Aus der Wörtersammlung: alpha

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ein pferd

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hima­la­ya : 6.08 — Im Traum auf einer Hoch­ebe­ne begeg­net mir ein Pferd. Als das Pferd näher kommt, ent­de­cke ich Hun­dert­tau­sen­de Amei­sen, die auf ihm wan­dern. Ein Rau­schen ist zu ver­neh­men, die Luft schmeckt bit­ter, aber das habe ich mir wohl aus­ge­dacht. Wenn sich das Pferd schüt­telt oder mit einem Mus­kel zuckt, flie­gen Amei­sen­kör­per durch die Luft. Dann war­tet das Pferd gedul­dig, bis alles wie­der an Bord gekom­men ist. — stop

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nach mitternacht

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alpha : 2.15 — Weit nach Mit­ter­nacht, frü­her Abend in der Nacht­men­schen­zeit. Ich habe gera­de einen erneu­ten Ver­such unter­nom­men, 18.924.150 Zei­chen eines mensch­li­chen Genoms als Sequenz in mein Text­ver­ar­bei­tungs­pro­gramm zu laden. Seit letz­ten Bemü­hun­gen sind drei Jah­re ver­gan­gen, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, die drit­te seit­her, ist in ihren Berech­nun­gen schnel­ler gewor­den, und doch schei­tert sie mit der 52758. Sei­te des Doku­men­tes, bleibt kom­men­tar­los ste­hen, gefriert, oder hält die Luft an, wie­der scheint sie mir mit­tei­len zu wol­len, die­sen Unsinn mache ich nicht mit. Man stel­le sich ein­mal vor, wir wür­den bald erfolg­reich sein, eine wei­te­re Schreib­ma­schi­ne und ich, ein voll­stän­di­ges Doku­ment wäre errech­net. Wie ich mich nun auf den Weg mache zu mei­ner Dru­cker­ma­schi­ne, die sich in nächs­ter Nähe in einem wei­te­ren Zim­mer befin­det. — stop

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am karibasee

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alpha : 20.22 — Nadi­ne Gor­di­mer erzähl­te vor weni­gen Tagen in einem Fern­seh­ge­spräch, man habe vor lan­ger Zeit ihren Roman Burger’s Daugh­ter auf gehei­men Wegen zu Nel­son Man­de­la ins Gefäng­nis geschmug­gelt. Auf den­sel­ben gehei­men Wegen sei ihr kurz dar­auf ein per­sön­li­cher Brief Nel­son Man­de­las über­mit­telt wor­den, zeit­le­bens ein kost­ba­res Doku­ment. Ich hör­te Nadi­ne Gordimer’s hel­le Stim­me zum ers­ten Mal. Wäh­rend ich lausch­te und ihr anmu­ti­ges Gesicht betrach­te­te, erin­ner­te ich mich an den ers­ten Moment, da ich vor Jah­ren die Lek­tü­re einer ihrer Erzäh­lun­gen auf­ge­nom­men hat­te, Some­thing out The­re. Ich folg­te damals nach weni­gen Sät­zen dem Wunsch, in der digi­ta­len Sphä­re eine Foto­gra­fie des Kari­ba­sees zu suchen, weil Nadi­ne Gor­di­mer vom künst­li­chen Gewäs­ser in der Savan­nen­land­schaft erzähl­te, von Ele­fan­ten gleich­wohl, die sich in sei­ne Flu­ten stürz­ten, um uralten Wan­der­rou­ten zu fol­gen. — Was hat­ten die ertrin­ken­den Tie­re dort unter dem Was­ser­spie­gel gese­hen? — Wovon hat­ten sie gehört in ihrer letz­ten Lebens­se­kun­de? — Ich las von der Tie­fe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sol­len, von der Luft­feuch­tig­keit und vom Gewicht der Ele­fan­ten­kör­per, von der Bio­dich­te ihrer Kör­per und von Kul­tu­ren in See­nä­he sie­deln­der Men­schen. Und wäh­rend ich so vor mich hin stu­dier­te, von Sei­te zu Sei­te, von Link zu Link, ver­ging eine Stun­de Zeit. Plötz­lich erin­ner­te ich mich an das Buch, das ich neben mir abge­legt hat­te, und setz­te mei­ne Lek­tü­re fort. — Heu­te ist Nadi­ne Gor­di­mer gestor­ben. — stop

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tarasa shevchenko boulevard

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alpha : 3.12 — Auf Nacht­bän­ken schla­fen Men­schen, ärm­lich geklei­de­te Per­so­nen. Sie lie­gen mit ihrem Kopf auf Taschen, in wel­chen sich Aus­wei­se und Geld befin­den. Sobald Men­schen schla­fen, erschei­nen sie in mei­nen Augen wie Kin­der, sie wir­ken zer­brech­lich, auch wenn sie bären­star­ke Män­ner sind, die vor Wochen noch in Rumä­ni­en oder Bul­ga­ri­en leb­ten. Stau­big sind sie gewor­den, ein stren­ger Geruch geht von ihren Kör­pern aus. Wenn sie wach wer­den am Mor­gen, wenn sie im gol­de­nen Licht der Flug­ha­fen­trans­fer­räu­me sit­zen, die Luft duf­tet nach fri­schem Gebäck und Kaf­fee, schau­en sie mit tod­mü­den, gerö­te­ten Augen in den Strom der Pas­sa­gie­re, fei­ne, edle Gestal­ten dort, vie­le schei­nen fröh­lich zu sein, sie füh­ren fla­che Com­pu­ter mit sich und Bord­zei­tun­gen, sind in graue oder blaue Anzü­ge gehüllt, in Beglei­tung schwe­ben­der oder rol­len­der Kof­fer. Es ist kurz nach sechs Uhr. Lang­stre­cken­flug­zeu­ge sind gelan­det, New York, Los Ange­les, Peking, Mum­bai, Bue­nos Aires, Otta­wa. Vor einer Roll­trep­pe war­ten zwei Frau­en. Die eine der Frau­en erzählt eine Geschich­te in deut­scher Spra­che mit rus­si­schem Akzent. Ich blei­be ste­hen, ich höre zu. Es ist eine Geschich­te, die von der Stadt Kyjiw han­delt. Sie sei, sagt die Frau, im Juli des Jah­res 1986 nach Kyjiw gekom­men, um dort zu sin­gen, das heißt, ein Kon­zert zu geben. Sie erin­ne­re sich an blei­graue Roh­re, die aller­or­ten ent­lang der Häu­ser­wän­de in den Stra­ßen ver­legt wor­den sei­en. Was­ser ström­te aus die­sen Roh­ren über Geh­stei­ge, es war dar­um so gewe­sen, um radio­ak­ti­ven Staub, der von der Luft her­an­ge­tra­gen wur­de, fort  zuwa­schen. Für einen Moment der Ein­druck, die Frau habe bemerkt, dass ich ihrer Geschich­te fol­ge und dass sie nichts dage­gen ein­zu­wen­den hat. Sie ent­nimmt ihrer Hand­ta­sche sie­ben Aus­wei­se in wein­ro­ter Far­be, Rei­se­päs­se, ungül­tig gewor­de­ne Doku­men­te, in einem die­ser Aus­wei­se befin­det sich ein Stem­pel, jener Stem­pel, der die Rei­se nach Kyjiw doku­men­tiert. Es ist eine Fra­ge von Sekun­den, bis die Frau mit ihrem rech­ten Zei­ge­fin­ger das Papier, auf dem der Stem­pel seit Jah­ren fest­ge­hal­ten ist, berüh­ren wird. — stop

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gedankengang

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echo : 3.18 — Ich gehe ein paar Schrit­te nach links, dann gehe ich ein paar Schrit­te nach rechts. Sobald ich gehe, den­ke ich in einer ande­ren Art und Wei­se, als wür­de ich noch sit­zen. Ich habe schon viel nach­ge­dacht, wäh­rend ich ging. Und ich habe schon viel ver­ges­sen, wäh­rend ich ging. Wenn ich gehe, kom­men die Gedan­ken aus der Luft und ver­schwin­den wie­der in die Luft. Wenn ich sit­ze, kom­men die Gedan­ken aus mei­nen Hän­den. Sobald ich ein­mal nicht schrei­be, ruhen mei­ne Hän­de auf den Tas­ten der Schreib­ma­schi­ne und war­ten. Sie war­ten dar­auf, dass eine Stim­me in mei­nem Kopf dik­tiert, was zu schrei­ben ist. Ich könn­te viel­leicht sagen, dass mei­ne Hän­de dar­auf war­ten, mein Gedächt­nis zu ent­las­ten. Was ich mit mei­nen Hän­den in die Tas­ta­tur der Maschi­ne schrei­be, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb, nicht gelernt, nicht gespei­chert, weil ich weiß, dass ich wie­der­kom­men und lesen könn­te, was ich notier­te. Selt­sa­me Din­ge. Ich den­ke manch­mal selt­sa­me Din­ge zum zwei­ten oder drit­ten Mal. Gera­de eben habe ich wahr­ge­nom­men, dass es nicht mög­lich ist, zwei Zei­chen zur sel­ben Zeit auf mei­ner Schreib­ma­schi­ne zu schrei­ben, immer ist ein Zei­chen um Bruch­tei­le von Sekun­den schnel­ler als das ande­re Zei­chen. Wenn ich selt­sa­me Din­ge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht blei­ben, wo ich bin. Die Freu­de ist ein Gefühl, das mich in Bewe­gung ver­setzt. Ich sprin­ge auf, wenn ich saß, oder ich sprin­ge in die Luft, wenn ich bereits auf mei­nen Bei­nen stand. Dann gehe ich ein paar Schrit­te nach links, dann gehe ich ein paar Schrit­te nach rechts. Sobald ich gehe, den­ke ich in einer ande­ren Art und Wei­se, als wür­de ich noch sit­zen. — Kurz nach vier Uhr auf dem Mai­dan-Platz, Kyjiw. — stop

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medianusgabel

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tan­go : 3.22 — Hör­te Tho­mas Bern­hard sagen: Alles ist immer wirk­lich, es gibt nichts Erfun­de­nes. Glück­lich bin ich über die­sen Satz. — Ana­to­mi­sche Arbeits­wör­ter der spä­ten Nacht: Man­del­brotstruk­tur Lebens­baum Aug­ap­fel Pyra­mi­den­bahn Venen­stern Liqu­or Media­nus­ga­bel Herz­beu­tel Situs inver­sus. — stop

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bristolhotel

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alpha : 2.26 — Fol­gen­de Per­son, ein Mann, könn­te rei­ne Erfin­dung sein. Der Mann war mir wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges auf­ge­fal­len, das heißt, ich hat­te einen Ein­fall oder eine Idee, oder ich mach­te viel­leicht eine Ent­de­ckung. Ich könn­te von die­ser Per­son, die sich nicht weh­ren kann, behaup­ten, dass sie nicht ganz bei Ver­stand sein wird, weil sie seit lan­ger Zeit in einem Hotel­zim­mer lebt, wel­ches sie nie­mals ver­lässt. Das Hotel, in dem sich die­ses Zim­mer befin­det, erreicht man vom Flug­ha­fen der nor­we­gi­schen Stadt Ber­gen aus in 25 Minu­ten, sofern man sich ein Taxi leis­ten kann. Es ist das Bris­tol, unweit des Natio­nal­thea­ters gele­gen, dort, im drit­ten Stock, ein klei­nes Zim­mer, der Boden hell, sodass man mei­nen möch­te, man spa­zier­te auf Wal­kno­chen her­um. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigent­lich erzäh­len will. Es han­delt sich um einen wohl­ha­ben­den Mann im Alter von fünf­zig Jah­ren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haa­re auf dem Kopf, wiegt 73 Kilo­gramm, und trägt eine Bril­le. Sie­ben wei­ße Hem­den gehö­ren zu ihm, Strümp­fe, Unter­wä­sche, dun­kel­brau­ne Schu­he mit wei­chen Soh­len, ein hell­grau­er Anzug und ein Kof­fer, der unter dem Bett ver­wahrt wird. Auf einem Tisch nahe einem Fens­ter, zwei Hand­com­pu­ter. In den Anschluss des einen Com­pu­ters wur­de ein USB-Spei­cher­me­di­um ein­ge­führt. Auf dem Bild­schirm sind Ver­zeich­nis­se und Datei­na­men zu erken­nen, die sich auf jenem Spei­cher­me­di­um befin­den. Auf dem Bild­schirm des zwei­ten Com­pu­ters ein ähn­li­ches Bild, Ver­zeich­nis­se, Datei­na­men, Zeit­an­ga­ben, Grö­ßen­ord­nun­gen. Was wir sehen, sind Com­pu­ter des Man­nes, der Mann arbei­tet in Ber­gen im Bris­tol im Zim­mer auf dem Kno­chen­bo­den. Er sitzt vor den Bild­schir­men und öff­net Datei­en, um sie zu ver­glei­chen, Tex­te im Block­satz. Zei­le um Zei­le wan­dert der Mann mit­hil­fe einer Blei­stift­spit­ze durch das Gebiet der Wor­te, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Spra­che notiert wur­den, die mir unbe­kannt. Es scheint eine ver­schlüs­sel­te Spra­che zu sein, wes­halb der Mann dazu gezwun­gen ist, jedes Zei­chen für sich zu über­prü­fen. Fünf Stun­den Arbeit am Vor­mit­tag, fünf Stun­den Arbeit am Nach­mit­tag, und wei­te­re fünf Stun­den am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafel­was­ser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, See­teu­fel, Stein­butt. 277275 Datei­en sind zu über­prü­fen, 12.532.365 Sei­ten. Er scheint noch nicht sehr weit gekom­men zu sein. Die Vor­hän­ge der Fens­ter sind zuge­zo­gen, es ist ohne­hin gera­de eine Zeit ohne Licht. Ein Mäd­chen, das ihm manch­mal sei­nen Fisch ser­viert, macht ihm schö­ne Augen. Mor­gens sind die Hör­ner der Schif­fe zu ver­neh­men, die den Hafen der Stadt ver­las­sen. Es ist der 1. Dezem­ber 2013. — stop
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hummergeschichte

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alpha : 20.16 — Ich habe ges­tern mit K. gespro­chen. Er erzähl­te, er habe unlängst ver­suchs­wei­se online von Ham­burg aus einen gekoch­ten Hum­mer in Man­hat­tan bestellt. Das Tier kos­te­te 28 Dol­lar, alle not­wen­di­gen Anga­ben waren bald aus­ge­füllt, Name, Adres­se, Kre­dit­kar­ten­num­mer. Es war ein spä­ter Abend gewe­sen. K. erhielt einen Anruf. Er plau­der­te eini­ge Zeit mit einem Freund. Als er an den Com­pu­ter zurück­kehr­te, war sei­ne Maschi­ne ein­ge­schla­fen, sie erwach­te sofort, als er eine Tas­te beweg­te. In die­sem Moment muss es gesche­hen sein. K. berühr­te die wei­ter­hin geöff­ne­te Bestell­form an ent­schei­den­der Stel­le mit sei­ner Mou­se, kurz dar­auf erreich­te ihn per E‑Mail eine Bestä­ti­gung, der Hum­mer sei (Ship­ping) auf dem Weg. Ver­su­che K.’s, die Bestel­lung tele­fo­nisch rück­gän­gig zu machen, schlu­gen fehl, der Betrag von 28 Dol­lar für das Tier plus 25 Dol­lar Trans­port­ge­bühr wur­den von sei­nem Kre­dit­kar­ten­kon­to abge­bucht. Zwei Wochen spä­ter erhielt K. Nach­richt von hie­si­ger Zoll­be­hör­de, eine Sen­dung lie­ge für ihn am Hafen zur Abho­lung bereit. Ein fla­ches Gebäu­de, Import, meh­re­re Schal­ter, Trans­port­bän­der, Beam­te in grü­nen Uni­for­men. Als K. vor Ort erschien, wur­de gera­de eine Per­son, die hef­tig dis­ku­tier­te, in Hand­schel­len abge­führt. K. war­te­te. Nach einer Stun­de wur­de er zu einem Schal­ter geru­fen. Man über­reich­te ihm ein For­mu­lar, dem eine Foto­gra­fie bei­gefügt wor­den war. Das Doku­ment zeig­te ein geöff­ne­tes Paket von Sty­ro­por, dar­in einen Sud, in wel­chem wesent­li­che Tei­le eines Hum­mers schwam­men, Füh­ler, Schwanz, Augen­stie­le, Zan­gen, alles war noch gut zu erken­nen gewe­sen. Hän­de, die in Hand­schu­hen steck­ten, hiel­ten das Paket ins Licht. Auf beglei­ten­dem Schrei­ben wur­den Ver­bren­nungs­kos­ten von 118 EUR für impor­tier­te Son­der­müll­wa­re ange­mahnt. Ein Beam­ter berich­te­te, einer sei­ner Kol­le­gen sei wäh­rend der Öff­nung des Pake­tes umge­fal­len, die­ser habe sich am Kopf ver­letzt, wei­te­re Kos­ten wären denk­bar. – Sonn­tag. stop. Viel­leicht. stop. Guten Abend! — stop
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