Aus der Wörtersammlung: folgen

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upper east side : mail

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india : 2.08 — Im 22. Stock des Hau­ses in Man­hat­tan, in dem ich woh­ne, befin­det sich vor Auf­zü­gen ein Brief­kas­ten der United Sta­tes Pos­tal Ser­vices, ein Schlitz, der in die Wand ein­ge­las­sen wur­de, ein guss­ei­ser­ner Mund, genau­er, mit einem schwe­ren Häub­chen von roter Far­be. Ich war im Postof­fice an der Penn Sta­ti­on gewe­sen, um eine Brief­mar­ke zu besor­gen und einen Brief­um­schlag, eine Post­kar­te hat­te ich schon, sie zeigt eine Foto­gra­fie der Mund­har­mo­ni­ka Jack Kerou­acs. Ich habe nun Fol­gen­des unter­nom­men. Ich habe auf die Post­kar­te einen Satz für mich selbst notiert, der natür­lich geheim blei­ben muss. Dann habe ich die Post­kar­te in den Brief­um­schlag gesteckt, mei­ne Adres­se notiert und den Brief in den klei­nen Mund vor den Auf­zü­gen gesteckt. In dem Moment, da ich den Brief aus den Hän­den in die Tie­fe glei­ten ließ, mein Ohr hat­te ich dicht an den Schlitz her­an­ge­führt, war kein Geräusch zu hören gewe­sen, als ob der Brief in einem Nichts ver­schwin­den wür­de. — Spa­ziert im Cen­tral Park. Leich­ter Regen. Eine Stadt vol­ler Men­schen unter Schir­men, die mit­ein­an­der zu spre­chen schei­nen. – stop

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roosevelt island : lawrence

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ulys­ses : 1.58 — Wol­ken­lo­ser Him­mel. ‑8° Cel­si­us. Ich tra­ge heu­te zum ers­ten Mal Law­rence spa­zie­ren unter Man­tel, Pull­over, Hemd unmit­tel­bar auf mei­ner Haut, ein Schlan­gen­we­sen mit einem klei­nen Kopf, der in der Nähe mei­nes Hal­ses zu lie­gen gekom­men ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal her­vor, man muss sich das ein­mal vor­stel­len, Lawrence’s sand­far­be­nen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrock­ne­ten Speck­strei­fen füt­te­re, wäh­rend ich durch die knis­tern­de Win­ter­luft stel­ze. Ich kann Law­rence hören, er ist ein lei­ser, ein gemäch­li­cher Fres­ser. Und die Wär­me füh­len, wun­der­voll, die sein fein­häu­ti­ger Kör­per erzeugt, der mich fest umwi­ckelt, mei­ne Brust, mei­nen Bauch, mei­ne Arme, mei­ne Bei­ne. Speck für sechs Stun­den Wan­der­zeit habe ich in mei­ne Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vor­mit­tags, um kurz vor vier Uhr nach­mit­tags soll­te ich zurück­ge­kom­men sein, dann sehen wir wei­ter. Sonn­tag ist gewor­den. Und so gehen wir an die­sem Sonn­tag also spa­zie­ren, Law­rence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Ave­nue nord­wärts und ein wenig durch den Cen­tral Park. Tau­sen­de hel­ler Wölk­chen stei­gen dort aus den Mün­dern tau­sen­der New Yor­ker Men­schen. Höhe 67. Stra­ße dre­hen wir wie­der um, lau­fen zurück, fol­gen der 59. Stra­ße west­wärts, bis wir den East River errei­chen, Roo­se­velt Island Tram­sta­ti­on. In der Seil­bahn über­ge­setzt, ein­mal hin und sofort wie­der zurück, Ping­pong. In einem Baum, 61. Stra­ße, lun­ger­ten Hun­der­te schla­fen­der Tau­ben, als wären sie Blü­ten. — stop

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central park : hurly-burly

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lima : 12.05 — Im Lärm (noi­se . hub­bub . hur­ly-bur­ly) der Stadt im Cen­tral Park süd­lich der Straw­ber­ry Fields (72nd Street) das Sin­gen oder Kla­gen der Kin­der­schau­kel, lei­se und doch weit­hin hör­bar. Die Idee, eines der mus­ku­lö­sen Eich­hörn­chen des Gar­tens wür­de mir fol­gen, wür­de mich erken­nen, wür­de sich erin­nern, Squir­rel No 5256, Fran­kie, Bil­ly. — stop
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new york — hurricane deck

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tango : 22.28 — Von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de. Als wär der Sonn­tag ohne Augen­licht gewe­sen. Als hät­te ich nur geträumt, über den Atlan­tik geflo­gen zu sein, fünf­tau­send Kilo­me­ter schloh­wei­ßer Wol­ken­de­cke bis kurz vor Neu­fund­land. Jamai­ka-Sta­ti­on. Roo­se­velt Island. Lex­ing­ton Ave­nue. Das hel­le Zim­mer im 22. Stock. Ein küh­ler Wind bläst über den Bal­kon. Rau­schen von tief unten von der Stra­ße her. Wie ich bald vor das Haus tre­te, kommt mir eine älte­re Frau ent­ge­gen, in einen fei­nen Man­tel­stoff gehüllt, Hän­de seit­lich gegen den Hals gefal­tet. Eigent­lich müss­te ich ihr unver­züg­lich fol­gen, sehen, war­um sie das macht, einer Geschich­te fol­gen, und die­sem damp­fen­den, rot und grün und blau blin­ken­den Dioden­hund, der sie beglei­tet, einem Rie­sen­tier, das ich berüh­ren soll­te, sei­ne Tem­pe­ra­tur zu füh­len. Ich ver­ste­he an die­sem Abend kein Wort in mei­nem Kopf. Ja, die­ses Rau­schen der Stadt. Süd­wärts wan­dern. Aus dem Boden sind die Stim­men der Sub­way­spre­cher zu hören, next sta­ti­on : grand cen­tral, das Rum­peln, das Zischen der Züge. Ich könn­te ein paar Stun­den noch so wei­ter­ge­hen und schla­fen. — stop

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beobachtung

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del­ta : 16.38 — Wie sich die Flo­cken des Schnees in eigen­ar­ti­ger Wei­se beneh­men, sobald ich sie aus der Nähe betrach­te, je nach Dich­te, Tem­pe­ra­tu­ren der Luft, Wind­ver­hält­nis­sen, fal­len sie senk­recht mit höhe­rer Geschwin­dig­keit oder sehr lang­sam mit einer wie­gen­den, schau­keln­den Bewe­gung gegen den Erd­bo­den zu. Ich ver­mu­te, einer ein­zel­nen Flo­cke mit den Augen zu fol­gen, ist eine eben­so schwie­ri­ge Auf­ga­be, wie einen ein­zel­nen Fisch in einem Schwarm für Minu­ten im Blick zu behal­ten. Nie kann ich sicher sein, ob ich nicht viel­leicht bereits eine ande­re, eine ähn­li­che Schnee­flo­cke oder einen ande­ren, einen ähn­li­chen Fisch ins Auge fas­se. Der Sekun­den­schat­ten eines Lid­schlags. – stop

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puma 15 gramm

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echo : 7.05 – Abend war gewor­den. Wär­me stieg vom Holz des Tisches auf, die Luft beweg­te wie die Sei­ten des Buches, in dem ich las, als sich ein unbe­kann­tes Wesen auf lan­gen Bei­nen von Wes­ten her kom­mend näher­te. Eine tat­säch­lich höchst merk­wür­di­ge Erschei­nung war das gewe­sen. Irgend­je­mand hat­te den Kopf eines fili­gra­nen Tro­pen­vo­gels, den Kör­per eines Insekts und das Bewe­gungs­ver­mö­gen einer Raub­kat­ze lose ver­schraubt und frei­ge­las­sen. Geräusch­los, auf Giraf­fen­bei­nen, stol­zier­te das Mon­tier­te nun über mein Buch hin­weg, lang­sam, furcht­los, sodass ich alles genau betrach­ten konn­te. Indes­sen schien sich das Wesen nicht im min­des­ten für mich, sei­nen Beob­ach­ter, zu inter­es­sie­ren, son­dern war allein um das Buch bemüht, viel­leicht des­halb, weil das Buch ange­nehm duf­te­te. Nach eini­gen Minu­ten der Papier­un­ter­su­chung leg­te sich das Tier mit­tels einer gra­zi­len Sink­be­we­gung seit­wärts auf den Tisch und lag genau dort immer noch, als ich am fol­gen­den Mor­gen zurück­kehr­te, um wei­ter­zu­le­sen. Ich blieb dann eini­ge Zeit wie gebannt unter frei­em Him­mel sit­zen und beob­ach­te­te das frisch ent­deck­te Lebe­we­sen, wie es fraß, wie es ruh­te, wie es bade­te, atme­te, nach Flie­gen jag­te. Und weil ich nichts ver­ges­sen woll­te, notier­te ich, was ich sah und was ich den­ken konn­te, ich schrieb unter ande­rem fol­gen­de Notiz: Flü­gel­lo­ses Misch­we­sen. stop Haut­far­be blau. stop Fleisch­fres­ser. stop 15 Gramm. stop Sprach­los. stop Ich arbei­te­te fie­ber­haft. Drei Tage, drei Näch­te. Ein­mal leg­te ich mei­nen Kopf auf den Tisch, schlief ein und träum­te, wie sich der Kör­per des Tie­res öff­ne­te. Flü­gel ent­fal­te­ten sich, das Tier schweb­te, schnur­ren­des Geräusch, über mei­nem Gesicht auf und ab. stop. Schnee bis ins Tal. — stop
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anna politkowskaja

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tan­go : 7.05 — Luft, so klar und leicht, dass ich ein Wort erfun­den habe oder kom­po­niert oder gemalt oder wie auch immer. Wenn man das Wort wie­der­fin­den woll­te, müss­te man Fol­gen­des sagen: m a n i t u l u l u m b a. Kurz dar­auf ein wei­te­res Wort ent­deckt, ein Wort, das mir noch wun­der­ba­rer zu sein schien, als das ers­te hier genann­te Wort, wes­we­gen ich das Wort im Moment sei­ner Erfin­dung sofort ver­schenk­te. — Natür­lich, bemerkt Anna Polit­kows­ka­ja im Jahr 2003, habe sie Grün­de, Angst um ihr Leben zu haben. Ich ver­su­che, nicht dar­an zu den­ken. — stop
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polartrompete

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gink­go : 6.55 — Eine Käfer­ge­stalt, die glei­cher­ma­ßen die Eigen­schaf­ten eines Trom­pe­ten­kä­fers wie die Eigen­schaf­ten eines Polar­kä­fers in sich ver­ei­ni­gen wür­de, ein Käfer dem­zu­fol­ge, der Trom­pe­ten­ge­räu­sche von sich zu geben in der Lage wäre einer­seits, ander­seits sich vom Licht der Son­ne ernähr­te, von feins­ten Stäu­ben der Luft und vom gefro­re­nen Was­ser zu sei­nen Füßen. Die­se Per­sön­lich­keit wäre das ers­te Wesen sei­ner Gat­tung, die ant­ark­ti­sche Land­schaft bewohn­te, ein Käfer feins­ter Musik. Er wür­de ver­mut­lich Geräu­sche der Eis­stür­me nach­emp­fin­den, wür­de sich mit Horn­fü­ßen in den Boden stem­men, wür­de das erin­ner­te Sau­sen pola­rer Nord­win­de mit dem erin­ner­ten Sau­sen pola­rer Süd­win­de ver­quir­len, West und Ostor­ka­ne dar­über pfei­fen, ohne je zu wis­sen, war­um er in die­ser Wei­se han­del­te. Und wenn man nun reis­te? Nun, der Kof­fer eines Trom­pe­ten­kä­fers pola­ren Ursprungs soll­te einer Zigar­ren­kis­te ähn­lich sein. Ich mei­ne die Grö­ße des Kof­fers, in deren gefüt­ter­ter Mit­te eine Ver­tie­fung zu fin­den wäre, den prä­zi­sen Kör­per­li­ni­en des Käfers fol­gend, sodass sich der Käfer dort ein­schmie­gen wür­de, schla­fen, ohne im Kof­fer selbst hin und her zu fal­len. Nicht rot der Samt des Fut­te­rals, son­dern weiß, näm­lich von Schnee gemacht, weil es sich bei dem Rei­se­kof­fer eines Trom­pe­ten­kä­fers pola­ren Ursprungs nicht eigent­lich um eine Zigar­ren­schach­tel han­del­te, viel mehr um einen Rei­se­kühl­schrank in der Gestalt eines höl­zer­nen Behäl­ters für Rauch­wa­ren in läng­li­cher Form. — Ort: Dome A. Posi­ti­on: 80°22’ S 77° 21’E. Tem­pe­ra­tur: — 82,5 °C. – stop

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PRÄPARIERSAAL : skalpell

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tan­go : 8.58 — Lydia, 23, notiert über ihre Erfah­rung eines Prä­pa­rier­saal-zep­pe­lins Fol­gen­des: > Ist Dir das auch auf­ge­fal­len, dass sich wäh­rend des Sezie­rens kaum jemand ver­letz­te? Ich habe mich dar­über immer wie­der gewun­dert. Vor allem dann, wenn ich auf dem Tisch Skal­pel­le und Gewe­be­tei­le lie­gen sah. Ich erin­ne­re mich, dass ich zusam­men­ge­zuckt bin, wenn jemand schrie oder laut lach­te. Ich habe dann gedacht: Jetzt ist es pas­siert. Die­se Skal­pel­le sind sehr scharf. Aber viel­leicht hat die Art und Wei­se, wie wir das Werk­zeug in Hän­den hiel­ten, das Schlimms­te ver­hin­dert. Wir haben aus dem Hand­ge­lenk her­aus gear­bei­tet und nicht mit der Kraft des gan­zen Arms. Fas­zi­nie­rend fand ich, den Brust­korb zu prä­pa­rie­ren; die Lun­ge zu sehen, wie groß sie eigent­lich ist und in wel­chem Bezug sie genau zum Her­zen liegt. Vor allem war es aber span­nend, die Kon­sis­tenz eini­ger Orga­ne oder Organ­tei­le zu erfah­ren. Die Herz­klap­pen sind unglaub­li­che Kon­struk­tio­nen und auch das schwam­m­ähn­li­che Gewe­be der Lun­ge ist anfangs sehr unge­wöhn­lich. Schwie­rig­kei­ten hat­te ich mit kei­ner Regi­on direkt, aber ich war sehr froh gewe­sen, dass die Prä­pa­ra­ti­ons­ar­bei­ten am Kopf meist von ande­ren Stu­den­ten erle­digt wur­den. Ich habe gera­de das Gesicht eines Men­schen als etwas sehr Per­sön­li­ches ange­se­hen. Das Gesicht ist das, was die Indi­vi­dua­li­tät eines Men­schen aus­macht, ein Gesicht zu zer­stö­ren, war für mich eine schwie­ri­ge Situa­ti­on. Alles Gute! – stop
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beobachtung

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india : 14.55 — Ich habe fol­gen­des beob­ach­tet: Wenn ich für ein oder zwei Minu­ten mit geschlos­se­nem Auge in einem Zim­mer ste­he, der Ein­druck, eine Hälf­te mei­nes Kop­fes ver­lo­ren zu haben. Sobald ich das geschlos­se­ne Auge wie­der öff­ne oder mein zwei­tes Auge mit einem Lid bede­cke, kehrt in der Emp­fin­dung die ver­schwun­de­ne Hälf­te mei­nes Kop­fes zurück. Ein­äu­gig erken­ne ich wei­ter­hin eine Sei­te mei­ner Nase, die unver­züg­lich ver­schwin­det, in dem ich bei­de Augen öff­ne. – stop



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