echo : 14.32 UTC — Am Telefon meldete sich ein Mann, der mir eine traurige Geschichte erzählte. Er sagte: Meine Frau ist seltsam geworden, sie wurde gerade eben 84 Jahre alt, vielleicht ist sie deshalb seltsam geworden. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mitternacht und sie hat aufgehört zu kochen, deshalb koche ich jetzt für uns beide, obwohl ich nie gekocht habe. Meine Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manchmal sagt sie, dass ich sehr gut kochen würde. Der Mann am Telefon lachte. Und ich erinnerte mich, dass ich vor Jahren einmal einen Ausflug zu einer Tante machte, die damals seit bereits über zehn Jahren in einem Heim lebte, weil sie sehr alt war und außerdem nicht mehr denken konnte. Es war Frühling und der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit weiteren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. — In diesem Augenblick hob ich meinen Füllfederhalter vom Papier, auf das ich meinen Text mit meiner rechten Hand notiert hatte. Es war sehr feines Papier, eines durch das man hindurchsehen kann, wenn man das Papier gegen etwas Licht hält, raschelndes Papier, Luftpapier. Ich hob meinen Blick, um gerade noch wahrnehmen zu können, dass sich das Wort Telefon aufzulösen begann. Zeichen für Zeichen verschwand das Wort von links nach rechts, kurz darauf löste sich auch das nachfolgende Wort vom Papier, dann ein ganzer Satz in etwa der Geschwindigkeit, mit der ich kurz zuvor noch geschrieben hatte. Das war doch seltsam gewesen. Und ich dachte noch: Du musst Dich beeilen, lieber Louis, schnell, schreib weiter. — stop
Aus der Wörtersammlung: wand
tokio
marimba : 22.28 UTC — Es ist spät geworden, beinahe Nacht. Auf einem Bahnsteig unter dem Flughafen warten Reisende, sitzen auf dem Boden, auf Koffern, auf Bänken, stehen, lehnen aneinander oder drehen sich auf engem Raum um die eigene Achse, schlafwandelnde Tänzer, die gerade noch in Madrid oder Tokio gewesen sind. Sie alle tragen ein Papiersegel vor dem Mund, manche von hellblauer Farbe, manche Weiss, andere in Tönungen, die für Mundsegelfarbe neu erfunden sind, grün, gelb, rot. Ein Mann spaziert dort auf und ab. Er nimmt den Weg entlang der Bahnsteigkante, balanciert vor dem Abgrund, als würde er riskantes Gehen lange Zeit geübt haben. Und wie er an mir vorbeikommt, hör ich ihn sprechen: Dieses Corona — Virus! Reine Erfindung, das ist verrückt, das Virus müsste man doch sehen! Ihr seid alle nicht bei Trost! — So formulierend spaziert er den langen Bahnsteig auf und ab. Seine Stimme spricht sanft, vielleicht ein wenig zornig, weil er bemerkt, dass man ihm nicht zuhört, dass ihm niemand antworten möchte, vielleicht sagen: Ja, mein Herr, das Corona — Virus ist tatsächlich eine reine Erfindung. Wir hören jetzt sofort auf mit der Erfindung. Alles wird gut! — Und dann kommt der Zug. Auch der Mann steigt in den Zug. Ich sitze, ich warte, ich würde ihn gern fotografieren, eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, einen Herrn, der flüchtet und doch bleibt. Einmal, kurz, meinte ich seine Stimme zu hören. — stop
krim : lichtbild no 3
romeo : 8.52 UTC — Associated Press veröffentlichte vor wenigen Jahren eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem kleinen Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, ausserdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Yalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
von fliegentieren
india : 20.02 UTC — Fliegen existieren, die sich im Moment der Dunkelheit an eine Wand setzen, auf ein Buch, auf den Boden, auf das vom Taglicht erwärmte Holz meines Schreibtisches. Dort verweilen sie still, bis es wieder hell wird, sie sind die Schläfer unter den Fliegen, Nachtschläfer. Indessen sind weitere Fliegen zu beobachten, die kaum sichtbar sind, solange Licht ist in meinen Zimmern, sie scheinen sich mittels Bewegungslosigkeit zu verstecken. Ich höre sie nicht, ich sehe sie nicht, ich vergesse, dass sie anwesend sind oder ihre Anwesenheit möglich sein könnte. Und dann ist also Dunkel. Unverzüglich fliegen sie los, Spuren der Duftmoleküle folgend landen sie auf Wangen, Stirn oder einer Schulter, die freilegt, die schläft, die in diesem Augenblick der Landung erwacht. Man könnte sagen, die Nachtflieger unter den Fliegen, bewirken Licht. Kaum stehe ich schlaftrunken neben dem Bett, haben sie sich bereits wieder versteckt. Sie wissen um den Zorn. Und sie wissen, dass bald wieder Dunkel werden wird. — stop
kaja
echo : 0.28 UTC — Einmal spazierte ich durch die Stadt. An einer Straßenbahnhaltestelle dachte ich nach über dies und das, ich machte ein Schritt nach vorn und sofort wieder zurück, eine Tram raste dicht an mir vorbei und stoppte mit kreischenden Rädern. Ein wütender Fahrer stieg aus. Um ein Haar, um ein Haar. Ein anderes Mal wanderte ich in den Bergen, es war der Schneibstein wo ich auf dem Gipfelplateau eine Pause einlegte. Ich dachte nach über dies und das während ich mit etwas Emmentaler in der Hand über eine Wiese spazierte. Plötzlich setze ich mich auf den Boden und sah panisch geworden in den Abgrund, ein weiterer Schritt hätte genügt, ich wäre lautlos verschwunden. Ein paar Dohlen äußerten sich zur Situation: Kaja, kaja, kaja. Ich dachte noch zur Beruhigung: Ihr habt aber schöne korallenrote Füße. — stop
wolken
quebec : 22.45 UTC — Unlängst meinte ich den Begriff Cordon sanitaire verstanden zu haben, ein zunächst schönes Geräusch war zu einer unheimlichen Geschichte geworden, die ich selbst bewohne. Wenn ich in dieser seltsamen Zeit unter freiem Himmel spaziere, beobachte ich das Licht in den Fenstern der Häuser. Dort wiederum Menschen, wie sie auf die Straße spähen, oder das Licht der Fernsehgeräte seltsam blau, immerzu blau, Rückzugsgebiete, sichere Orte oder Quarantänestationen. Ein Mann erzählt, er habe Furcht sich zu bücken, um seine Schuhe zu binden. Er stellte sich vor, dort würde Viren warten, Virenwolken von Winden getragen über Gehsteige wandernd wie Sand über Meeresböden in Ufernähe. — stop
ai : KASACHSTAN
MENSCH IN GEFAHR : “Aigul Utepova ist eine bekannte Bloggerin und Aktivistin. Sie hat 8.000 Follower auf Facebook und eine große Fangemeinde sieht die Beiträge auf ihrem YouTube-Kanal. 2015 kandidierte sie bei den Präsidentschaftswahlen, doch zog sie ihre Kandidatur später wieder zurück. Sie wird beschuldigt, eine Anhängerin der Oppositionspartei Demokratischen Wahl Kasachstans zu sein. Am 13. März 2018 wurde die Partei willkürlich zu einer “extremistischen” Organisation erklärt, weil sie “zur nationalen Zwietracht aufstachelte”. Grundlage für diese Einordnung sind die vage formulierten Anti-Extremismus-Gesetze in Kasachstan. / Nach der Zwangseinweisung von Aigul Utepova in die Psychiatrie fürchtet ihr Rechtsbeistand, dass eine willkürliche psychiatrische Diagnose zum Vorwand genommen wird, um sie zwangsweise “behandeln” und lange in der Anstalt festhalten zu können. Bei einem Versuch, Aigul Utepova am 23. November zu besuchen, wurde dem Rechtsbeistand und einer Familienangehörigen mitgeteilt, dass die Jorunalistin keinen Kontakt zur Außenwelt haben dürfe. / Dass Personen, die die Regierung kritisieren oder sich gegen bestimmte Interessengruppen stellen, zwangsweise unter psychiatrische Beobachtung gestellt werden, ist in Kasachstan nicht ungewöhnlich. 2019 entschied der UN-Menschenrechtsausschuss, dass Zinaidi Mukhortova willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderer Misshandlung ausgesetzt war. Die Anwältin war fünf Mal gegen ihren Willen in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen und dort “behandelt” worden. / Aigul Utepova hätte niemals strafrechtlich verfolgt und unter Hausarrest gestellt werden dürfen. Diese Maßnahme verstößt gegen kasachisches Recht, das Hausarrest nur in Fällen vorsieht, bei denen die Höchststrafe fünf Jahre oder mehr beträgt. Außerdem muss sachlich begründet werden, weshalb weniger restriktive Maßnahmen nicht angewendet werden können. Die Verfolgung und der Hausarrest von Aigul Utepova sind als Vergeltungsmaßnahmen für ihre unverblümte Kritik an der Regierung einzuordnen.”- Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 18.1.2021 unter > ai : urgent action
vom winterflieder
sierra : 20.01 UTC — Manchmal, wenn es regnete an Nachmittagen, wurde Nacht gemacht. Das Licht des Tages draußen ausgesperrt, nahmen wir Kinder im Wohnzimmer Platz auf dem Sofa, auf dem Boden, auf Stühlen und warteten, dass Vater seine Lichtmaschine, die er längst vorbereitet hatte, endlich starten würde. Da war eine Leinwand, und da waren beschriftete und gerippte Behälter von Kunststoff, in welchen sich Sekundenzeit reihte, Zeitabteile, die wir bald ansehen würden und davon berichten, wann das war und wo das war und wer das gewesen war auf der Leinwand bewegungslos. Da dachte ich einmal, da hast Du Louis aber streng geschaut, da hättest du vielleicht ein Lächeln der Kamera schenken sollen, da kann man jetzt nichts mehr machen. Du schaust aber melancholisch drein, sagte mein Bruder, und ich sagte: Das nächste Bild, weiter, bitte weiter! Und da war dann ein Fliederbaum zu sehen, es war Winter, und der Flieder brütete Schneeflocken aus, und das Lichtgerät rauschte und das blühende Bild stand so lange still, bis mein Vater auf jenen roten Knopf seiner Fernsteuerung drückte. — stop
die fotografien meines vaters
marimba : 14.12 UTC — Als ich noch ein Kind gewesen war, lernte ich bald das Geräusch der Fotografien kennen. Es war, zum Beispiel, an einem Samstag. Der Fotoapparat, der das Licht zu fangen vermochte, befand sich irgendwo außerhalb meines rollenden zu Hauses in den Händen meines Vaters, der die Linse auf mich richtete oder in den Himmel hinauf oder auf das lachende Gesicht meiner schönen Mutter, die den Kinderwangen schob und schaukelte. Dann, auch an jenem Samstag zum Beispiel, war sehr bald ein wunderbares Geräusch zu hören, das ich noch immer in meinem Gehirn nachbilden kann, eine Sammlung sehr heller trillernder, auch raschelnder Töne, ein Gleiten von 1 Sekunde Dauer. Und noch einmal, ja, er lacht, sagte mein Vater, und dass ich tatsächlich lachte, würde ich einige Jahre später mit eigenen Augen sehen vor einer Leinwand sitzend, auf die das Licht fiel, das mein Vater eingefangen hatte. Dieses Licht, das aus einem surrenden, hechelnden grauen Kasten strömte, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuchten brachte, als würde es schneien in unserer kleinen Wohnung. Fotografieren war für mich zunächst ein Ton, nachdem sich auch die Vögel in den Wäldern und Parks herumdrehen wollten. — stop
im wald
ulysses : 18.12 UTC — Einmal spazierte ich mit Mutter durch einen Wald. Die alte Dame, sie trug rote Turnschuhe, fragte mich, ob sie denn seltsam aussehen würde, so wie sie ging. Und ich antwortete: Nein, dein Gang ist vielleicht etwas steif geworden, etwas langsamer, vorsichtiger, aber nicht seltsam. Am Himmel kreiste ein Modellflugzeug mit einem Kopfpropeller, sehr leise, kunstvoll über einem Hügel, von dem aus wir Vaters Segelflugzeuge in herbstliche Winde hängten. In jenem Wald, ich erinnere mich, den ich mit Mutter spazierte, suchte ich als Junge nach Skeletten. Es war ein dichter Wald junger Tannen. Man erzählte, dass die Tiere sich dorthin zurückzogen, um in Ruhe zu sterben. Vermutlich deshalb habe ich sehr viele Knochen gefunden. Sie waren über Jahre hin über den Boden gewandert, das waren vermutlich Wildschweine gewesen. Ich trug zahlreiche Knochen nach Hause, um sie zu sortieren mithilfe eines naturkundlichen Buches. In einem großen Karton verwahrte ich Knochen, die ich nicht zuordnen konnte. Einmal schüttete ich diese Knochen vor mich auf den Boden und setzt sie so zusammen, dass sich ein Tier abzeichnete, welches über mehrere Schädel verfügte und zahlreiche Beine. Das Tier war sehr lang, ein Tier, über dessen Leben ich aufregende Geschichten erzählen konnte. — stop