kilimandscharo : 22.58 UTC — Und wieder die Frage, wie ist das mit der Wirklichkeit oder der Wahrheit in meinem schreibenden Leben? Jahrelang wohnte eine Schnecke in meiner Wohnung, außerdem ein Lichtenbergfalter, Springspinnen, Libellen, ein Puma und Teefliegen, immer wieder Teefliegen. Ich habe sie mit eigenen Augen alle gesehen oder mit meinen erfindenden Augen, die in meinem Kopf verweilen. Ich könnte deshalb sagen, nicht jeder meiner Trompetenkäfer wäre vorzeigbar, aber doch vorstellbar. Einmal ich eine weitere deutliche Spur gelegt hin zur Arbeitsbeschreibung, Radar war zu lesen unter jedem meiner Particles — Texte, ein Hyperlink, der auf einen Text verwies, welcher meine Arbeit beschreibt. Dieser Text existiert seit 15 Jahren, ich hatte jene Textpassage, die Wirklichkeit und Erfindung bedeutet, zunächst unterstrichen, dann, wenige Minuten später in kursive Zeichen gesetzt. Das musste genügen, und genügt immer noch. — Das Radio erzählt von einem schwer erkrankten Kind, das in einem Keller der Stadt Mariupol nahe des Meeresboulevards, solange leise gesungen haben soll, bis seine Stimme für immer verstummte. — stop
Aus der Wörtersammlung: ich
bei harrods
MELDUNG. Automobile, folgende, wurden nach einem Kaufhausbesuch zu London in Martha B., 88, vorgefunden. Magen ‑1 Saporoshez SAS-965A [ 1967 ] , Dünndarm — 1 GAZ M21 Wolga [ 1959 ], Dickdarm — SZA Türkise [ 1958 ]. Ein nachsichtiger Richter hatte die Durchsuchung des hochbetagten Bauches einerseits, sowie unmittelbare Rückführung der Fahrzeuge in das Warenhaus Harrods an der Brompton Road andererseits, dringend empfohlen. — stop
von den vasentieren
india : 3.15 UTC — Tagelang hatte ich überlegt, ob es sinnvoll wäre, über die Existenz der Vasentiere weiter nachzudenken. In diesem Diskurs mit mir selbst, hatten meine Vorstellungen über das Wesen und die Gestalt der Vasentiere, indessen weiter an Präzision zugenommen, ohne dass ich das zunächst bemerkte. Einmal wartete ich an einer Ampel unter einer Kastanie. Es war früher Abend gewesen und ich nutzte diese Situation des Innehaltens, um mir vorzustellen, wie es sein könnte, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigentlich nicht notwendig gewesen war, Vasentiere dürfen atmen, Vasentiere müssen atmen, und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, eine innere feste Struktur auszubilden, sagen wir, eben eine Art Behälter zu sein. Das ist gut gelungen, auch nachdem ich von einer Kastanie auf den Kopf getroffen worden war, bewegte ich mich nicht. In diesem Moment wurde stattdessen deutlich, dass Vasentiere niemals flüchten, weil sie nicht flüchten wollen und weil sie nicht flüchten können, ihnen fehlen Füße und Beine. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer organischen Konstruktion her begabt, Formen nachzuahmen, die geeignet sind, tiefere Gewässer in sich auszubilden, das ist nicht verhandelbar. Auch nicht, dass sie das Wasser zur Versorgung der Pflanzen, welchen sie Herberge bieten, aus der Luft entnehmen, sei sie noch so trocken. Möglich ist, dass Vasentiere, die in der Lage sind, mittels ihrer Gedanken Bewegung zu formulieren, eher unglückliche Wesen sein werden, daran sollte man unbedingt denken, ehe man sich an die Verwirklichung der Vasentiere machen wird. — Das Radio erzählt, hungrige Menschen hätten im März wilden Tauben nachgestellt, auch im April sei man unter Lebensgefahr auf Taubenjagd gegangen. — stop
notizen aus sarajevo : koffertext
ulysses : 18.55 UTC — Das Bändchen Notizen aus Sarajevo von Juan Goytisolo, das im Jahr 1993 in der Edition Suhrkamp erschien, muss einmal feucht oder nass geworden sein. Es wellt sich noch immer, obwohl es Jahre gepresst unter weiteren Büchern im Regal darauf wartete, wieder gelesen zu werden. Ich erinnere nicht, wo ich das Buch gelesen hatte, vielleicht in einem Park, vermutlich war Regen gefallen. Seit Tagen liegt es auf meinem Küchentisch, ich habe es bisher nur einmal kurz geöffnet, bemerkte folgenden mit Bleistift markierten Absatz: „Gleich nach seiner Ankunft in Sarajevo muss der Fremde in die Gesetze und Regeln eines Verhaltenskodex eingeweiht werden, der Grundvoraussetzung für sein Überleben ist. Er, der an ein freies Leben ohne Hemmnisse gewöhnt ist, muss in seinem neuen Lebensraum, der Mausefalle, die er mit 380000 anderen Menschen teilt, schnell lernen. Er muss die hochgefährlichen Gebiete und diejenigen kennen, in denen er sich ohne allzu große Gefahr bewegen kann, er muss wissen in welchen Stadtteilen Mörsergranaten niedergehen, welches die beliebtesten Straßenecken und Kreuzungen der Heckenschützen sind, wo er gebückt gehen und wo er schnell losrennen muss. Jede Unachtsamkeit oder ein Fehler bei der Auswahl des Weges können tödlich für ihn sein. Jedes Hinausgehen — und jeder muss einmal rausgehen, um Wasser, Holz oder Nahrungsmittel zu holen — ist, wie die Menschen in Sarajevo sagen, russisches Roulette.“ — stop / S.32/33
kobane calling
nordpol : 20.58 — Vor Jahren, am 14. Oktober 2014, es war später Abend, überlegte ich, ob ich nicht sofort nach einem Telefonbuch der Stadt Kobanê suchen sollte, irgendeine Nummer notieren, sie anzuwählen. Um die Stadt wurde damals erbittert gekämpft, Kurdinnen und Kurden verteidigten Kobanê gegen Kämpfer des Islamischen Staates. Ich bemerkte bald, dass im Internet keine Telefonbücher der Stadt Kobanê zu finden sind, die ich entziffern könnte. Nehmen wir einmal an, ich würde nun heute an diesem Abend, es regnet, No 45 ist noch immer im Amt, zufällig ein Telefonbuch der Stadt Kobanê entdecken, und ich würde nun eine Nummer wählen, wer würde sich melden? — Das Radio erzählt, die Stadt Mariupol sei von Westen her mit dem Telefon noch immer kaum zu erreichen. — stop
zwei zimmer
romeo : 7.32 UTC — Nachts, sobald ich die Vögel pfeifen höre, meistens ist es einer für sich allein, der in Ahnung ersten Lichts zu singen beginnt, weiß ich, dass ich aufstehen sollte und zu den Fenstern gehen, um meine Rollos für Schlaf herunterzulassen. In genau diesem Moment drehen sich Tag und Nacht scheinbar um eine Achse, Tagzimmer bei Nacht werden zu Nachtzimmern bei Tag. Gleich, in einer Minute, ist es wieder so weit. Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sollen Menschen leben, die nach befreundeten Menschen suchen, welche seit Monaten ohne Lebenszeichen sind. — stop
ein streichholzkopf
ulysses : 22.02 — Wann war es gewesen, dass ich zum ersten Mal bemerkte, wie meine Briefe kleiner und kleiner wurden? Wesen von wirklichem Papier, Bögen in Umschlägen, mit einem Postwertzeichen, das zuletzt die Anschriftseite meines Schreibens vollständig bedeckte. Im Postamt werde ich seither ernst genommen. Vor einigen Wochen kaufte ich sinnvollerweise ein handliches Mikroskop und einen Satz Bleistifte von äußerster Härte. Ich spitzte das Schreibwerkzeug eine Viertelstunde lang, dann legte ich einen Bogen Papier in das Licht einer Linse mittlerer Stärke. Ich näherte mich mit bebenden Fingern. Man sollte mich in diesem Moment gesehen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das kleine Blatt notierte, hielt ich die Luft an. Tatsächlich habe ich in meinen Leben noch nie zuvor in einer derart sorgfältigen Weise geschrieben. Ich brauchte drei Stunden Zeit, um das Papier, das nicht größer gewesen war als eine Briefmarke von 1,5 cm Kantenlänge, vollständig zu beschriften. Ich schrieb folgende Zeilen an einen Freund: Lieber Stanislaw, Du wirst es nicht glauben, nach 1 Uhr heute Nacht schwebte ein Zeppelinkäfer einer nicht sichtbaren, schnurgeraden Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers folgend entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. – Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. – Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit sechs recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. Dein Louis, herzlichst. — Es war eine wirklich harte Arbeit, all diese Zeichen zu notieren. Dann faltete ich das Blatt Papier einmal kreuz und quer. Ich arbeite mit zwei Pinzetten wiederum unter starkem Licht, steckte den Brief in ein Couvert, dessen Herstellung noch mühevoller gewesen war als das Schreiben des Briefes selbst, und machte mich auf den Weg in das nächste Postamt. Dort wurde ich unverzüglich an den Schalter für besondere Briefformate weitergeleitet, wo mein Brief, den ich mit einer Pinzette auf den Tresen befördert hatte, von einer weiteren Pinzette entgegengenommen wurde. Ich war sehr glücklich. Ich beobachtete, wie der Beamte eine Briefmarke von der Größe eines Reiskorns behutsam auf meinen Brief legte und mittels eines Stempels, der vor meinen bloßen Augen kaum noch sichtbar gewesen war, entwertete. Dann ging mein Brief auf Reisen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kurze Zeit vergessen. Nun aber, vor wenigen Stunden, wurde mir von einem Sonderboten der Post ein Brief von derart leichter Gestalt übergeben, dass ich zunächst die Anweisung erhielt, alle Fenster meiner Wohnung zu schließen. Dieser Brief, eine Depesche meines Freundes, ruht vor mir auf dem Tisch, ein Kunstwerk. Auf seiner Briefmarke sollen sich zwei Paradiesvögel befinden, die ihre Schnäbel kreuzen. Ich werde das gleich überprüfen. — Das Radio erzählt, dem ersten Offizier einer “Somalieinheit” soll in der Stadt Mariupol ein Orden übergeben worden sein, der fortan mittels einer Spangennadel für alle Zeit an der Brust des Mannes mittleren Alters befestigt sein wird. — stop
zwergdrache
sierra : 2.28 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarz-Weiß-Fotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorn hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariupol einen städtischen Bus mühevoll in Bewegung gesetzt. — stop
nahe enerhodar
silent sentry
alpha : 2.21 UTC — Wird es vielleicht bald einmal möglich sein, menschliche Körper, präzise formuliert, die Oberfläche menschlicher Körper, derart zu gestalten, dass sie in unbekleidetem Zustand von aktiven Radartechnologien nicht zu erfassen sind, Menschengestalten demzufolge, die in der Begegnung weder Licht noch Geräusche emittieren? Welcher Art wäre die Lichtspur einer Bewegung ihres Körperraumes durch eine perzeptibele Menschenmenge? Und wären diese seltsamen Menschen in ihren eigenen Augen überhaupt noch sichtbar? Würden sie sich selbst eventuell noch wahrnehmen durch die Konzentration auf eine Vorstellung: Hier, vor mir auf dem Tisch, das weiß ich, weil ich ihn dorthin abgelegt habe, ruht mein Arm, so würde er sich in meinen Augen darstellen, wenn er für mich sichtbar wäre. All diese Fragen. – Das Radio erzählt, in Mariupol sei ein Löwe ausgebrochen infolge eines Beschusses des zoologischen Gartens. Das Tier oder sein Leichnam wurde bisher nicht entdeckt.- stop