori­ens. Arbei­te­te einen Block nord­wärts, bald fehl­ten wei­te­re Wör­ter. — stop

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papierhaut

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alpha : 18.07 — Blät­ter­te in Janet Frames auto­bio­gra­phi­scher Erzäh­lung Ein Engel an mei­ner Tafel. Blitz­ar­tig, nach Jahr­zehn­ten des Lesens, von einer Sekun­de zur Sekun­de ande­ren bemerkt, dass Tex­te über sicht­ba­re Struk­tu­ren, dass sie über Unter­bre­chun­gen ihrer Zei­chen­ket­ten ver­fü­gen, dass Kapi­tel oder Absät­ze sie zer­le­gen, dass sie also por­tio­niert sind, dass sie insel­wei­se auf einer Papier­haut von Stil­le schwimmen.

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to mr. melville : callas box

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pro­pel­ler

~ : louis
to : Mr. melville
sub­ject : CALLAS BOX

Lie­ber Mr. Mel­ville, Hotel Echo Lima Lima Oscar! Wie geht es Ihnen? Ich hat­te, wäh­rend ich in den ver­gan­ge­nen Wochen an einer Wal­ge­schich­te arbei­te­te, immer wie­der ein­mal an Sie gedacht, an Ihren wei­ßen Wal Moby Dick in Wor­ten und an sei­nen Schat­ten in der Wirk­lich­keit, an Mocha Dick. Wie sehr ich mir doch wün­sche, Sie wür­den bald ein­mal zu mei­nen Walen Kon­takt auf­neh­men und mir dann rasch eine Nach­richt über­mit­teln, ob mei­ne spe­zi­el­len Freun­de wohl auch Ihnen Furcht ein­flös­sen könn­ten. Viel­leicht wer­den Sie, wo auch immer Sie sich auf­hal­ten mögen, etwas Zeit fin­den und lesen. Ist Ihnen bekannt, dass die Gesän­ge der Buckel­wa­le über Struk­tu­ren ver­fü­gen sol­len, die ein­fa­chen mensch­li­chen Spra­chen ähn­lich ist? Stun­den habe ich dem­zu­fol­ge damit zuge­bracht, nach Bot­schaf­ten zu suchen, nach Geräu­schen, die mir etwas sagen, die mei­nem Gehirn Ent­de­ckung, ja Nach­richt sein könn­ten. Ich bin noch nicht sehr weit gekom­men, das ist rich­tig, aber ich wer­de nicht nach­las­sen, ich wer­de solan­ge den Gesän­gen der Wale lau­schen, bis mir ver­ständ­lich sein wird, was sie da sin­gen oder spre­chen. Mei­nen Namen loooouuuiiiiii mei­ne ich jeden­falls schon auf­ge­spürt zu haben. Das ist ein Anfang und ich bin zuver­sicht­lich in den kom­men­den Wochen gut vor­an zu kom­men. Was, mein lie­ber Mr. Mel­ville, ist unter einer ein­fa­chen mensch­li­chen Spra­che zu ver­ste­hen? – Ahoi! Ihr Louis

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tuba auditiva

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vic­to­ria : 8.12 — Ana­to­mi­sche Arbei­ten. Spiel­te Ton­band­stim­men, las zum Gehör, stu­dier­te Struk­tu­ren der Muschel. — Zehn Uhr und zwei­und­zwan­zig Minu­ten MEZ in Shan­gil Tobay, Darfur.

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sirius

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kili­man­dscha­ro : 0.28 — Gegen Mit­ter­nacht ste­he ich im Arbeits­zim­mer, hebe bei­de Arme, mache Flü­gel, weil ich dar­über nach­den­ke, wie es wäre, gewicht­los zu sein. Ich habe mir vor­ge­stellt, dass man viel­leicht ein­mal auf die Idee kom­men wird, Men­schen zu erfin­den, die ohne Kno­chen sind, weil sie Kno­chen nicht benö­ti­gen, weil sie ohne jede Schwe­re im Welt­raum exis­tie­ren auf gro­ßer Fahrt. Die­se Men­schen wür­den von einer kräf­ti­gen Haut begrenzt, leg­ten sich viel­leicht in waben­för­mi­gen Struk­tu­ren zur Ruhe, wären falt­bar und weich wie Medu­sen. Wenn sich zwei die­ser Medu­sen­men­schen in einem schwe­re­lo­sen Raum begeg­ne­ten, wür­den sie sich in einer Zart­heit umschmei­cheln, die uns Kno­chen­menschen grund­sätz­lich fremd ist, weil wir in der Begeg­nung, auch in der Lie­be, gewohnt sind auf Wider­stän­de sto­ßen zu wol­len, auf Gegen­wehr, auf eine Fes­tig­keit, die wir benö­ti­gen, um sagen zu kön­nen, das bin ich und das bist Du. Ist das nicht ein bezau­bern­der Film, wie sich nahe des Siri­us­ster­nes zwei uralte Medu­sen­we­sen durch einen Tan­go atmen, wie sie ver­liebt ihre pul­sie­ren­den, ihre licht­durch­läs­si­gen Lun­gen betrach­ten? Wie könn­ten die­se Wesen beklei­de­ten sein, wel­che Bücher wür­den sie lesen, wel­che Musik wür­de sie in glück­li­che Schwin­gung ver­set­zen, was wer­den sie essen, was wer­den sie trin­ken, was wer­den sie ein­mal von mir den­ken, wenn sie lesen, was ich heu­te Nacht bereits für sie auf­ge­schrie­ben habe?

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blutgefäss

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romeo : 0.05 — Ein­mal, an einem hei­ßen Som­mer­abend, durch­wan­der­te ich eine Stadt. Sie lag bereits unterm Nacht­zep­pe­lin, wes­halb ich nicht sofort bemerk­te, dass an der Innen­sei­te mei­nes lin­ken Ober­schen­kels ein volu­mi­nö­ses Blut­ge­fäss aus der Fas­sung gesprun­gen war. Der selt­sa­me Ein­druck, wäh­rend ich spa­zier­te, ein klei­nes Tier wür­de mich kosend berüh­ren. Kurz dar­auf notier­ten Fahr­gäs­te eines U‑Bahnwagons, ich wür­de, der­art weit geöff­net, viel­leicht bald ernst­haf­ten Scha­den erlei­den. Und tat­säch­lich, da war ein Schlauch von dun­kel­blau­em Gum­mi, der nahe mei­ner Leis­ten­ge­gend unru­hig durch die Luft zap­pel­te. Ich konn­te sei­ne Bewe­gung sehr gut erken­nen, weil ich, weiß der Him­mel war­um, ins­ge­samt nicht beklei­det gewe­sen war. Eine älte­re Dame, eine Ärz­tin, nahm dann Platz in mei­ner Nähe. Mit blo­ßen Hän­den erwei­ter­te sie mei­nen Schen­kel bis hin zum Knie, so dass wei­te­re Schläu­che aus dem Ober­schen­kel fie­len, die sie sor­tier­te, wäh­rend sie gelas­sen eine Melo­die vor sich hin summ­te. Da waren Struk­tu­ren, kein Blut, in gel­ber, in roter, in grü­ner, in blau­er Far­be. Indem sie an einem der geschmei­di­gen Röhr­chen zog, an einem fili­gra­nen Gefäß, nein, an einem hauch­dün­nen Seil­zug, sand­far­ben, schloss sich das lin­ke mei­ner Augen gegen mei­nen Wil­len, und die Ärz­tin lach­te und sag­te, schau her, wie schön bunt Du doch bist. Wenn ich hier ein wenig zie­hen wer­de, machst Du auch noch das rech­te Auge zu. Dann wach. — Heu­te ist Sonn­tag, bald wie­der Nacht. Geträumt habe ich bereits am Samstag.

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eisballon

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0.18 – Ers­te Vor­stel­lung eines Polar­kä­fers notiert. Die­ser Käfer ist so hell, dass nur sehr fei­nes Schat­ten­licht auf sei­nem Pan­zer Struk­tu­ren eines Kör­pers sicht­bar wer­den lässt. Ich könn­te viel­leicht sagen, das heißt, ich könn­te behaup­ten, dass der Käfer hel­ler ist als der Schnee und käl­ter als das Eis. Er ver­trägt kei­ne Dun­kel­heit, auch Däm­me­rung ist Dun­kel­heit, und ernährt sich vom Fleisch sehr klei­ner Kreb­se, die in Eis­bal­lo­nen vom Wind durch die Luft getra­gen wer­den. Stun­de um Stun­de, je eine Bewe­gung, schlägt sein Herz.

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