Aus der Wörtersammlung: zimmer

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schlafende

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sier­ra : 15.02 — Ich hör­te, sobald Men­schen zu schla­fen begin­nen, sobald sie sich in Lang­zeit­schlä­fer ver­wan­deln, ver­schwin­den schritt­wei­se jene Men­schen aus ihrem Leben jen­seits der Träu­me, die nur sel­ten schla­fen, nur für Stun­den nachts. Oder aber die Schlaf­lo­sen keh­ren an die Bet­ten der Schla­fen­den zurück, weil sie hier in den Schlä­fer­zim­mern sit­zend zur Ruhe kom­men. Manch­mal schla­fen selbst die Ruhe­lo­sen unter ihnen an den Bet­ten der alten Men­schen ein. Wie wun­der­bar die Herbst­baum­lam­pen leuch­ten. — stop

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vor dem telefon

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nord­pol : 0.05 — Als ich die alte Dame im Haus der alten Men­schen besuch­te, war sie schon wach und beklei­det gewe­sen. Sie saß in einem Roll­stuhl, trug Turn­schu­he an ihren Füßen, das Haar war gekämmt, rosi­ge Wan­gen. Anstatt mich zu begrü­ßen, sag­te sie: 7805355, wir müs­sen uns küm­mern, ich tele­fo­nie­re die gan­ze Nacht, aber es geht nie­mand dran, es geht ein­fach nie­mand dran, 7805355. Die alte Dame wie­der­hol­te die­se Num­mer 7805355 in hoher Fre­quenz, sie hör­te nicht auf, die­se Num­mer immer wie­der vor sich her­zu­sa­gen. Wir ver­lie­ßen ihr Zim­mer, ich schob sie durch Flu­re des Hau­ses der alten Men­schen. Wir waren zunächst im Gar­ten, dann im Park, dann auf einem Weg unter Apfel­bäu­men. Vögel zwit­scher­ten. Die Luft war warm vom Licht der tief ste­hen­den Son­ne. Wenn ich anhielt, um nach­zu­se­hen, wie es der alten Dame ging, bemerk­te ich, dass sie immer noch die Num­mer eines Tele­fons vor sich hin mur­mel­te, als ob sie eine Schall­plat­te in sich abspiel­te, die auf­hör­te, weil sie das Ende ihrer Spur ver­lor, einen Aus­gang. Auch am Nach­mit­tag, die alte Dame hat­te geschla­fen, wur­de unent­wegt von genau jener Tele­fon­num­mer gespro­chen, die schon die Num­mer des Mor­gens gewe­sen war. Bald wur­de Abend. — stop

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herbst

9

marim­ba : 8.12 UTC — Ich gehe spa­zie­ren, wo die alten Men­schen woh­nen, über Flu­re, wo die alten Men­schen sit­zen vor den Türen, hin­ter wel­chen uralte Men­schen lie­gen, die in ihren letz­ten Bet­ten schla­fen. Eine alte Dame zieht sich im Roll­stuhl sit­zend Stun­de um Stun­de am höl­zer­nen Wand­ge­län­der vor­an. Wie vie­le Kilo­me­ter ist sie so schon unter­wegs gewe­sen? Ich hör­te, sie sei 88 Jah­re alt. Wenn sie mir begeg­net, lächelt sie wie ein jun­ges Mäd­chen, fragt, war­um sie hier sei, ant­wor­tet sofort: Wohl, weil ich alt bin. Auf einem Tisch, um den her­um wei­te­re schla­fen­de Men­schen sit­zen, steht ein Tele­fon von grau­er Far­be mit einer Zif­fern­wähl­schei­be. Der Hörer des Tele­fons schwebt an einer mage­ren Hand neben einem Ohr, das lauscht. Eine wei­te­re mage­re Hand wählt Num­mer für Num­mer Stun­de um Stun­de. Drau­ßen vor den Fens­tern küh­ler, herbst­li­cher Regen. Und hier, gleich kom­me ich an ihm vor­über, das Zim­mer der alten Clau­di­ne Tul­la, sie schläft schon seit zehn Jah­ren in ihrem letz­ten Bett. Wie doch die Zeit ver­geht. — stop

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swann

9

tan­go : 20.10 UTC — Mile­na erzählt, sie beglei­te nahe der Stadt Cese­na ihre alte Mut­ter schon seit lan­ger Zeit. Ihre Mut­ter sei gestürzt, sie habe sich den Kopf schwer gesto­ßen, habe dann bewusst­los 16 Stun­den in ihrem Wohn­zim­mer gele­gen, ehe sie gefun­den wur­de. Ihre Mut­ter wer­de nun über eine Magen­son­de ernährt, sie wer­de nie rich­tig wach, nur immer ein wenig wach, ein blin­zeln­des Erwa­chen, ein kla­rer Blick für eini­ge Minu­ten, der ihr, Mile­na, zei­ge, dass ihre Mut­ter sie ver­mut­lich nicht erkennt. Dann schla­fe die alte Dame wie­der ein. Nach­dem eine Ärz­tin ihr emp­foh­len hat­te, mit ihrer alten schla­fen­den Mut­ter zu spre­chen, habe sie das Spre­chen ver­sucht, habe dann aber bald bemerkt, dass das Spre­chen mit einer oder zu einer Schla­fen­den hin, sehr schwie­rig sei. Sie habe sich wie­der­holt. Des­halb habe sie in der Biblio­thek der Senio­ren­re­si­denz nach einem Buch gesucht, das sie ihrer Mut­ter und viel­leicht auch sich selbst vor­le­sen kön­ne. Da sei sie auf Mar­cel Proust’s ers­ten Band der Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit gesto­ßen. Sie sei im Nach­hin­ein sehr glück­lich des­halb, sie lese sehr lang­sam, sie lese so lang­sam und so lei­se wie mög­lich. Jedes Wort, das auf den Papie­ren des Buches zu fin­den sei, wer­de aus­ge­spro­chen. Ihre Mut­ter schla­fe indes­sen tief, oder aber sie höre zu, das kön­ne nie­mand so genau sagen. — stop
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ein aquarium

9

tan­go : 22.02 UTC — Bob erzählt von einem Aqua­ri­um, kei­nem gewöhn­li­chen Aqua­ri­um, viel­mehr einem Aqua­ri­um, das ihm einer­seits gehö­ren, ande­rer­seits sehr weit ent­fernt sein soll, näm­lich bei­na­he auf der ande­ren Sei­te der Welt, in Thai­land in einem Vor­ort der Stadt Bang­kok in einem Café neben einer Tank­stel­le mit Gar­ten, in wel­chem Orchi­deen auf Bäu­men wach­sen. Auch Vögel sol­len dort im Gar­ten zahl­reich leben, und Kin­der spie­len, weil sich in der Nähe eine Schu­le befin­det. Er selbst, erzählt Bob, sei in die­se Schu­le gegan­gen, habe Eng­lisch gelernt und Mathe­ma­tik, gera­de in Mathe­ma­tik soll er gut gewe­sen sein. Jetzt lebt er also in Euro­pa und besucht eine Uni­ver­si­tät, um die Spra­che der Com­pu­ter­ma­schi­nen zu stu­die­ren. Das Café, das mei­ner Mut­ter gehört, und auch ein wenig mir selbst, läuft gut, sagt Bob, wir kön­nen von unse­ren Ein­künf­ten gut leben. Ich brau­che ja nicht viel Geld hier, klei­nes Zim­mer. Er holt sein Tele­fon aus der Hosen­ta­sche, tippt ein wenig auf dem Bild­schirm her­um, dann reicht er mir das klei­ne, fla­che Gerät über den Tisch. Schau, sagt er, das ist mein Café, das ist mei­ne Mut­ter in Echt­zeit, es ist gera­de frü­her Mor­gen, sie berei­tet sich auf ers­te Gäs­te vor, die kom­men bald. Tat­säch­lich erken­ne ich auf dem Bild­schirm eine älte­re Frau, die auf einem Brett von Holz irgend­wel­che Pflan­zen zer­teilt. Bob nimmt mir das Tele­fon kurz aus der Hand, tippt noch ein­mal auf den Bild­schirm. Nun sind Fische anstatt sei­ner Mut­ter zu sehen. Das ist mein Aqua­ri­um, sagt Bob, lei­der nur in schwarz-wei­ßer Far­be. Sie sind ziem­lich bunt. Zwei von ihnen habe ich selbst gefan­gen im ver­gan­ge­nen Win­ter. Es ist ein Salz­was­ser­aqua­ri­um. Gleich wird mei­ne Mut­ter die Fische füt­tern. Solan­ge kön­nen wir war­ten. — stop
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im gebirge

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del­ta : 7.55 UTC — Ich träum­te von einer Frau, wie sie in einem Haus im Gebir­ge, dicht an der Som­mer­schnee­gren­ze, mit geschlos­se­nen Augen auf einem Fahr­rad sitzt. Das Fahr­rad kann nicht davon­fah­ren, weil sich sein hin­te­res Rad in der Luft dreht. Die Frau ist von hohem Alter, sie tritt mit zar­ter Kraft in die Peda­le. Indem ich mich nähe­re, erken­ne ich einen Tra­fo, der Strom erzeugt. Im Zim­mer gleich neben der Fahr­rad­stu­be ruht ein alter Mann auf einem Sofa. Er notiert auf einer elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne. Neben sei­nem Sofa steht eine wei­te­re Maschi­ne, sie ist ver­schraubt mit uralten Die­len, Bie­nen flie­gen durch Ast­lö­cher der Die­len ein und aus. Die Maschi­ne pumpt Luft in die Lun­gen des alten Man­nes. Dioden­lich­ter blin­ken in blau­er und roter Far­be. Kühe schau­en durch Fens­ter in das klei­ne Zim­mer hin­ein. Glo­cken läu­ten. Der alte Mann winkt, ich sol­le näher­kom­men, ich wache auf. — stop

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vom schlafen

9

del­ta : 4.38 UTC — Ich saß an Dei­nem Bett, lie­be schla­fen­de Mut­ter, Stun­de um Stun­de. Immer wie­der dach­te ich, wie schwer es doch ist, zu einem Men­schen zu spre­chen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Viel­leicht soll­te ich sum­men? Oder doch wei­ter spre­chen? Ich such­te nach einem Text, den ich ein­mal für Dich geschrie­ben hat­te. Ich dach­te, ich wer­de Dir die­sen klei­nen Text vor­le­sen, und wenn ich an sei­nem Ende ange­kom­men sein wer­de, wer­de ich von vorn begin­nen. Es geht ver­mut­lich dar­um, dass Du mei­ne Stim­me hörst, nicht dar­um, was genau ich lese an die­sem Mor­gen, als es noch dun­kel war im Haus. Was hör­te, was höre ich? Ich höre ein sir­ren­des Geräusch. Das Geräusch näher­t sich, es kommt über die Trep­pe abwärts her­an. Zunächst ist nichts zu sehen, dann aber eine Dei­ner drei Bril­len, lie­be Mut­ter, die seit dem Vor­abend über zar­te Roto­ren ver­fü­gen, wel­che in der Lage sind, Bril­len­kon­struk­tio­nen durch die Luft zu bewe­gen, durch Räu­me oder den Gar­ten. Dei­ne Bril­le kommt näher, durch­quer­t das Wohn­zim­mer, kreis­t ein­mal um mei­nen Kopf, lan­de­t schließ­lich sanft auf dem Ess­ti­sch in der Nähe des Stuh­les, auf dem Du hof­fent­lich ein­mal wie­der Platz neh­men wirst. Über drei Bril­len ver­fügst Du, lie­be Mut­ter, und jede die­ser Bril­len kann nun flie­gen. Eine Bril­le wird im Dach­ge­schoss sta­tio­nieren, eine wei­te­re Bril­le im Erd­ge­schoss, die drit­te Dei­ner Bril­len, lie­be Mut­ter, zu ebe­ner Erde. Wie sie zu blin­ken begin­nen, Dioden in gel­ber Far­be, Zei­chen, dass sie sich mit­tels unhör­ba­rer Funk­si­gna­le ori­en­tie­ren. Das Suchen hat nun ein Ende, alles wird gut, Du darfst erwa­chen. – stop
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sumatra petit

9

india : 21.05 UTC — Es ist der 22. Juni, Abend. 30 °C Wär­me im Arbeits­zim­mer, 88 Pro­zent Luft­feuch­te, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, die so eben noch von einem Schirm­samm­ler erzähl­te, schnauft vor sich hin, jeder wei­te­re Satz scheint ihr Pro­zes­sor­herz auf­zu­re­gen. Ich selbst habe längst auf­ge­hört zu atmen, habe mei­ne Kie­men­schäch­te, die links und rechts hin­ter mei­nen klei­nen Ohren im Ver­bor­ge­nen lie­gen, geöff­net, nun bin ich ganz auf der siche­ren Sei­te. Mein Tele­fon­hö­rer ruht neben Lutz Sei­ler Zeit­waa­ge, ein Buch, das ich zur Stun­de kaum wage anzu­fas­sen, es konn­te zer­fal­len. Über­haupt bin ich heu­te ein wenig lang­sam in der Auf­nah­me der Wör­ter, ich lese sozu­sa­gen Buch­sta­be um Buch­sta­be vor­an. Über mei­nem Sofa haben sich drei Wol­ken­tür­me gebil­det, die bald blit­zen wer­den, ich ken­ne das schon, es blitzt und dann wird es reg­nen, die­sen wun­der­ba­ren Regen aus mei­nen Zim­mer­wol­ken, der nach Veil­chen duf­tet, ich weiß noch immer nicht war­um. Auf dem Fens­ter­brett ein Zei­sig, es ist kurz nach neun Uhr, Miles Davis So What, wir tau­chen. — stop
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samarkand

9

echo : 0.28 UTC — Am Tele­fon erzähl­te unlängst eine Freun­din, die 32 Jah­re län­ger lebt als ich selbst, sie höre mir gern zu, auch dann, sag­te sie, wenn du schnell sprichst. Sie gehe manch­mal kurz in die Küche und mache sich einen Tee oder lese in einem Buch über die Stadt Samar­kand. Hin und wie­der ste­he sie auf dem Bal­kon und betrach­te den Abend­him­mel, das Tele­fon ruhe indes­sen stets in Hör­wei­te auf dem Wohn­zim­mer­tisch. Ich ver­neh­me Dich also, lie­ber Lou­is, ich mag dei­ne Stim­me, aber Du soll­test ler­nen, Pau­sen zu machen, lang­sa­mer zu wer­den. Ich ant­wor­te­te: Ja, das ist gut, ich bin schon seit eini­gen Wochen in der Übung lang­sa­mer zu wer­den. Es ist sehr ange­nehm, lang­sam zu gehen und lang­sam oder gar nicht zu spre­chen. Fort­an wer­de ich, das ist ein Ver­spre­chen, immer wie­der ein­mal zu Hau­se oder unter­wegs eine Pau­se ein­le­gen. Dann frag­te ich: Was macht man denn so in einer Pau­se? — Es ist sehr schön wie mei­ne Freun­din lacht. Sie reist viel her­um, nach Ame­ri­ka, nach Paris, nach Jeru­sa­lem. — stop
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