nordpol : 0.02 – Ich habe einen Brief geschrieben. Der Brief geht so: Liebe Mrs. Kekkola, lieber Mr. Kekkola, Ihrem Sohn geht es gut! Seine künstlichen Lungen arbeiten, als hätte er nie zuvor ohne sie gelebt. Jonathan wandert derzeit unter wilden Bären in nordamerikanischen Wäldern. Leider habe ich Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Wohnung [Calle de Hernán Cortéz No 7, 8. Etage], die Sie, wie wir unseren Unterlagen entnehmen, seit 75 Jahren nicht verlassen haben, undicht geworden ist. Ihr l.k. mit besten Grüßen – Kurz, nachdem ich den Brief zu Ende notiert hatte, der Eindruck, dass ich mir selbst ein wenig unheimlich werde, warum? — stop
Aus der Wörtersammlung: ich
korrespondenz
echo : 0.02 — Wieder wirkliche Briefe schreiben, Briefe, die man in die Hand nehmen kann, Briefe, auf kostbare Papiere notiert, Botschaften, die in ebenso kostbaren Couverts durch die Luft fliegen werden. Folgendes habe ich mir ausgedacht. Ich könnte zunächst einen Bleistift besorgen und ein wenig üben, mit der Hand Zeichen auf unsichtbaren Linien zu Wörtern zu setzen. Ein oder zwei Wochen der Probe sollten genügen. Dann nach feinen Briefmarken suchen, nach Miros und Zeppelinen und Leuchttürmen und anderen Ikonen unserer Zeit. Ich stehe in einer Kolonialwarenhandlung und glühe vor Begeisterung, weil die Segel, die ich in Händen halte, eigentlich nicht anwesend sind, so leicht, so licht. — Existieren eventuell Papiere, die Korrespondenzen unter Kiemenmenschen zugeeignet sind? — stop
sprechgeräusche
ginkgo : 2.15 – Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend im Garten eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlief ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Fangen wir an. – stop – Drei Uhr und zwölf Minuten in Isfahan, Iran. – stop
sarajevo
sierra : 0.01 — Ist es denkbar, dass vor einem internationalen Gerichtshof, sobald Menschen von der Belagerung Sarajevos Zeugnis ablegen, jene Wörter, die den Klang durch die Luft fliegender oder in Körper eindringender Projektile wiedergeben, singuläre Wörter sind, Wörter, die nicht übersetzt werden, weil sie nicht übersetzbar sind, unmittelbare, authentische und beweiskräftige Wörter der Geräusche eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit? — stop
zeppeline
alpha : 8.06 — Seit Tagen denke ich darüber nach, weshalb mich die Ansicht japanischer Fesselbombenballone irritiert. Ich komm nicht dahinter. Vielleicht einmal eine Geschichte erzählen, die von oder mit Bombenballonen handelt, eine Art fabulierende Denkbewegung, die die Substanz dieser seltsamen Idee in meinem Leben wirklicher, greifbarer werden lässt. Nicht also erfinden, sondern etwas Gefundenes buchstabieren, um es genauer denken oder überhaupt als etwas Eigenes spüren zu können. Gestern Abend noch erzählte ich in einem Gespräch von Zeppelinkäfern, wie sie durch meine Wohnung schweben. Ich erzählte in einer Weise, dass ich eher sagen müsste, dass ich von der Erscheinung der Zeppelinkäfer in meinem Zimmer berichtete, weil sie, im Februar zunächst wortweise auf Notizpapier gesetzt, für mein Gehirn zur einer wirklichen Erscheinung geworden sind. — Eine beruhigende Beobachtung. — stop
erfindung
delta : 17.10 – Schirmchen von Haut, die sich in dampfenden Nächten lindernd über lesende Augen entfalten. Transparent. Und kühl. Nach Art der Schneepapiere. Irislamellen. — stop.
lichtforscher
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : TRAUMLICHT
Lieber Mr. Kekkola, ahoi! Was machen Sie denn so? Seit Tagen keine Nachricht aus der Wildnis. Sind Sie noch am Leben oder wurden Sie bereits heimlich von Bären gefressen? Vermutlich haben Ihnen lüsterne Fliegen derart zugesetzt, dass Sie kaum noch aus den Augen sehen können. Hörte, kühlende Moose, sollen helfen, dass Sie wieder in die Welt hinaus schauen und mir schreiben werden. Nach einer kleinen Reise südwärts wird nun wieder über Tiefseeelefanten nachgedacht. Das ist schon seltsam, wenn ich Stunden an ein und dieselbe Sache denke, dann wird sie so vertraut, dass ich sie mit mir ins Bett nehmen kann, ich meine, ich träume, ich träume, mein lieber Kekkola, mit Elefanten über atlantischen Tiefseeboden zu spazieren. Erinnere mich gerade an einen Forscher des Lichts. Wenn Du einem Problem, einer Idee, einer Spur wirklich nahe kommen willst, sagte mein Vater, dann musst Du so intensiv daran arbeiten, dass Du nachts im Schlaf nicht davon ablassen kannst. Das hab ich nun also gemacht. Ich betrachtete fünftausend Meter lange Rüssel und Paternosteraufzüge, die es bei Ihnen in Amerika nicht gibt, aber bei uns in Europa, endlos dahinfahrende Koffer ohne Deckel, in die man einsteigen kann, einsteigen wie jene Luft, die Tiefseeelefanten in kleinen Paketen atmen, Meereswinde in Beuteln von Haut. Die fahren dann perlend abwärts, ein Beutel nach dem anderen Beutel, zur Lunge hin, die riesig ist und rosa und kühl, wie das Moos, von dem ich Ihnen erzählte. Mein lieber Kekkola, was halten Sie davon? Schreiben Sie mir, sobald Sie wieder schreiben können, ja, schreiben Sie mir! Ich komm Sie sonst holen! Ihr Louis.
gesendet am
20.08.2009
5.32 MESZ
1650 zeichen
ohrwesen
romeo : 0.08 – Kurz nach Mitternacht. Leichter Regen, aber nur als Vorstellung, als Übung, als Suche in den Magazinen meines Gehörs. Plötzlich erinnerte ich mich, einmal heimlich ein Ohr aus nächster Nähe beobachtet zu haben, ein Wunder der Schöpfung. Ich betrachtete dieses Ohr so liebevoll und so lange Zeit, dass ich bald etwas ganz anderes in ihm sehen wollte, als eine halbe Stunde noch zuvor, ein Wesen nämlich ganz für sich. Der Gedanke, ich könnte jederzeit ein schlafendes Ohr mit meinem Blick berühren, ohne dass es davon wach werden würde, fasziniert mich außerordentlich. Wenn ich aber sagen würde, leise, leise: Du bist wunderschön, dann würde das Ohr mich vielleicht ansehen, ein noch halbwegs träumendes Auge von einer Sekunde zur anderen Sekunde, und ein Mund, ein Mund, der lächelt. — Gute Nacht.
kolibri
romeo : 0.15 – Ein Flugtierchen, das auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine kauerte. Ich näherte mich mit dem Zeiger meiner Mouse, tauchender Schatten. Kurz, als würde es den Atem anhalten, hielt das Tierchen inne. Ich notierte: 22 Uhr und 12 Minuten. Der Besuch eines zarten, eines Licht naschenden Wesens. Wie es ein wenig bebt unter den Anschlägen dieser Zeichen, wie es die Beine auseinander stellt. Wie es sich behauptet, wie es mich zu betrachten scheint. — stop
quito
foxtrott : 0.02 – Es ist früher Abend, ich liege in einer Wiese, ein Ohr gegen den Himmel, das andere Ohr gegen die Erde gerichtet, und höre Gräsern und sehr kleinen Tieren zu, wie sie sich auf die Nacht vorbereiten. Noch etwas Zeit ist, Minutenzeit, weil ich warte. Ein angenehmes Warten, ein Warten voller Freude. Nichts ist so lange zu tun, als der großen Welt am Himmel und der kleinen Welt unter mir zuzuhören. Man raschelt dort für mich und der Himmel schweigt, um nicht zu stören. Es ist seltsam, je glücklicher ich bin, desto beweglicher kann ich denken. So beweglich bin ich geworden, dass ich von Zeit zu Zeit überhaupt aufhöre, an irgendetwas zu denken. Und doch bin ich niemals abwesend, sondern hier und warte und höre den Gräsern zu und atme und halte etwas Papier fest in der Hand, von dem ich bald vorlesen werde. 1 x schlafe ich kurz ein. — stop