olimambo : 0.02 — Das weiße Papier ist niemals leer. Diesen Satz habe ich gestern Nachmittag gegen 15 Uhr genau so notiert, wie er hier verzeichnet ist. Ich saß am kleinen See im Palmengarten und dachte an Herzen und solche Dinge, und als ich den Satz eine Stunde später noch einmal gelesen habe, konnte ich nicht sagen, warum ich den Satz eigentlich aufgeschrieben hatte. Das war ein merkwürdiger Moment gewesen, diese Sekunde, da ich bemerke, dass ich einen Satz, den ich selbst ausgedacht, nicht erkennen konnte. Trotzdem gefiel mir der Satz. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um einen wahren Satz handeln könnte, und dass ich nur abwarten müsse, bis sich sein feines Wesen zeigen wird. Und so lausche ich nun also. Irgendetwas brummt in meiner nächsten Nähe. Dämmerung. Und ich stelle mir vor, wie gut es doch wäre, wenn Menschen für eine gewisse Zeit ihre Herzen teilen könnten. Man meldet sich zum Beispiel in einem Hospital. Guten Abend, sagt man, guten Abend, wir haben heute Nacht etwas Zeit, mein Herz und ich. Und dann fährt man unverzüglich los, man fährt durch die Stadt und ihre Lichter und Düfte und legt sich sehr bald zu einem Menschen, dessen Herz schwach geworden ist, verbunden liegt man Stunden still.
Aus der Wörtersammlung: herzen
blattlicht
lima : 0.01 — Und schon ist wieder März geworden. Warme Luft pfeift übers Dach, und Blätter, Blätter von Sonnenlicht, sie schaukeln vor dem Fenster. So fein sind sie gewirkt, dass nichts sie zu berühren vermag als meine Gedanken. Höchste Zeit von kleinsten Wesen zu erzählen, wie man sie findet, da sie doch unsichtbar sind, und wie man mit ihnen sprechen oder reisen oder gemeinsam warten könnte, sobald man ihnen begegnet sein wird. — Papierene Herzen. — stop
animals
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : ANIMALS
Gestern, stellen Sie sich vor, habe ich die erste Fotografie eines Papiertierchens entgegengenommen. Sie zeigt das kleine Wesen, wie es sich durch die Luft eines abgedunkelten Labors bewegt. Bin voller Freude, habe den halben Tag herumgetanzt, sollte langsam zur Ruhe kommen. Eine Kopie der Aufnahme ist für Sie beigefügt. Sieht das nicht kraftvoll aus, eine Persönlichkeit, ein Wunder! Ich komme meinen Träumen nun endlich näher, meinen Wünschen, meinen Geschichten in der Wirklichkeit. Nehmen wir einmal an, lieber reisender Freund, ein Bogen lebenden Papiers in der Größe 15 x 30 Zentimeter würde aus 750000 Tieren bestehen, ja, und nehmen wir einmal an, dieses Papier würde schon jetzt in unserer Welt existieren, dann würden vor uns auf einem Schreibtisch 750000 kleine Herzen schlagen. Da muss doch irgendein Geräusch wahrzunehmen sein, so viele Herzen in nächster Nähe auf engstem Raum. Auch einen Hauch von Luft wird man wohl spüren, eine Strömung, weil sie alle durcheinander atmen. — Ahoi! Ihr Louis
gesendet am
06.02.2010
23.55 MEZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
zigarillo
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : ZIGARILLO
Mein lieber Jonathan, Depesche westwärts. Habe an diesem endenden Tag viele Stunden lang Herzen betrachtet und über Zeppelinfluchthandtaschen nachgedacht. Bald noch ein wunderbarer Film, Blue in the face, ein Film, der mir so vertraut geworden ist, dass ich ihn in meinem Kopf abspielen könnte wie einen Traum. Ich müsste dann Folgendes träumen in der zweiten Minute der Zeit, einen Tabakwarenladen träumen, das Jahr 1995 nahe Prospect Park in Brooklyn, Lou Reed, wie er hinter der Theke des Ladens steht. Er raucht ein Zigarillo, nimmt einen tiefen Zug, beginnt zu sprechen, ruhig, entspannt. Er sagt: Ich denke einer der Gründe, weswegen ich in New York lebe ist, weil, ich kenn mich aus in New York. In Paris kenn ich mich nicht aus. Ich kenne mich nicht aus in Denver. Ich kenn mich nicht aus auf Maui, und ich kenn mich nicht aus in Toronto. Und so weiter und so fort. Ich tu’s also fast aus Bequemlichkeit. Na ja, ich kenne kaum jemanden, der in New York wohnt und nicht gleichzeitig sagt: Ich geh weg! Also ich denke auch schon lang übers Weggehen nach, ungefähr seit 35 Jahren. – Ja. — Ich bin jetzt fast so weit. – Schlafen sie wohl, mein lieber Kekkola, wo auch immer Sie sind! Ihr Louis
gesendet am
21.01.2010
23.32 MEZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
papiere
tango : 0.05 — Gestern Abend, kurz vor sechs Uhr war es gewesen, bin ich einem seltsamen Mann begegnet, und zwar in einer U‑Bahn Downtown. Aber das spielt für die kleine Geschichte, die ich rasch erzählen möchte, nicht wirklich eine Rolle, ich meine, zu welcher Zeit wir in welche Richtung gemeinsam fuhren. Bedeutend war vielmehr gewesen, dass ich es nicht eilig hatte, genau genommen hatte ich so viel Zeit zur Verfügung wie seit Wochen nicht, weshalb ich den Geräuschen meines Herzens lauschte und dem Rascheln der Zeitungspapiere, die zu jenem seltsamen Mann gehörten. Er saß gleich vis-à-vis, die Beine übereinander geschlagen. Ich hatte den Eindruck, dass er sich freute, weil ich staunend beobachtete, wie er Zeitungen durchsuchte, die sich auf dem Sitzplatz neben ihm türmten, und zwar in einer sehr sorgfältigen Art und Weise durchsuchte, jede der Zeitungen Seite für Seite. Er schien Übung zu haben in dieser Arbeit, seine Augen bewegten sich schnell und ruckartig, wie die Augen eines Habichts. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, sein Kopf neigte sich dann leicht nach vorn, um, mit einer Schere, einen Artikel oder eine Fotografie herauszuschneiden. — Das Rascheln des Papiers. — Das helle, ziehende Geräusch der Schere. — In dem ich den Mann beobachtete, erinnerte ich mich, dass ich selbst einmal Monate damit zugebracht hatte, den Ungerechtigkeiten dieser Welt mit einem Archiv von Beweisen zu begegnen, deren eigentliche Substanz jenseits der Titelzeile ich später nie gelesen habe, weil es zu viele gewesen waren. — Montag ist geworden und die Famen und Cronopien singen traurige Lieder durch die Nacht.
segelohren
whiskey : 23.33 — Manchmal, wenn ich nach Wörtern, Sätzen, Auswegen suchend durch meine kleine Wohnung spaziere, glaube ich, auf einem Boden zu handeln, der nicht fest ist, der schwankt, der schlingert. Ich gehe dann sofort andersherum, dieselbe Strecke oder einmal kurz aus dem Haus rüber zum See, der in diesen Tagen längst zugefroren sein müsste. Das hilft gegen Seekrankheit auf dem Nachtschiff und alle weiteren Dinge. — Kurz vor Mitternacht. Ruhige, entspannte Arbeitsstunden stehen bevor. Ich hatte seit dem frühen Abend eine Frage in meinem Kopf so lange vergeblich hin und her bewegt, dass ich sie nun guten Gewissens zur Seite legen kann. Sie wird wiederkommen. Ich versuchte nämlich zu verstehen, weshalb Barack Obama auf den Einsatz der Landminenwaffen, die insbesondere gegen zivile Menschen wirken, nicht verzichten will oder kann. In diesen Momenten der Irritation, wieder die Ansicht, wie viel ich nicht weiß, eine Ahnung, die sich nur schwer weiterdenken lässt. Aber die Herzen der Tiefseeelefanten sind mir bekannt, sind vertraut, kommen näher und näher wie ihre Ohren, fantastische Hautsegelflächen, die sie sanft über den sandigen Boden des Atlantiks tragen. – Gute Nacht!
Geraldines Sommerhut
~ : geraldine
to : louis
subject : MEIN SOMMERHUT
Ahoi, Mr. Louis! Heute ist ein ganz besonderer Tag. Ich fühle mich wie neugeboren. Ja, wie neugeboren. Als ich gestern erwachte, saß der Doktor an meinem Bett. Ich hörte seine Stimme. Er sagte, ich glaube Geraldine wird wach. Und als ich die Augen geöffnet habe, lachte der Doktor und Mama lachte auch. Sie erzählten mir, dass ich zwei Tage geschlafen habe und ich weiß nicht, warum ich so lange Zeit geschlafen habe. Wenn Sie mich jetzt doch nur sehen könnten, Mr. Louis, wie ich in meinem Korbstuhl am Bug des Schiffes sitze und das helle Haar schäumenden Wassers betrachte, das wir hinter uns her ziehen. Ich trage meinen Sommerhut, den ich so liebe und ich hoffe, dass er mir nicht davonfliegen wird. Es ist heute sehr windig, müssen Sie wissen. Wie ich diesen Wind doch mag, seinen Duft. Aber das Schönste ist, dass ich ganz bunt bin im Gesicht. Mama hat mich geschminkt und jetzt sitze ich da und versuche meinen Mund nicht zu bewegen, damit mir die feine rote Farbe nicht verrutscht. Vielleicht wollen Sie wissen, warum ich mich geschmückt habe? Das will ich Ihnen gerne erzählen. Ich habe vor, meinen kleinen Steward heute noch nach seinem Namen zu fragen. Immerhin weiß er meinen Namen und deshalb habe ich wohl das Recht, auch seinen Namen zu wissen. Ich kann ihn sehen, während ich diesen Brief an Sie schreibe. Er arbeitet auf dem Unterdeck und ich sitze hier oben und schaue mit pochendem Herzen zu ihm hin und bewundere seine feinen, kleinen Schritte, wie er auf den Wellen tanzt. Manchmal denke ich, dass ich viel zu alt für ihn bin, aber das stimmt natürlich nicht, weil er 25 Jahre alt sein muss und ich bin nur 20, wie sie wissen. Und doch fühle ich, dass ich etwas schwerer bin an Zeit als er, den ich doch so liebe. Ich glaube, er hat mich schon bemerkt, er wird bald kommen, er tut nur so, als würde er mich nicht sehen. Ich muss jetzt aufhören, Mr. Louis, ich bin so schrecklich aufgeregt! Ist das nicht wunderbar, Mr. Louis? — Ich grüße Sie herzlich. Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 22.01.2009
20.12 MEZ
seide
alpha : 6.55 — Gestern Abend um 22 Uhr und 8 Minuten folgende E‑Mail: „Und? Hat Nabokov schon geantwortet? N.“ Seither warte ich. Als ob ich in den vergangenen Wochen nicht genug gewartet hätte. Auf Schnee, zum Beispiel. Hemingway, vor zwei Jahren, antwortete gar nicht, Lowry nach drei Monaten und in einer Weise, die ich bis heute nicht enträtselt habe. Aber Djuna Barnes, um Himmels willen, Djuna Barnes, als hätte sie meine Zeilen erwartet, antwortete noch in der Stunde meines Schreibens. stop. Ich muss das suchen. stop. Geräuschwort für 750000 vorwärts schlagende Herzen bisher nicht entdeckt. stop Regen. stop. Seidig. stop. Als würde der Erdboden schwitzen. — stop
animals : herzgeräusch
romeo : 7.52 — Nehmen wir einmal an, ein Bogen lebenden Papiers in der Größe 15 x 30 Zentimeter würde aus 750000 Tieren bestehen, ja, und nehmen wir einmal an, dieses Papier würde bereits in der wirklichen Welt existieren, dann würden vor uns auf einem Tisch 750000 kleine Herzen schlagen. Und ich dachte mir unverzüglich, da muss doch irgendein Geräusch wahrzunehmen sein, so viele Herzen in nächster Nähe auf engstem Raum. Erinnerte mich an meine Verwunderung, als ich bemerkte, dass ich mein eigenes Herz nicht schlagen hören kann und auch nicht das Herz einer Geliebten, solange ich nicht mein Ohr an ihre Brust lege und in sie hineinhöre. Nun aber, in dieser Nacht eines sommerlichen Regens, zweifle ich nicht, dass man, wenn man sich mit einem Ohr einem meiner lebenden Papiere näherte, ein besonderes Geräusch vernehmen würde. Auch einen Hauch von Luft würde man wohl spüren, eine Strömung, weil sie alle durcheinander atmen. stop. Aufgabe für Sonntag. stop. Geräuschwort finden. — stop
animals : eine luftgeschichte
delta : 7.45 — Im Wesentlichen existieren drei Arten von Geschichten. Fertig anwesende, erlebte Geschichten. Rein aus der Luft gefangene, das heißt, erfundene Geschichten. Recherchierte Geschichten. stop. Animals, zum Beispiel, die Geschichte der Entdeckung lebender Papiere. stop. Eine Luftgeschichte. stop. Es ist jetzt zwei Uhr nachts. stop. Was brauche ich? stop. Zwei Kühlschränke, fünf U‑Bahnwaggons, drei Kaffeehäuser, eine Handvoll Abendsegler, Stadtmenschen, ein Radiogerät. stop. Und Papiertiere stop. Sehr kleine Herzen, ebenso kleine Gehirne, Münder und Verdauungstrakte. stop. Auch Propellerflügel. stop. Feinste Ware. stop. Was brauche ich noch? stop. Räume der Zeit und einen ersten Satz. stop. Geduld. stop. Das Geräusch meines Bleistifts auf grobem Papier.