echo : 2.28 — Ich hörte, meine Augen, sobald ich sie öffne, seien rund. Und ich dachte mir, so lange Zeit schon hast Du aus runden Augen in die Welt hinausgeschaut, ohne das Runde Deiner Augen zu bemerken. Ich lag auf einer Wiese im Park und weil ich so schön glücklich war, schlief ich ein. Da drüben war die Luft voll kleiner Fliegen, die golden leuchteten und seltsame Geräusche machten, bing bing. Das hörte sich an, als würden sie mit Zungen schnalzen, aber dann wurden sie zu singenden Fischen und ich holte meine Augen aus dem Kopf und die Fische spielten mit ihnen herum, und ich sah, meine Augen waren tatsächlich runde Geschöpfe. — Noch zu tun: Herzkammern studieren. — stop
Aus der Wörtersammlung: kopf
zeichentiere
ulysses : 5.15 — Das suchende Lernen chinesischer Schrift. Wie ich gestern in Gewitterstunden lächelnd beobachtet wurde, weil ich sagte: Die Zeichen Deiner Sprache erinnern mich an Darstellungen der anatomischen Welt, an Skelette, an Wesen, die ich leichter Hand erfinde, um das eine Zeichen, von dem anderen Zeichen unterscheiden zu können. Habe in dieser Weise eine Säbelzahntigerschnecke in meinen Kopf aufgenommen, einen achtarmigen Klammeraffen, eine Doppelkopfameise. Das Formulieren bald ganzer Sätze, jubelnde Zoologie. Guten Morgen! — stop
perugia
bamako : 0.02 — Gestern Nachmittag, bei großer Hitze auf einer Wiese liegend, fünf Zitronenfalter beobachtet, die sich höchst merkwürdig benahmen. Sie wirbelten nicht, wie üblich, spielend und werbend umeinander herum, ein Falter vielmehr flog unter dem anderen Falter dahin, als ob sie einander Schatten spenden wollten, eine Flugschule, sagen wir, kunstvoll in dieser Art und Weise. Einen Moment dachte ich, dass die Sonne möglicherweise mein Gehirn so weit erwärmt haben könnte, dass es die Wirklichkeit vor meinen Augen gestaltete, wie es ihm gerade passte. Aber ich hatte doch einen Hut auf dem Kopf und ich erinnerte mich rasch an eine Meldung, Segelfalter der Gattung Iphiclides podalirius 5 hätten sich in einem zentralen Park der Stadt Perugia in ähnlicher Weise verhalten, und zwar im Herbst, noch nicht lang her. — Werde an diesem Sonntag früh mit kühlem Kopf von der Nacht in den Garten meiner Beobachtung zurückkehren und nachsehen, ob wir bei Verstand geblieben sind.
absent
romeo : 3.15 — Kühle Luft, leichter Regen, herbstliche Stimmung. Wie immer, wenn ich zerstreut bin, in einem Abenteuerbuch gelesen. Folgende Stelle in H.G. Wells’ Roman Die Insel des Dr. Moreau: Mein Onkel verschwand auf etwa 5° südlicher Breite und 105° westlicher Länge aus den Augen der Menschen, und er erschien nach elf Monaten in derselben Gegend des Ozeans wieder. Während der Zwischenzeit muss er auf irgendeine Weise gelebt haben. In dem Moment, als ich diese Zeilen passierte, wie aus heiterem Himmel ein merkwürdiges Gefühl der Unwirklichkeit, als ob ich diese Nacht, das Buch, den Stuhl, auf dem ich saß, nur träumte, auch mich selbst träumte, wie ich las, die Bilder Menschen jagender Motorradfahrer und die Nachricht im Kopf, ein Rat mächtiger, religiöser Wächter habe gestern noch, am Ende einer anderen Nacht, bestätigt, im Iran seien drei Millionen Stimmzettel nicht existierender Wähler zu verzeichnen. — Wohin ist diese Nachricht geflohen? — Wann wird sie wieder zu uns kommen? — Wo hält sie sich auf in den Zeiten der Abwesenheit? — Wie viele Menschen sind in den vergangenen Stunden kühlen Regens spurlos aus ihren Häusern oder aus Hospitälern der Stadt Teheran verschwunden? — stop
murmansk
romeo : 0.15 — Ich war im Zug gestern Abend in Murmansk gewesen. Am Hafen saß ich, und das Eis auf dem sich sanft bewegendem Meer schindelte zu meinen Füßen. Ein rostiges U‑Boot war da noch und junge Matrosen, sie spielten mit Äpfeln und winkten. Indem ich so wartete und die Geräusche des Eises und die Stimmen der Seeleute bewunderte, flatterten Kolibris um meinen Kopf herum. Sie trugen winzige Pelzmützen und Pelzjacken und ihre Flügel brummten in der glasklaren Luft nordischer Mittagsstunde. Dann wachte ich auf, fuhr in einer Straßenbahn spazieren, öffnete meinen Koffer und schon ist Mitternacht geworden. Ob ich vielleicht noch immer schlafe, noch immer träume? — stop
elephantisland
~ : rob salter
to : louis
subject : ELEPHANTISLAND
date : june 2 09 8.58 p.m.
Kurz nach acht Uhr. Kalte, trockene Luft, ich notiere mit klammen Händen. Um 7 Uhr heute Morgen haben wir bei stürmischer See Elephantisland erreicht. Suche nach Miller unverzüglich aufgenommen. Südwestliche Bewegung die Küste entlang. Gegen 9 Uhr erste größere Seeelefantengruppen gesichtet. Heftiger Schneefall. Mittags dann auf menschliche Spuren gestoßen. Eine Mulde von zwei Fuß Tiefe im groben Untergrund, hüfthoher Steinwall nordwärts. Im Windschatten: drei gebleichte Walknochen, ein halbes Duzend fingerdicker Hautstücke, ein Kamm, zwei rostige Kugelschreiber, eine Blechtasse, zwölf Pinguinschnäbel, fünf Batterien, drei Klumpen ranzigen Fettes, Bruchstücke eines Sonnenkollektors und einer Schreibmaschine. Das Werkzeug war in einer Weise sorgfältig demoliert, als sei eine Dampfwalze darüber hin und her gefahren. Dann weitere zehn Minuten die Küste entlang, dann auf Miller gestoßen. Der Dichter stand mit dem Rücken zu einem Felsen hin und richtete ein Messer gegen einen Seeelefanten. Das Tier, das sehr gewaltig vor unserem Mann in den Himmel ragte, war nur noch zwei Armeslängen entfernt und scheuerte mit dem Rücken über den Felsen. Eigenartige Geräusche. Geräusche wohl der Lust. Geräusche, als habe das Tier eine verbeulte Trompete verschluckt. Geräusche auch von Miller. Helle Geräusche, kreischende, irre Töne. Wir haben zu diesem Zeitpunkt das Folgende über Miller zu sagen: Unser Mann ist entkräftet und stark verschmutzt. Zwei Finger der linken Hand sind erfroren. Kopfwärts wandernde Spuren von Dehydration. Miller spricht nur einen Satz: All for nothing. Wir haben den Rückweg angetreten, indessen, bei genauerer Betrachtung unserer Umgebung, auf Felsformationen entlang der Küste Fragmente von Zeichenketten entdeckt. Eindeutig Millers Handschrift. Bringen Dichter Miller jetzt nach Hause.
eingefangen
22.57 UTC
1817 Zeichen
traumwärts
india : 0.02 — Ich notiere: Wenn ich meine linke Hand mit meiner rechten Hand berühre, durchbreche ich einen Spiegel. Wenn ich sage: meine Hand ohne Haut, habe ich in meinem Kopf ein muskuläres Bild zur Verfügung, das sich bewegen lässt. — Was ist heute eigentlich für ein Tag? — Samstag vielleicht? — Oder Sonntag? – Nacht jedenfalls. Vor den Fenstern pfeift die Welt traumwärts von den Bäumen. — Da war vor wenigen Minuten eine Spinne von der Größe einer Kirsche, schneeweißer Pelz, sieben hellblaue Augen. Sie blitzte mich an, als ich die Tür zum Eisfach meines Kühlschranks öffnete. Ein Ausdruck tiefster Verwunderung, hier wie dort, als ob wir beide nicht glauben konnten, was wir vor uns sahen.
tian’anmen
olimambo : 23.32 — Das Gespräch am späten Abend mit Din. Ihre leise, singende Stimme. Sie sei, als die Panzer kamen, in eine Seitenstraße geflüchtet. Wie sie ihre Augen schließt, wie sie sagt, sie habe keine Menschen mehr gesehen nach kurzer Zeit, einige Freunde nur, die sich an die Wände der Häuser drückten. Die Hand ihrer großen Schwester. Die Luft, die auf ihrem kleinen Körper bebte. Aber Menschenstille. Wie sie nach Wörtern sucht, nach Wörtern in deutscher Sprache, die geeignet wären, zu beschreiben, was sie in dem Moment, da ich auf die Fortsetzung ihrer Erzählung warte, hört in ihrem Kopf. Das feine, das seltsame Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie am Ausdruck meiner Augen bemerkt, dass ich wahrgenommen haben könnte, dass die Bilder, die ich wusste, tatsächlich geschehen waren, das Massaker auf dem großen Platz, stolpernde Menschen, Menschen auf Bahren, zermalmte Fahrräder, der Mann mit Einkaufstüten in seinen Händen auf der Paradestraße vor einem Panzer stehend. Dann die Flucht ins häusliche Leben zurück wie in ein Versteck, das stumme Verschwinden junger Leben für immer. Staub. Du solltest mit Stäbchen essen, sagt Din, das machst Du so, schau! — stop
drachen
echo : 0.05 — Es ist vielleicht denkbar, dass ich mein Herz anhalten kann mit dem Kopf. — stop
lufträume
echo : 6.08 — Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. — Warum, fragte ich, will der Mann das tun? — Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. — Er ist gelähmt. — Und der Affe? — Der Affe nicht. — Was geschieht mit dem Kopf des Affen? — Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon.