whiskey : 2.03 — Intensives Gespräch mit einem Pater über Geheimnisse, die ich im Leben eines fremden Menschen entdeckte. Er bemerkt, eine Situation, wie die vorgestellte Situation, wäre ihm sehr vertraut, ich solle bedenken, man würde Geistlichen während der Beichte Geheimnisse gerne vorsätzlich erzählen. Mit Geheimnissen, erklärte der Pater, insbesondere mit zufälligerweise entdeckten Geheimnissen jeder Art sei würdig umzugehen, indem man ihre Entdeckung verschweigt und sie allmählich tatsächlich vergisst. — stop
von zeitungen
india : 3.18 — Morgens liegt die Tageszeitung wie ein Wunder vor der Tür, an jedem der Tage einer Woche, nur an Sonntagen nicht. Es existieren Winterzeitungen, die von Schnee bedeckt sind, und Sommerzeitungen, welche kühler sind als die Morgenluft, außerdem Herbstzeitungen und Frühlingszeitungen. Herbstzeitungen sind von Blättern bedeckt, feucht vom Nebel der Morgenstunden, feucht wie Frühlingszeitungen, die nur feucht sind, aber nicht von Blättern bedeckt. Alle diese Zeitungen sind schwere Objekte in den Händen einer alten Frau. Es ist immerzu sehr viel geschehen seit der Zeitung des Tages zuvor, und auch jene frühere Zeitung war schwer gewesen, weil viel geschehen war in der Zeit, als die alte Frau im Garten arbeitete. Ja, das Gehen fällt nicht mehr so leicht, und auch das Lesen nicht. Es geschieht so viel, sagt die alte Frau, und sie meinte vielleicht, dass zu viel geschieht, dass die Zeitung zu schwer geworden ist, für ihre alten Hände. Und sie sagt, dass sie nicht alles, was in der Zeitung geschrieben steht, lesen könne, sie sagt das so, als ob sie meinte, es sei zu viel in der Zeitung geschrieben, das sie nicht lesen würde, sie sei der Zeitung nicht länger würdig, weswegen wir nun hoffen und darüber nachdenken, was vielleicht zu tun ist in dieser Zeit, das die papierenen Zeitungen zu schwer geworden sind. — stop
lichtzeituhr
echo : 3.18 — Liesl, die vor wenigen Tagen 85 Jahre alt wurde, erzählte von einer Zeitschaltuhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzubringen wünschte. Er habe, hatte ihr Sohn berichtet, nachts immer wieder einmal wahrgenommen, dass Liesl einschlafen würde, ohne ihre Nachttischlampe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Lichtscheins, den er vom Schlafzimmer der Mutter her kommen sah, aufgestanden und habe sich vorsichtig an ihr Bett begeben und das Licht gelöscht. Einmal habe er überlegt, ob er nicht das Gesicht seiner schlafenden Mutter, wie zum Beweis fotografieren sollte, ein so helles Gesicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, das Gesicht einer tatsächlich Schlafenden zu betrachten. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie keine Zeitschaltuhr neben sich wünsche, sie sei doch kein Aquarium, habe sie gesagt, lieber schlafe sie im strahlenden Licht der Nachtlampe ein, plötzliche Dunkelheit, um Himmelswillen, nein. Ihr Sohn reiste wieder ab. Liesl erzählte, dass sie mit ihm nie wieder über Zeitschaltuhren gesprochen habe, unlängst aber, in einer Septembernacht, sei dann plötzlich das Licht ausgegangen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vorsichtig aus dem Bett gestiegen, sei auf Knien durch das stockdunkle Zimmer gekrochen zu einem Lichtschalter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewesen, Donnerwetter! — stop
oqaatsut
himalaya : 2.03 — Gestern erreichte mich eine Nachricht Opalkas. Er meldete sich aus einem grönländischen Städtchen, welches an der Westküste der Insel liegt. Er notierte: Lieber Louis, bei dichtem Schneetreiben mit Propellerflugzeug in Oqaatsut eingetroffen. Fischer Roon, der mich vom Flugplatz abholte, erzählte, es sei glücklicherweise nicht wirklich Winter geworden, — 7 °C, heftige Winde vom Meer, viel Schnee, haushohe Wehen, fast dunkel. Gegen Abend zu, im Schein der Lampen einer Schneeraupe, besuchten wir einen Strand. Unter der dichten Haut von feinem Schnee waren noch Spuren eines gestrandeten Wals zu erkennen, Rudimente seines Schädelknochens, Teile der Wirbelsäule. Das Eis weit draußen, das sich heftig bewegte, donnerte zu uns herüber, es ist wunderbar, der Boden zitterte und mein Atem pulsierte unter dem Eindruck zarter Luftdruckwellen. Ich werde Dir in den kommenden Tagen eine Tonaufnahme der Eismeergeräusche anfertigen, auch Du wirst vermutlich begeistert sein. Lidvien, die im Magen des Wals jenen Rechner entdeckte, den ich für Dich untersuchen werde, wird bald eintreffen. Sie soll das Gerät bereits geöffnet und eine Indizierung der Dateien vorbereitet haben. Bald Nacht, lieber Louis, wünsch Dir eine gute Zeit, freu mich, dass J. bald wieder aufwachen wird. Dein Opalka. — stop
von frauen unter zelten
olimambo : 0.55 — Vor Straßenbahnhaltestellen warten Flüchtlingsmenschen in Trainingsbekleidung, Familien, sie steigen nicht ein, sie schauen, schauen diese seltsamen Menschen an, beobachten vielleicht das Leben hier im Norden, Einheimische, wie sie aus Straßenbahnen steigen. Im Foyer des Hospitals ein junger Mann an der Seite eines Wesens, das sich als wandelndes Zelt darstellt, schwarz, mit einem Sehschlitz. Dort sind ein paar Augen zu erkennen. Eine irritierende Erscheinung. Ich werfe dem Wesen, vermutlich einer Frau, im gehbaren Zelt einen Blick zu in einer konzentrierten, direkten, auch fragenden Weise, die für mich nicht üblich ist. Im Flur vor der Intensivstation, weitere Frauen in schwarzen Gewänderzelten, die Gesichter dieser Frauen liegen jedoch frei. Ich vermag ihre Nasen, ihre Münder, gleichwohl ihre Augen zu sehen, ihr scheues Lächeln. Sie stehen auf Zehenspitzen, sprechen in ein Mikrofon, das an einer Wand befestigt ist neben einer Tür von opakem Glas. In englischer Sprache erkundigen sie sich nach ihrem Vater, der auf der Intensivstation liegen soll. — stop
herbst
nordpol : 17.05 — Das Wort Heparin, welches einen Wirkstoff bezeichnet, der zur Hemmung der Blutgerinnung eingesetzt wird, ist ein altes Wort. Es ist in meinen Ohren ein altes Wort, weil ich mich erinnern kann, dieses Wort bereits als Kind gehört zu haben, wie mir scheint, solange Zeit kenne ich dieses Wort, es ist ein Wort, sagen wir, meiner Lebenszeit, ein auch unheimliches Wort. — Samstag. Spaziergang im Nymphenburger Schlosspark. Der Herbst springt mit seinen Farben in die Bäume. Schwäne segeln, gefächerte Flügel, über einen See ohne Wind. Das Geräusch der Schritte auf dem sandigen Boden, der wieder trägt. Eichhörnchen toben mit ihren rasenden Herzen durchs Laub. Schlafende Menschen, wenn sie aus dem Tiefschlaf erwachen, werden sie weinen. — stop
=
echo : 2.02 — s t e r n z e l l e
gedankenstimme
tango : 1.03 — Ein schlafender Mensch. Er schläft nun seit 132 Stunden ohne Unterbrechung. Maschinen schnurren und piepsen in seiner Nähe. Ich hatte die Vorstellung, der schlafende Mensch wäre vielleicht nicht in der Lage zu hören, wie ich laut aus einem Buch vorlese, ich dachte, dass er aber möglicherweise meine Gedanken empfangen könne, wenn ich lese und die Wörter, die ich lese, nicht spreche, sondern denke. Also lese ich wie immer, wenn ich ein Buch studiere, ich bewege nur meine Augen und meine Gedanken, meinen Mund bewege ich nicht. Und wie ich mich so beobachte, bemerke ich, dass ich die Wörter im Kopf so nachdrücklich denke, dass ich den Mund meiner Gedankenstimme zu spüren meine. — stop
im zug
tango : 18.55 — Das Besondere an der Fahrkartenkontrolle, der ich so eben noch in einem Schnellbahnzug beiwohnte, findet sich in dem Wort Fahrkartenkontrolle selbst. Dieses Wort wurde nämlich von einem jungen chinesischen Paar kurz nach der Überprüfung so lange laut sprechend wiederholt, bis sie einander bestätigten, das Wort tatsächlich gelernt zu haben. Sie sahen sich, während sie das neue Wort gewissermaßen probten, je auf den Mund, als ob sie insbesondere mit ihren Augen, weniger mit ihren Ohren überprüfen wollten, ob das Wort korrekt formuliert worden war. — stop
vom tiefschlaf
bamako : 18.15 — Früher Abend. Viel Regen. Kein Wind. Ich sitze in einem Krankenhaus am Bett eines Menschen, der schläft. Der Mensch, von dem ich erzähle, ist zurzeit ein Schlafmensch. Er schläft seit 106 Stunden ohne Unterbrechung, weil er in einen Tiefschlaf versetzt wurde, weil seine Lunge sehr krank geworden ist, ich ahne, er wird weitere 106 Stunden schlafen, ehe man ihn wecken wird. Ein seltsamer Tag. Maschinen, die mit Schläuchen und Sensoren nach dem schlafenden Menschen greifen. Sie piepsen, wenn sie nicht zufrieden sind. Ich habe an diesem seltsamen Tag gelernt, dass es nicht leicht ist einem schlafenden Menschen aus einem Buch vorzulesen. — stop