Aus der Wörtersammlung: rinne

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polio

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echo : 15.08 UTC — Nach Alko­hol bit­ter duf­ten­de Wol­ke, Erin­ne­rung einer Turn­hal­le mit höl­zer­nem Boden, vor Klet­ter­sei­len Tische, hin­ter wel­chen Leh­rer hock­ten. Sie führ­ten Namens­lis­ten, und jene wei­te­ren Per­so­nen in wei­ßen Kit­teln, die nicht bekannt gewe­sen waren, berei­te­ten den Impf­stoff vor, der uns, wir waren Kin­der, vor Polio schüt­zen soll­te, vor der Läh­mung unse­rer Bei­ne, unse­rer Arme, vor eiser­nen Lun­gen und vor den schreck­li­chen Krü­cken aus Metall oder Holz. Ich erin­ne­re mich an einen dun­kel­braun gefärb­ten Trop­fen, der auf einen Zucker­wür­fel fällt. Wir albern her­um, eine wogen­de, kichern­de Schlan­ge von Kin­dern in Som­mer­kleid­chen und Som­mer­ho­sen. Sehr ernst, der Moment, da sich der Löf­fel nähert. Zucker. Bit­ter. Süß. Das Schlu­cken. Es war kurz vor der Zeit der Kar­tof­fel­feu­er. Gestor­ben ist damals nie­mand, nicht an Polio. Heu­te, da ich begin­ne Phil­lip Roth Roman Neme­sis zu lesen, war die­ses selt­sa­mes Wort mei­ner Kind­heit wie­der gegen­wär­tig gewor­den. — stop

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0110010111

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ulys­ses : 15.02 UTC — Eine Foto­gra­fie, die ich vor zehn Jah­ren ver­geb­lich wie­der­zu­fin­den such­te, zeigt die Raum­sta­ti­on MIR in gro­ßer Höhe über der Erde schwe­bend. Ich ver­mag das far­bi­ge Bild noch immer zu erin­nern, viel­leicht des­halb, weil mich die Auf­nah­me berühr­te. Ein Bull­au­ge, dort das Gesicht einer Frau, deren Namen ich ver­ges­sen habe, ein erns­tes Gesicht, Ahnung, Schat­ten, Züge einer rus­si­schen Kos­mo­nau­tin, die Mona­te ein­sam auf der MIR-Sta­­ti­on leb­te. Sie folgt der äußerst behut­sa­men Annä­he­rung eines Raum­schif­fes der NASA, in dem sich Men­schen befin­den, die mit­tels Funk ver­mut­lich bereits Kon­takt auf­ge­nom­men hat­ten: Wir sehen Dich! — Da war das tie­fe Schwarz des Welt­alls im Hin­ter­grund, ein abso­lut töd­li­ch wir­ken­der Raum, der sich zwi­schen den bei­den Raum­kör­pern erstreck­te. Ich erin­ner­te mich an die­se Foto­gra­fie, an mei­ne Suche, weil ich vor weni­gen Tagen eine wei­te­re Iko­ne mensch­li­cher Ein­sam­keit ent­deck­te. — stop

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missing flamingos

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sier­ra : 22.58 — Sanf­te Frau­en­stim­me spricht: Ach­tung! Hal­ten Sie 1 Meter 50 Abstand. Mei­den Sie Men­schen­an­samm­lun­gen! In der Hal­le, indes­sen kein Mensch zu sehen, kein Kof­fer, kein Hund, kei­ne Kat­ze, aber Mäu­se, ein gutes Dut­zend Mäu­se, die über den spie­geln­den Mar­mor­bo­den flitz­ten, als hät­ten sie Schlitt­schu­he an ihren Füßen. Ich war die ein­zi­ge mensch­li­che Per­son an einem Ort, der ver­mut­lich nie ohne Men­schen gewe­sen ist. Ich erin­ne­re mich, selbst inmit­ten der Nacht habe ich im Ter­mi­nal immer­zu flüs­tern­de Men­schen wahr­ge­nom­men, auch Schla­fen­de auf Sitz­bän­ken oder Stüh­len der Cafés. Nun war Stil­le, kein Traum wur­de erzählt. Sel­ten ein­mal das Geräusch sich bewe­gen­der Zei­chen auf einer Anzei­ge­ta­fel. Aus Neu­see­land kom­mend soll­te Minu­ten spä­ter ein Flug­zeug lan­den, ein Hin­weis wie ein letz­ter Reflex. Jene über den spie­geln­den Boden dahin­glei­ten­den Mäu­se jedoch, unbe­irrt, ob sie sich wun­der­ten über die­se eine war­ten­de Per­son im Saal, die ich selbst gewe­sen war in einem Moment des Notie­rens auf mei­ner fla­chen Schreib­ma­schi­ne? Wie ich sie ver­miss­te, Steh­schlä­fer, mei­ne Steh­schlä­fer, wel­che nicht Vögel sind, Fla­min­gos, sagen wir, nein, Steh­schlä­fer, die Men­schen sind, gegen­wär­ti­ge Per­so­nen, die sich, soll­ten sie ein­mal zurück­keh­ren, genau so ver­hal­ten wer­den, wie das Wort, das sie bezeich­net: Sie schla­fen im Ste­hen. — stop

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mundsegel

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alpha : 3.15 UTC — Es war kurz nach sechs Uhr mor­gens. Ich beob­ach­te­te am Flug­ha­fen eine Frau, wie sie im Super­markt Früch­te berühr­te. Ihre Hän­de steck­ten in Plas­tik­hand­schu­hen, sie trug eine Bril­le, die groß aus­ge­fal­len war, und einen papie­re­nen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem bläh­te. Sie schien sehr auf­ge­regt zu sein, ihre Hän­de beweg­ten sich has­tig, zwei Äpfel, einen Pfir­sich, drei Bana­nen leg­te sie in ihr Körb­chen ab, dann eil­te sie wei­ter sofort zur Kas­se, wo sie war­ten muss­te. Sie wirk­te selt­sam ver­lo­ren, kaum jemand schien sie zu beach­ten. Sie stand in der Schlan­ge, unru­hig, eine Erschei­nung, als wäre sie ver­se­hent­lich viel zu früh an einem Zeit­ort ange­kom­men, der noch nicht bereit war, sie auf­zu­neh­men. Plötz­lich stell­te sie das Körb­chen, das sie auf ihrem Roll­kof­fer balan­cier­te, auf dem Boden ab und flüch­te­te. — Das ist doch selt­sam, dach­te ich heu­te bald sechs Jah­re spä­ter. Die­ser Text wur­de bereits am 14. Okto­ber 2014 von mir selbst notiert. Ich hat­te ihn ver­legt. Das papie­re­ne Segel erin­ner­te mich. — stop

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vom walfischorchester

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india : 20.33 UTC — Manch­mal erfin­de ich eine Geschich­te. Kurz dar­auf ver­ges­se ich die Geschich­te oder ver­lie­re sie wie­der aus den Augen. Wenn ich die Geschich­te nach Wochen oder Jah­ren wie­der bemer­ke, scheint sie zu einer wirk­li­chen Geschich­te gewor­den zu sein, das ist selt­sam. Auch weil Geschich­ten, die ein­mal erfun­den wor­den sind, sich Lebe­we­sen ähn­lich ver­hal­ten, sie machen sich immer wie­der bemerk­bar, wie die Geschich­te von Lou­is Kekkola’s Eis­buch Das Wal­fisch­or­ches­ter. Es war damals kurz nach vier Uhr gewe­sen, Däm­me­rung. Ich trug Hand­schu­he. Ich schal­te­te mein Ton­band­ge­rät an und sprach lei­se, in dem ich das zer­brech­li­che Buch­we­sen in Hän­den hielt. Kaum war eine Sei­te des Buches von mei­nen Augen abge­tas­tet, schloss ich den Kühl­schrank, ging in der Woh­nung spa­zie­ren und ließ mir alles, was ich gele­sen hat­te, durch den Kopf gehen. Dann keh­rte ich zurück und las mit damp­fen­dem Atem vor dem Kühl­schrank sit­zend wei­ter. Es war die nächs­te Sei­te, die ich vor­sich­tig unter mei­ne Augen­lu­pe nahm, auch sie war sehr ver­traut, sie war wie erlebt, ver­mut­lich des­halb, weil ich sie erin­nern konn­te. Manch­mal muss nur eine Nacht ver­ge­hen, manch­mal ein Jahr. — stop

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nahe uummannaq

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marim­ba : 16.11 UTC — Ges­tern ist mir etwas Lus­ti­ges mit mir selbst pas­siert. Ich stell­te mir vor, wie es wäre, wenn ein Eis­bär vor mir ste­hen wür­de. Der vor­ge­stell­te Eis­bär soll­te ein ernst zu neh­men­der Eis­bär sein, unge­fähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf sei­ne Hin­ter­bei­ne stellt. Ich stand also in mei­nem Zim­mer und über­leg­te, wie es wäre, wenn ein Eis­bär vor mir ste­hen wür­de, der gera­de noch unter mei­ner Zim­mer­de­cke Platz fin­den wür­de. Plötz­lich saß ich auf dem Boden und fand die­se Hal­tung ange­sichts eines Polar­bä­ren in mei­nem Zim­mer sehr ange­mes­sen. Kurz dar­auf wur­de ich gefres­sen. Ich mei­ne mich erin­nern zu kön­nen, der Bär begann mit der Schul­ter, mei­ner rech­ten. — stop

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ilulissat

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india : 14.08 UTC — Eine alte Dame spa­ziert durch den Pal­men­gar­ten. Sie spa­ziert bereits seit fünf Tagen durch den Pal­men­gar­ten. Auch in der Stadt, in der sie seit vie­len Jahr­zehn­ten wohnt, exis­tiert ein Pal­men­gar­ten, der viel grö­ßer ist, als der Pal­men­gar­ten jener Stadt, in die sie reis­te, um spa­zie­ren zu gehen. Es muss prä­zi­se die­ser Pal­men­gar­ten sein, weil sie ihn von ihrer Kind­heit kennt. Sie ist noch gut zu Fuß, aber sie geht lang­sam, sie will etwas fin­den, das mit die­sem Pal­men­gar­ten ver­bun­den ist, eine Erin­ne­rung. Die­sen Teich gab esnicht, sagt sie, aber die­sen Berg von Stei­nen, den will sie ken­nen. Auch an das Café­ am Süd­aus­gang erin­nert sie sich. Und die­se Gink­go­bäu­me gab es damals auch schon, da hat sie Blät­ter gesam­melt, um sie zu trock­nen und auf Kar­ten zu kle­ben. Nein, sie habe noch nicht gefun­den, was sie sucht, sie weiß aber ganz sicher, dass sie es hier fin­den wird, es ist ja schon da in mei­nem alten Kopf, ich muss nur dar­auf kom­men, das geht nur hier. Und wenn sie gefun­den habe, was sie hier such­te? Dann rei­se sie wei­ter nach Ilu­lis­sat, da war ich auch schon, immer schön der Rei­he nach, aber nicht im Win­ter, im Win­ter fah­re ich an die Nord­see. Jetzt geht sie wei­ter. Es ist Mai, Mitt­woch, kurz nach drei Uhr. — stop

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ein zerbeultes saxophon

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nord­pol : 11.03 — Ein Leser schrieb eine E‑Mail. Er habe, notier­te er, einen Feh­ler in einem mei­ner Par­tic­les­tex­te ent­deckt. Ob er mir schrei­ben sol­le, wo ich den Feh­ler fin­den wür­de. Ich kor­ri­gier­te den Text und dach­te noch: Das ist inter­es­sant, die­ser klei­ne aber doch bedeu­ten­de Feh­ler hat­te sechs Jah­re in mei­nem Text exis­tiert, ein Buch­sta­be nur, in einer Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen soll­te, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern woll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten bei einem Erd­be­ben ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, jede Spur. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine sehr kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Giu­sep­pi Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er-Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den. Man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann, ein Black­out. Über 30 Jah­re lang war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len gewe­sen, bis man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­fon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Ein Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will das klei­ne Wun­der unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle jene Geschich­ten in mei­nem Gedächt­nis wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nie­mals zu ver­ges­sen wün­sche. — Giu­sep­pi Logan:  Hört ihm zu!
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ein schwebender löffel

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nord­pol : 22.01 UTC — Am Tele­fon mel­de­te sich ein Mann, der mir eine trau­ri­ge Geschich­te erzähl­te. Er sag­te: Mei­ne Frau ist selt­sam gewor­den, sie wur­de soeben 84 Jah­re alt, viel­leicht ist sie des­halb selt­sam gewor­den. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mit­ter­nacht, und sie hat auf­ge­hört zu kochen, des­halb koche ich jetzt für uns bei­de, obwohl ich nie gekocht habe. Mei­ne Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manch­mal sagt sie, dass ich her­vor­ra­gend kochen wür­de. Der Mann am Tele­fon lach­te. Und ich erin­ner­te mich, dass ich vor Jah­ren ein­mal einen Aus­flug zu einer Tan­te mach­te, die damals seit bereits über zehn Jah­ren in einem Heim leb­te, weil sie sehr alt war und außer­dem nicht mehr den­ken konn­te. Es war Früh­ling und der Flie­der blüh­te, die Luft duf­te­te, mei­ne Tan­te saß mit wei­te­ren alten Frau­en an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drück­te mei­ne Stirn gegen die Stirn mei­ner Tan­te und nann­te mei­nen Namen. Ich sag­te, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen wür­de. Ich sprach sehr lei­se, um die Frau­en, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. Sie schlie­fen einer­seits, ande­re betrach­te­ten mich inter­es­siert, so wie man Vögel betrach­tet oder Blu­men. Es ist schon selt­sam, dass ich immer dann, wenn ich glau­be, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit begin­ne, eine Geschich­te zu erzäh­len in der Hoff­nung, die Geschich­te wür­de jen­seits der Stil­le viel­leicht doch noch Gehör fin­den. Ich erzähl­te mei­ner Tan­te von einer Wan­de­rung, die ich unlängst in den Ber­gen unter­nom­men hat­te, und dass ich auf einer Bank in ein­tau­send Meter Höhe ein Tele­fon­buch der Stadt Chi­ca­go gefun­den habe, das noch les­bar gewe­sen war und wie ich den Ein­druck hat­te, dass ich aus den Wäl­dern her­aus beob­ach­tet wür­de. Ich erzähl­te von Leber­blüm­chen und vom glas­kla­ren Was­ser der Bäche und vom Schnee, der in der Son­ne knis­ter­te. Doh­len waren in der Luft, wun­der­vol­le Wol­ken­ma­le­rei am Him­mel, Sala­man­der schau­kel­ten über den schma­len Fuß­weg, der auf­wärts führ­te. So erzähl­te ich, und wäh­rend ich erzähl­te eine hal­be Stun­de lang, schien mei­ne Tan­te zu schla­fen oder zuzu­hö­ren, wie immer, wenn ich sie besu­che. Ihr Mund stand etwas offen und ich konn­te sehen, wie ihr Bauch sich hob und senk­te unter ihrer Blu­se. Am Tisch gleich gegen­über war­te­te eine ande­re alte Frau, sie trug wei­ßes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Vor ihr stand ein Tel­ler mit Erb­sen. Die alte Frau hielt einen Löf­fel in der Hand. Die­ser Löf­fel schweb­te wäh­rend der lan­gen Zeit, die ich erzähl­te, etwa einen Zen­ti­me­ter hoch in der Luft über ihrem Tel­ler. In die­ser Hal­tung schlief die alte Frau oder lausch­te. — stop
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ai : TÜRKEI

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MENSCH IN GEFAHR: „Am Abend des 15. Juli 2016 ver­such­ten Tei­le der tür­ki­schen Streit­kräf­te mit Waf­fen­ge­walt, die Regie­rung zu stür­zen. Doch der Putsch­ver­such wur­de schnell nie­der­ge­schla­gen. Tau­sen­de Men­schen pro­tes­tier­ten auf den Stra­ßen dage­gen und die Put­schis­ten wur­den von Sicher­heits­kräf­ten über­wäl­tigt. In einer Nacht vol­ler Gewalt wur­den Hun­der­te getö­tet und Tau­sen­de ver­letzt. Unmit­tel­bar nach dem geschei­ter­ten Staats­streich beschul­dig­te die Regie­rung den in den USA leben­den Pre­di­ger Fet­hul­lah Gülen und sei­ne Anhänger_innen, sich zum Sturz der Regie­rung ver­schwo­ren zu haben. Die reli­giö­se Gülen-Bewe­gung wird von den tür­ki­schen Behör­den als ter­ro­ris­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on ein­ge­stuft. Am 20. Juli 2016 rief die Regie­rung den Aus­nah­me­zu­stand aus, der zwei Jah­re lang in Kraft blieb. Es folg­te eine mas­si­ve Ver­haf­tungs­wel­le gegen Jour­na­lis­tin­nen, Schrift­stel­le­rin­nen, Rich­te­rin­nen, Staats­an­wäl­tin­nen sowie ver­meint­li­che und tat­säch­li­che Kri­ti­ke­rin­nen der Regie­rungs­par­tei AKP. / Ahmet Altan und sein Bru­der Meh­met Altan nah­men am 14. Juli – dem Vor­abend des Put­sches – an einer Live-Fern­seh­sen­dung mit der Mode­ra­to­rin Naz­lı Ilı­cak teil. Wäh­rend der Sen­dung dis­ku­tier­ten sie auch über tür­ki­sche Poli­tik. Anschlie­ßend wur­den alle drei unter dem Vor­wurf fest­ge­nom­men, in der Sen­dung „unter­schwel­li­ge Bot­schaf­ten“ über den bevor­ste­hen­den Putsch ver­brei­tet zu haben. Naz­lı Ilı­cak kam Ende Juli, Ahmet Altan und Meh­met Altan kamen im Sep­tem­ber 2016 in Unter­su­chungs­haft. Ahmet Altan, Meh­met Altan, Naz­lı Ilı­cak und drei wei­te­re Ange­klag­te wur­den dann im Febru­ar 2018 wegen des Vor­wurfs, „die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung umstür­zen zu wol­len“ zu einer lebens­lan­gen Haft­stra­fe ohne die Mög­lich­keit einer Bewäh­rung ver­ur­teilt. Als das Obers­te Beru­fungs­ge­richt die Schuld­sprü­che im Juli 2019 auf­hob, wur­de ein neu­es Ver­fah­ren gegen fünf der Ange­klag­ten ein­ge­lei­tet. Meh­met Altan wur­de dage­gen frei­ge­spro­chen. / Am 4. Novem­ber 2019 wur­den mit­hil­fe der Ankla­ge „Unter­stüt­zung einer ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on, ohne deren Mit­glied zu sein“ Ahmet Altan zu zehn­ein­halb Jah­ren und die Jour­na­lis­tin Naz­lı Ilı­cak zu acht Jah­ren und neun Mona­ten Haft ver­ur­teilt. Bei­de wur­den bis zum Urteil in ihrem Rechts­mit­tel­ver­fah­ren vor dem Straf­ge­richt für schwe­re Straf­sa­chen Nr. 26 in Istan­bul frei­ge­las­sen und mit einem Rei­se­ver­bot belegt. Das Gericht sprach in dem unfai­ren Ver­fah­ren drei wei­te­re Per­so­nen schul­dig, dar­un­ter zwei Medi­en­schaf­fen­de, und ent­schied, dass sie in Unter­su­chungs­haft blei­ben müss­ten. Die Staats­an­walt­schaft leg­te am 6. Novem­ber 2019 Rechts­mit­tel gegen Ahmet Alt­ans Frei­las­sung ein. Am 8. Novem­ber wies das Gericht für schwe­re Straf­sa­chen Nr. 26 in Istan­bul den Antrag des Staats­an­walts zurück, Ahmet Altan erneut in Haft zu neh­men und ver­wies die Straf­sa­che an das Gericht für schwe­re Straf­sa­chen Nr. 27. Die­ses Gericht akzep­tier­te das Rechts­mit­tel der Staats­an­walt­schaft am 12. Novem­ber. Ahmet Altan und sein Rechts­bei­stand erfuh­ren nicht direkt von die­ser Ent­schei­dung des Gerichts, son­dern durch regie­rungs­na­he Medi­en. Noch am glei­chen Abend wur­de Ahmet Altan zuhau­se in Istan­bul fest­ge­nom­men und in Poli­zei­ge­wahr­sam über­stellt. / Die erneu­te Fest­nah­me von Ahmet Altan scheint poli­tisch moti­viert, will­kür­lich und unver­ein­bar mit dem Recht auf Frei­heit nach Para­graf 5 der Euro­päi­schen Kon­ven­ti­on zum Schut­ze der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten zu sein, der jeden will­kür­li­chen Frei­heits­ent­zug ver­bie­tet. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te stell­te fest, dass vor­sätz­li­che Hand­lun­gen der Behör­den zu Will­kür füh­ren kön­nen. Die erneu­te Inhaf­tie­rung von Ahmet Altan ver­stößt ekla­tant gegen sei­ne Rech­te.“ - Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen bis spä­tes­tens zum 8.1.2020 unter > ai : urgent action
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