himalaya : 5.06 — Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung war zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein sehr kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
kaprunbiber
~ : malcolm
to : louis
subject : KAPRUNBIBER
date : jun 24 12 10.12 p.m.
371 West 11. Straße. Wir haben unsere Position kaum verändert. Frankie scheint sich auf dem Dach des Backsteinhauses, von dem wir bereits erzählten, für unbestimmte Zeit eingerichtet zu haben. Dass wir eine Wohnung anmieten konnten im Haus gleich gegenüber, ist von großem Vorteil, wir fallen nicht weiter auf, in dem wir nach Frankie Ausschau halten. Eine kleine Wohnung mit ramponiertem Dielenboden, der unter unseren Schritten ächzt und kracht. Bei gutem Wetter sitzen wir auf einem der Balkone des Hauses. Frankie besucht uns dort von Zeit zu Zeit, er wagt sich schon auf den Tisch, wenn wir Nüsse für ihn abgelegt haben. Wüsste er, wer wir sind, würde er sich vermutlich fernhalten. Er scheint seine erste Begegnung mit uns tatsächlich vergessen zu haben. So nah kommt er heran, dass wir die Umrisse des Speichermediums, welches wir unter seinem Fell vernähten, mit bloßem Auge erkennen. Und so haben wir angenehme Beobachtungstage. Juni. Die Nächte sind ruhig, stündlich vernehmen wir Signalzeichen der Schiffe vom nahen Fluss. Dann kommt die Sonne und ihre Hitze, Frankie ruht, wie eine Katze, flach auf dem Blechdach des Hauses gegenüber. Manchmal rast er das alte Gemäuer senkrecht auf und nieder, als würde er nach Fliegen jagen. Es scheint ihm außerordentlich gutzugehen, klappernde Mülltonnen, die geöffneten Fenster der Wohnungen, Wassertanks auf den Dächern, in welchen Frankie badet, es ist ein wirklich guter Ort für ein junges, kräftiges Eichhörnchen. Die Nachrichten jedoch, die wir über unsere Kanäle empfangen, sind beunruhigend. Ich zweifele manchmal daran, ob wir noch in der Lage wären, Frankie zu töten, sollte der Befehl zu seiner Beseitigung kommen. – Ihr Malcolm / codewort : kaprunbiber
empfangen am
24.06.2013
1950 zeichen
=
nordpol : 6.55 — l u n g e n l a p p e n
mikrogramme
delta : 5.25 — Seit Tagen denke ich an Robert Walser, an seine Schrift, an seine herausragende Begabung, kleinste Zeichen zu notieren auf jede denkbare Art von Papier. Der private Raum eines zierlichen Notizbuches, das als Institution wieder bedeutend zu werden scheint, könnte für Menschen wie ihn erfunden worden sein. Nehmen wir einmal an, Robert Walser und ich würden je ein Notizbuch von 4 cm Höhe und 4 cm Breite erhalten, 100 Blättchen Papier, das heißt, 200 Flächen zur freien Beschriftung, ein Notizbuch, das im Notfall verschluckt werden könnte, dieses eine Notizbuch also, nur dieses eine, um darin zehn Jahre zu arbeiten, ich wäre bereits nach ein oder zwei Tagen zu Ende gekommen, so voluminös meine Schrift im Vergleich zu Robert Walsers Schrift. Ich müsste von vorn beginnen, radieren, dann wieder schreiben. Mit der vergehenden Zeit würden die Seiten meines Buches dünner und dünner werden, transparent vielleicht, feinste Löcher entstehen, erste Zeichen, dass mein Notizbuch bald verschwunden sein wird. – Samstag. Früher Morgen. Leichter Regen. — stop
belem
ai : BAHRAIN
MENSCH IN GEFAHR : “Wie nun bekannt wurde, ist gegen die bahrainische Aktivistin Zainab Al-Khawaja am 22. Mai erneut eine dreimonatige Haftstrafe verhängt worden. Sie ist eine gewaltlose politische Gefangene. / Am 22. Mai verurteilte ein Strafgericht in der Hauptstadt Manama die Aktivistin Zainab Al-Khawaja zu drei Monaten Gefängnis und einer Kaution von 100 Bahrain-Dinaren (knapp 200 Euro). Gegen die Aktivistin Ma’suma Sayyid Sharaf wurden am selben Tag sechs Monate Haft und eine Kaution von 200 Bahrain-Dinaren (knapp 400 Euro) verhängt. Beide waren wegen “nicht genehmigter Versammlung” und “Anstachelung zum Hass gegen die Regierung” angeklagt worden; zudem wurde ihnen vorgeworfen, bei ihrer Festnahme im Dezember 2011 PolizeibeamtInnen beleidigt zu haben. Zainab Al-Khawajas befindet sich im Frauengefängnis in ‘Issa Town. Besuche ihrer Familie und ihres Rechtsbeistandes werden ihr weiterhin verweigert, da sie es ablehnt, die Gefängniskleidung zu tragen. Ma’suma Sayyid Sharaf befindet sich derzeit auf freiem Fuß. / Zainab Al-Khawaja leistet mittlerweile mehrere kurze Haftstrafen ab, zu denen sie in mindestens vier Fällen verurteilt worden ist. Ihre Entlassung steht nun erst Mitte Dezember 2013 an. Die jüngste Haftstrafe sowie die weiteren gegen sie verhängten Gefängnisstrafen sind endgültig, da sie sich weigert, Rechtsmittel vor höherinstanzlichen Gerichten einzulegen — sie ist überzeugt, dass das bahrainische Rechtssystem von der Regierung kontrolliert wird. Sie hat sich bisher außerdem geweigert, Kautionszahlungen zu leisten und zu Anhörungen vor Gericht oder der Staatsanwaltschaft zu erscheinen. Ihr Rechtsbeistand hat das Kassationsgericht von diesen Umständen unterrichtet in der Hoffnung, eine Urteilsprüfung erreichen zu können. Das Gericht hat jedoch nicht reagiert. Am 28. Februar verurteilte das Berufungsgericht in Manama Zainab Al-Khawaja wegen “Beleidigung eines Polizeibeamten” in einem Militärkrankenhaus zu einer dreimonatigen Haftstrafe. Damit hob es das Urteil des Strafgerichts auf, das sie am 2. Mai 2012 freigesprochen hatte. / Grund hierfür war, dass die Staatsanwaltschaft den Freispruch angefochten hatte. Am 27. Februar 2013 hatte das Berufungsgericht ihre Verurteilung zu einer zweimonatigen Freiheitsstrafe wegen “Zerstörung von Staatseigentum” aufrechterhalten, zu der sie verurteilt worden war, weil sie im Mai 2012 in Haft ein Bild des Königs zerrissen hatte. An diesem Tag bestätigte das Berufungsgericht außerdem ihre Verurteilung zu einer einmonatigen Freiheitsstrafe wegen “Betreten eines Sperrgebiets” (der al-Farooq-Kreuzung — ehemals Perlenplatz) durch ein Strafgericht am 10. Dezember 2012. Zainab Al-Khawaja hatte davon bereits acht Tage in Haft verbracht, bevor sie in Erwartung des anhängigen Rechtsmittelverfahrens freigelassen wurde. Ihr stehen noch weitere Gerichtsverfahren bevor.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 1. August 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
liliput
romeo : 10.12 — Von äußerst heimlicher Art und Weise, Gedanken zu notieren, berichtet Patricia Highsmith in ihrer Erzählung Der Mann, der seine Bücher im Kopf schrieb. Wenn ich nicht irre, so ruht der Mann, von dem in der Geschichte die Rede ist, stundenlang in einem Liegestuhl, indessen er lautlos an seinen Romanen arbeitet. Ein gleichermaßen Wörter eroberndes wie Wörter sicherndes Verhalten. Es ist schwierig für mich, in ähnlicher Weise vorzugehen, nahezu unmöglich, ich habe es versucht, ich komme je nur wenige Sätze weit. Nicht, weil ich vergessen würde, was ich bereits erzählte, nein, ich vergesse das Erzählen selbst, ich beginne zu konstruieren, die Sätze geben sich nicht die Hand wie üblich, jeder neue Satz scheint leblos zu sein, erstarrt, vertraut, erledigt. Wenn ich nun doch so heimlich wie möglich zu schreiben versuche, schreibe ich in ein Notizbuch, schreibe, sagen wir, einhundert Seiten weit, bis das Notizbuch mit Zeichen gefüllt ist. Was aber ist nun zu tun mit diesem Buch, das niemand lesen darf, nur ich allein, weil es ein privates Buch sein soll, weil das mein Wunsch, mein Wille ist, dass nur ich dieses Buch lesen werde, solange ich nicht entscheide, dass das Buch ein öffentliches Buch werden könnte. Ich müsste das Buch verstecken, was nicht wirklich möglich ist, oder ich müsste das Buch codieren, also ein zweites Buch verfassen, in dem das erste Buch enthalten ist, allerdings verfremdet durch eine Methode, durch einen Schlüssel (Liliput), zu Aufbewahrung in meinem Kopf. Sobald nun das erste Buch in ein zweites Buch versetzt wurde, würde es möglich sein, das erste Buch verschwinden zu lassen, mittels eines Feuers beispielsweise. Man stelle sich einmal vor, ich würde meinen Schlüssel zur Methode der Entzifferung des zweiten Buches vergessen. Beide Bücher verloren, wäre ich gezwungen, das ist verrückt, mein verschlüsseltes Buch einer Behörde zu offerieren, die über ausreichende Rechenleistung verfügt, um meinen Text zu Lebzeiten noch dechiffrieren zu können. — stop
ANFANG === bEKOl6nBFkbLw4UCQdhQBw === ENDE
echo : 0.25 — ANFANG === a 4 n Z Q c Z c V 5 2 E p 5 0 P B S a l A B Y l g e 0 E Z M a N Q M D U F f a 5 g a F X 0 r j W u G h y B C V u v f L 7 U r D z s 9 y V 7 Q x I Q R E m I L c I 9 c n c D p t x g / y G r p M e k z a x 3 s O f c H / E e Q s 2 X 0 8 6 6 U h i M J 3 G 5 0 r m A f j Q j h k 3 f f 7 5 m r W + i R O f F H R d b m 1 n q i v 8 B Y 5 P m b q J 6 W J 8 Z t j o F h u J V Z T r W V 8 h + I 3 Y k g / P j L 0 S 5 p B j 8 J t / B 1 8 p + O O h k l 5 f n i z q e H J s s e g P W 9 m F n c L n / 6 Y C 8 n L p v / G H x m n K / D I 5 v d F u 8 u 8 M l 5 A m / V Y p g Q === ENDE / codewort : birdybirdy — stop
koffer
tango : 23.59 — Mit dieser Minute endet Louis’ 18868. Lebenstag. Ich habe an diesem Tag eine seltsame Erfahrung gemacht. Vor einer Stunde ungefähr bemerkte ich, dass ich mein Notizbuch, in welches ich handschriftlich Wörter notiere, mit scheinbar anderen Augen als noch am frühen Morgen betrachtete. Ich dachte, bei diesem kleinen Heft hier handelt es sich um meinen einzig verbliebenen Raum, in dem ich Gedanken aufzeichnen kann, die nur für mich bestimmt sind. Ja, so könnte es gekommen sein. Alle Wörter, die ich mittels meiner elektrischen Schreibmaschine, die mit dem Internet verbunden ist, notiere, sind oder sind möglicherweise öffentliche Wörter, weil sie einem kommunikativen System verbunden sind, welches jederzeit ausgelesen und gespeichert werden kann auf unbestimmte Zeit. Es existieren demzufolge aufgezeichnete Wörter einerseits, die tatsächlich so lange privat sind, wie ich den Koffer, in dem ich sie aufbewahre, nicht verliere, andererseits aufgezeichnete Wörter, die sich außerhalb dieses Koffers befinden. — stop