Aus der Wörtersammlung: jahre

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landschaft mit händen

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sier­ra : 22.18 UTC — In einem Zug woll­te mir ein jun­ger Mann einen Algo­rith­mus erklä­ren. Er sag­te: Schau Lou­is, die­ser Algo­rith­mus hier scheint von einer sehr begab­ten Per­son for­mu­liert wor­den zu sein. Ich möch­te behaup­ten, die­ser Algo­rith­mus stellt im Grun­de ein Lebe­we­sen dar. Der jun­ge Mann sah mich mit einem leich­ten Sil­ber­blick an, ver­mut­lich von Begeis­te­rung auf sein Gesicht gespielt. Die­sen Algo­rith­mus, fuhr er fort, sei der­art kom­plex, dass kaum noch ein mensch­li­ches Wesen ihn allein erfas­sen kön­ne. Man müs­se ver­mut­lich über einen leis­tungs­star­ken Rech­ner ver­fü­gen, um auch nur annä­hernd an sei­nen Kern, an eine Idee, die irgend­wo in dem Algo­rith­mus steck­te, her­an­zu­kom­men. Wäh­rend der jun­ge Mann sprach, folg­te ich sei­nen Hän­den, die über die Tas­ta­tur sei­nes Note­books hüpf­ten, als wären sie hell­häu­ti­ge Tie­re. Ich geste­he, ich habe kaum ver­stan­den, wovon der jun­ge Mann eigent­lich erzähl­te, da waren zu vie­le Zah­len im Spiel gewe­sen. Ich dach­te in jenem Moment vor­ran­gig an mei­ne eige­ne Lang­sam­keit, dass ich mit der Zeit zunächst immer schnel­ler wur­de, und dann plötz­lich wur­de ich lang­sa­mer, was ich zunächst nicht bemerk­te, bis ich in einem Zug saß und hel­le Fin­ger­ge­schöp­fe betrach­te­te, die eine Tas­ta­tur bedien­ten. So schnell waren sie vor mei­nen Augen gewe­sen, dass sie nach und nach unscharf wur­den, wie wohl mei­ne eige­nen Hän­de vor den Augen mei­nes Vaters unscharf gewor­den waren, als er sie mit einem selt­sa­men Blick betrach­te­te, des­sen Ursprung ich in einem Zug vie­le Jah­re spä­ter ent­deckt zu haben mein­te. — stop
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im park

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sier­ra : 2.55 UTC — Ges­tern beob­ach­te­te ich Lou­is, wie er in einem Park saß und eine Geschich­te in ein Notiz­buch schrieb. Das war ein schma­les Buch gewe­sen. Lou­is notier­te mit Blei­stift in win­zi­ger Schrift. Er hat­te des­halb eine Lese­bril­le auf­ge­setzt, die er immer wie­der ein­mal auf sei­ner Nase zurecht­rück­te. Es war sehr feucht am See, Libel­len jag­ten her­um, obwohl schon fast dun­kel gewor­den war, und sie leuch­te­ten, blink­ten, als wären sie fern­ge­steu­er­te Hub­schrau­ber­we­sen. Lou­is schien sie nicht zu bemer­ken, er schrieb und schrieb, und wenn man sich näher­te, konn­te man hören, wie sein Blei­stift sacht über das Papier ras­pel­te. Das schma­le Buch war schon fast voll­ge­schrie­ben und Lou­is Schrift wur­de immer klei­ner. Ich frag­te ihn: Sag, wor­über schreibst Du? Lou­is ant­wor­te­te, er schrei­be über einen Mann, der Las­ten­auf­zü­ge bedien­te, ver­schmutz­te Käs­ten, die in einem Lager­haus auf und abwärts fuh­ren. Der Mann, von dem Lou­is erzähl­te, arbei­te­te bereits seit Jah­ren in einem die­ser Käs­ten. Trotz­dem war er im Grun­de immer gut gelaunt. Das lag dar­an, dass der Mann sich vor­stell­te, er wür­de bald ein­mal in einem die­ser Las­ten­auf­zü­ge woh­nen. Er konn­te prä­zi­se beschrei­ben, wie sein zukünf­ti­ges Wohn­zim­mer beschaf­fen sein wird. Sofa, Rega­le für Bücher und Ele­fan­ten­sta­tu­ten, die der Mann sam­mel­te, Kak­teen und Bam­bus­pflan­zen, zwei Tische, ein Rubens­ge­mäl­de, Vasen, und so wei­ter und sofort. Nun, sag­te Lou­is, das Pro­blem ist, ich bin hier mit mei­nem Notiz­buch bald zu Ende, aber das Zim­mer im Auf­zug tritt immer deut­li­cher an mich her­an. Ich wer­de das Zim­mer in die­sem Büch­lein hier nicht unter­brin­gen. Ver­damm­te Sache! — stop

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papiere

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del­ta : 22.58 UTC — In die­sem Moment, da die Tem­pe­ra­tur der Luft 38 °C erreicht, darf ich einen Text zitie­ren, den ich vor Jah­ren bereits notier­te. Er han­delt von Eis­pa­pie­ren und von einem beson­de­ren Kühl­schrank, den ich damals in Emp­fang genom­men hat­te, von einem Behäl­ter enor­mer Grö­ße. Ich schrieb, ich wieder­hole, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­bare Eisbü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­bringen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eisbü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­neren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank aufge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sagen, der von einem Notstrom­ag­gregat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­falles ausrei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eisbü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­liche Vorstel­lung, jene Vorstel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, woll­te ich Eisbü­cher besit­zen, Eisbü­cher lesen, schim­mernde, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schuber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den liebe­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gaszei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eisbuch­rei­se­koffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­terten Bli­cke der Fahr­gäste, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­liche Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hinein­ge­schrieben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eisbuch­rei­se­koffer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem entschlos­senen Blick, ein gie­ri­ges Auge, nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man nicht ange­kommen ist in den fros­tigen Zim­mern und Hal­len der Eisma­ga­zine, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eisti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eisbuch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten arkti­schen Tief­se­ee­is­ge­schichten, auch jene verlo­renen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen, man fürch­tet, sie könn­te zerbre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hörten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. – stop

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feuersalamander

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romeo : 22.18 UTC — Brü­ten­de Hit­ze. Das ist ein schö­ner Aus­druck, ich wer­de gebrü­tet von der Luft. Bin gespannt, was da aus mir her­aus­schlüp­fen wird. Irgend­ein Wesen ver­mut­lich, das sich wohl­fühlt, wenn es so rich­tig warm und schwül ist. Etwas, das vor Freu­de bebt, wenn Tem­pe­ra­tu­ren über 50 ° Cel­si­us stei­gen wer­den, eine Fort­ent­wick­lung, Anpas­sung, viel­leicht eine Varia­ti­on mei­ner selbst, der ich nun bald in der Lage sein wer­de, Wüs­ten zu durch­kreu­zen, geschmei­dig, ohne auch nur einen Trop­fen Was­ser trin­ken zu müs­sen. — stop
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swetlana

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oli­mam­bo : 22.14 UTC — Ein­mal, vor zwei Jah­ren, spre­che ich mit Swet­la­na, die in einem Dorf weit hin­ter dem Ural in Sibi­ri­en gebo­ren wor­den war. Es ist ein spä­ter Abend und warm. Ein­tags­flie­gen zwir­beln durch die Luft. Ich sage: Wir, lie­be Swet­la­na, wir in Euro­pa sind in gro­ßer Gefahr, weil wir nicht wis­sen, wie der 45. Prä­si­dent der USA und Wla­di­mir Putin han­deln wer­den. Swet­la­na ist par­tout nicht die­ser Mei­nung. Sie schüt­telt sehr lan­ge Zeit den Kopf: Da ken­ne ich Dich schon acht Jah­re lang und Du liest noch immer die fal­schen Zei­tun­gen. Es kommt mir so vor, als wür­dest Du eine ganz ande­re Welt bewoh­nen. Nein, wir sind nicht in Gefahr, Putin ist ein guter Mann, und der ande­re auch. Einen Moment schweigt sie. Dann fährt sie fort, mit einem Lächeln: Wie kann man nur so klug sein, und doch die ganz fal­schen Zei­tun­gen lesen. — stop
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am mississippi

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alpha : 16.12 — Ramos erzähl­te ges­tern am spä­ten Abend von einer Metho­de, E‑Mail der­art zu pro­gram­mie­ren, dass sie sich kurz nach ihrem Auf­ruf vor den Augen des Lesen­den selbst zer­stö­ren oder auf­lö­sen wird, weil ihre Zei­chen hel­ler und hel­ler wer­den, bis sie unsicht­bar gewor­den sei­en. Ramos selbst will die­se Mög­lich­keit des Ver­schwin­dens pro­gram­miert haben. Wir notier­ten zur Pro­be einen elek­tri­schen Brief an mich selbst. Ich sen­de­te also einen kur­zen Text, den ich vor fünf Jah­ren bereits auf­ge­schrie­ben hat­te: 6.15 – Wäh­rend ich Stun­de um Stun­de in Ste­wart O’Nan’s Roman Last Night at the Lobs­ter lese, immer wie­der das Wort Missis­sippi im Kopf. Die Idee, dass das Wort Missis­sippi in der Fort­set­zung der Lek­tü­re nach und nach alle wei­te­ren Wör­ter und Gedan­ken ersetz­ten könn­te. In einem Wort ver­schwin­den. — stop - Sobald die E‑Mail, die mit­tels Ramos’ Pro­gramm notiert wor­den war, auf mei­ner Schreib­ma­schi­ne ein­ge­trof­fen war, öff­ne­te ich sie. Tat­säch­lich, kaum hat­te ich den Cur­sor mei­ner Schreib­ma­schi­ne über den Text hin bewegt, lös­ten sich sei­ne Buch­sta­ben auf, sie ver­blass­ten, waren bald nur noch eine Ahnung auf der Netz­haut mei­nes Auges. Ramos erklär­te, alle Zei­chen, die mit­tels sei­nes Pro­gram­mes ver­schlüs­selt wor­den sei­en, wür­den für eine Minu­te zur Ver­fü­gung ste­hen, man dür­fe den Text der E‑Mail jedoch nicht berüh­ren oder den Ver­such unter­neh­men, einen Screen­shot anzu­fer­ti­gen. Jede bekann­te Metho­de des Fan­gens auf künst­li­chem Wege sei unwirk­sam. Auch eine Foto­gra­fie zu neh­men mit­tels eines gewöhn­li­chen Foto­ap­pa­ra­tes sei nicht mög­lich. Ramos, der höchst begeis­tert wirk­te, woll­te mir nicht erzäh­len, wie die­ses Ver­hal­ten pro­gram­miert sein könn­te. Was bleibt, sag­te Ramos, ist eine E‑Mail die­ser Art aus­wen­dig zu ler­nen, um sie kurz dar­auf auf Papie­ren zu rekon­stru­ie­ren. — stop

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luftgesellschaft

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nord­pol : 0.05 UTC — Irgend­et­was fehl­te, oder jemand. Ein Gefühl zunächst, ich begann zu zäh­len. Ich zähl­te von 23 Uhr bis Mit­ter­nacht fol­gen­de Besu­cher, die durch mein geöff­ne­tes Fens­ter licht­wärts flo­gen: Zwei klei­ne Flie­gen, eine grün, die ande­re bläu­lich schim­mernd. 3 Mari­en­kä­fer, rot, je 5 Punk­te. 1 Fal­ter, der mir ein Tag­fal­ter zu sein schien, er war aus dem Fens­ter hin­aus, ehe ich ihn unter­su­chen konn­te. 2 fast durch­sich­ti­ge Wesen von hel­lem Grün, die mir bekannt gewe­sen, weil ich mich seit Jah­ren, sobald ihre Art an den Wän­den mei­ner Zim­mer zit­ternd ein­ge­trof­fen ist, beob­ach­tet füh­le. Zuletzt 1 Wes­pe. Es ist Ende Juli, und es ist warm und schwül. — stop

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sandmann

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ulys­ses : 22.08 UTC — Irgend­wo, nicht les­bar für mich, soll im World Wide Web die schrift­li­che Arbeit einer Frau exis­tie­ren, die vor Jah­ren ein­mal über eine ver­schlüs­sel­te Daten­ver­bin­dung mit einem Mann kon­fron­tiert gewe­sen war, der sie bedroh­te. Ich weiß nicht, was genau gesche­hen war. Nur soviel, dass die­se Frau seit­her einen Text notiert, der in ihrer Vor­stel­lung nie­mals enden darf, weil sie der Über­zeu­gung ist, ihre schrei­ben­de Arbeit wür­de sie schüt­zen. Die­ser Text, in chi­ne­si­scher Spra­che ver­fasst, soll sei­ner­seits von einer bedroh­ten Frau erzäh­len, die sich Tag für Tag erin­nert und fürch­tet, eine Beschwö­rung, die Geschich­te eines Lebens ohne Schlaf. — stop

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samia yusuf omar

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del­ta : 0.05 — Exakt 2142 Tage zurück, am Mon­tag, dem 20. August 2012, mel­de­ten Nach­rich­ten­agen­tu­ren, die soma­li­sche Sprin­te­rin Samia Yus­uf Omar sei auf dem Weg nach Lon­don zu den Olym­pi­schen Spie­len ertrun­ken. Sie reis­te auf einem Flücht­lings­schiff von Liby­en aus nord­wärts. Die Hava­rie des Boo­tes soll sich im Kanal von Sizi­li­en nahe der Insel Mal­ta bereits Anfang April ereig­net haben. Ein­zi­ge Ver­tre­te­rin ihres Hei­mat­lan­des wäh­rend der Olym­pi­schen Spie­le 2008 in Peking, hat­te sich Samia Yus­uf Omar allein auf den gefähr­li­chen Weg nach Euro­pa bege­ben. Sie leb­te 22 Jah­re. — Und all die Namen­lo­sen. — stop / Kof­fer­text

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winterherz

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gink­go : 15.08 — Neh­men wir ein­mal an, es exis­tier­ten Men­schen, die je über ein schla­gen­des, dem­zu­fol­ge ein akti­ves Herz ver­fü­gen, und außer­dem über ein war­ten­des Herz, das ganz still im Brust­korb liegt, klein, gefal­tet, ein Alters­herz oder ein Win­ter­herz. Von die­ser Vor­stel­lung woll­te ich ges­tern einer Bekann­ten am Tele­fon erzäh­len, als unse­re Ver­bin­dung plötz­lich unter­bro­chen wur­de. — Clau­de Lanz­mann ist im Alter von 92 Jah­ren gestor­ben. — stop

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