alpha : 0.03 — Ob es wohl möglich ist, ein Blatt Papier, das aus Millionen sehr kleiner Lebewesen bestehen wird, mit einer Schere, sagen wir, in zwei Teile zu zerlegen? Was sollte geschehen? Würden meine papierenen Tiere Geräusche erzeugen, die Widerspruch signalisieren, Empörung, Furcht? Oder würden sie weichen, sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, eine blitzschnell sich vollziehende Bewegung der Entropie? – Sonntag. stop. Warme, geschmeidige Stunden. stop. Hell vom Schnee, die Luft.
Aus der Wörtersammlung: bewegung
vorstellung
zoulou : 20.02 — Die vielleicht zärtlichste Weise, einen Menschen zu berühren : eine Bewegung der Vorstellung, eine Bewegung des Einfühlens. — stop
hydra No 2
lima : 22.55 — Es schneit angeblich, mag es schneien. Über dem Schnee und seinen Wolken scheint der Mond. — Was haben wir heute eigentlich für einen Tag, Sonntag vielleicht oder Montag? Abend jedenfalls, einen schwierigen Abend. Würde ich aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, während er Tee zubereitet, er sagt: Heute machen wir das, heut ist es richtig. Ein Bündel von Melisse zieht durchs samtig heiße, flimmernde Wasser. Jetzt trägt er seine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer, schaltet den Bildschirm an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor dem Schreibtisch und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe. Dann steht er, steht zwei Meter vom Bildschirm entfernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Da ist eine Stimme. Eine schrille Stimme spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Töne, sodass der Mann vor dem Schreibtisch einen Schritt zurücktritt. Er scheint sich zur Betrachtung zu zwingen. Zwei Finger der rechten Hand bilden einen Ring. Er hält ihn vor sein linkes Auge, das andere Auge geschlossen, und sieht hindurch. So verharrt er, leicht vorgebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atmen heftig zu hören. Kurz darauf steht er wieder in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. – Was machen wir jetzt? — stop
fotografieren
echo : 0.52 — Dieses kleine Stück hier, zur Vollmondnacht, handelt von einer Frau, die mir vor wenigen Stunden nach langer Zeit der Abwesenheit wieder begegnet ist, weil ich den silbergrauen Mond am wolkenlosen Abendhimmel bemerkt hatte, und aus diesem heiteren Luftraum heraus, war sie dann plötzlich zu mir hereingefallen, selbst ihre Stimme, eine außerordentlich leise Stimme, ist nun so gegenwärtig als wäre kaum Zeit vergangen seit unserer Unterhaltung im Präpariersaal der Münchener Anatomie. Ich hätte sie damals beinahe übersehen, eine kleine Gestalt, die präparierend auf einem Schemel kniete und merkwürdige Bewegungen mit den Augen machte. Sie betrachtete den Körper vor sich auf dem Tisch mit einem ruhigen, mit einem festen Blick für je einige Sekunden, dann schloss sie die Augen für etwa dieselbe Zeit, die sie geöffnet gewesen waren, und so wiederholte sich das Stunde um Stunde. Einmal setzte ich mich neben sie an den Tisch und erzählte, dass ich ihre Augen, ihren Blick beobachtet haben würde und den Eindruck gewonnen, sie mache Bewegungen mit ihren Augen, die der Linsenbewegung eines Fotoapparates ähnlich seien. Richtig, antwortete die Frau, ich schließe meine Augen und schaue mir im Dunkeln an, was ich gespeichert habe. — Eine seltsame Stimme. Sehr hell. Und scheu. Ein Zittern. Wie durch einen Kamm geblasen. — stop
franny and zooey
foxtrott : 10.00 — Flugzeug über Atlantik quer. 7 Stunden 25 Minuten. Bewegung auf dem Bildschirm wie Dämmerung, wie Eisschmelze, wie Graswachsen. Luft von Zimt, Mundvoll Lebkuchen. So liegen, ein Auge ruhend auf Pixelmeer, das andere auf Salingers Franny. Wispernde Stimmen der Manhattenoffizers, leise Aufnahme, einen Tag festhalten, eine Nacht. Das Wasser des Grönlandeises, noch langsamer als das Älterwerden und so sicher, so ausgemacht, wie es im Süden nach den Häusern der armen Küstenmenschen greift. Man hört das nicht, man denkt das nicht. Es ist längst schon eingearbeitet, vielleicht, in jede Erwartung. Luft von Zimt, Mundvoll Lebkuchen. Ein Auge ruhend auf dem Meer, das andere auf Franny. Coltrane, John: A love supreme. Zeit vergeht. — stop
regenschirmtiere vol.2
tango : 22.28 — Seit einigen Tagen denke ich, sobald ich lese, begeistert an Neurone, Synapsen, Axone, weil ich hörte, dass ich mittels Gedanken, die Anatomie meines Gehirns zu gestalten vermag. Vorhin, zum Beispiel, ich folgte der Ankunft eines Schiffes in New York im Jahre 1867, überlegte ich, was nun eigentlich geschieht in diesem Moment der Lektüre dort oben hinter meinen lesenden Augen, ob man verzeichnen könnte, wie für das Wort M a r y, das in dem Buch immer wieder aufgerufen wird, frische Fädchen gezogen werden, indem sich das Wort schrittweise mit einer unheimlichen Geschichte verbindet. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schlafend, Stunde um Stunde, Geräusche fallenden Wassers vernehme? In der vergangenen Nacht jedenfalls habe ich wieder einmal von Regenschirmtieren geträumt, sie scheinen sich fest eingeschrieben zu haben in meinen Kopf, vielleicht deshalb, weil ich sie schon einmal nachtwärts gedacht und einen kleinen Text notiert hatte, der wiederum in meinem Gehirn zu einem bleibenden Schatten geworden ist. Natürlich besuchte ich meinen Schattentext und erkannte ihn wieder. Trotzdem das Gefühl, Gedanken einer fernen Person wahrgenommen zu haben. Die Geschichte geht so: Von Regenschirmtieren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Wasser, und ich wunderte mich, wie ich so durch die Stadt ging, beide Hände frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und ich staunte, nie zuvor hatte ich eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, die Flughaut der Abendsegler. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnete noch immer. Jetzt sitze ich seit bald einer halben Stunde mit einer Tasse Kaffee vor meinem Schreibtisch und überlege, wie mein geträumter Regenschirm sich in der Luft halten konnte. Ob er wohl über Augen verfügte und über ein Gehirn vielleicht und wo genau mochte dieses Gehirn in der Anatomie des schwebenden Schirms sich aufgehalten haben. — stop
situs inversus / apsis 5
tango : 8.58 – Früher Morgen. Eine Nacht schwerer Arbeit liegt hinter mir. Ich hatte gestern noch einer Freundin, deren Vater gerade gestorben ist, während eines Spazierganges von meiner Suche nach Rheinelefanten erzählt. Wie ich auf und ab fahre, Stunde um Stunde mit dem Zug zwischen Bingen und Koblenz, die Kamera gezückt. Und wie sie in ihrer Trauer doch für einen Moment herzhaft lachte. Dann sitze ich vor dem Schreibtisch und habe partout kein Verlangen nach anatomischen Dingen. Dem entgegen menschenleere Szenen weiter gelesen. Ich lehne an einer Wand des Präpariersaal’s. Irgendwo klappert ein Stück Metall, nichts weiter ist zu hören. Oder doch vielleicht ein schimmerndes Geräusch in meinem Kopf, leise, leise. Jenseits der Fenster hüpfen Vögel in den Bäumen, Bewegung, die anzeigt, dass ich weder vor einem Gemälde noch vor einer Fotografie Platz genommen habe, dass ich mich von der Wand lösen und zu einem der Tische wandern könnte, etwas verändern, den Faltenwurf einer Decke vielleicht, oder eine Seite umblättern in einem anatomischen Atlas, der im Saal zurückgelassen wurde. Ich sollte ein Stück Kreide in die Hand nehmen und auf eine Tafel schreiben: Situs inversus / Apsis 5 Tisch 82
speed
alpha : 0.02 – Werden Bewegungen jener Menschen, deren Schreibmaschinen über Doppelherzprozessoren verfügen, vielleicht beschleunigt? — stop
zeppeline
alpha : 8.06 — Seit Tagen denke ich darüber nach, weshalb mich die Ansicht japanischer Fesselbombenballone irritiert. Ich komm nicht dahinter. Vielleicht einmal eine Geschichte erzählen, die von oder mit Bombenballonen handelt, eine Art fabulierende Denkbewegung, die die Substanz dieser seltsamen Idee in meinem Leben wirklicher, greifbarer werden lässt. Nicht also erfinden, sondern etwas Gefundenes buchstabieren, um es genauer denken oder überhaupt als etwas Eigenes spüren zu können. Gestern Abend noch erzählte ich in einem Gespräch von Zeppelinkäfern, wie sie durch meine Wohnung schweben. Ich erzählte in einer Weise, dass ich eher sagen müsste, dass ich von der Erscheinung der Zeppelinkäfer in meinem Zimmer berichtete, weil sie, im Februar zunächst wortweise auf Notizpapier gesetzt, für mein Gehirn zur einer wirklichen Erscheinung geworden sind. — Eine beruhigende Beobachtung. — stop
database
nordpol : 14.50 — Sobald ich mit einer kleinen Programmmaschine die Datenbank meiner Particlesdenkbewegung halb automatisch von Ballast befreie, die Empfindung, tatsächlich, ich selbst, körperlich leichter geworden zu sein. Congratulations, your database is completely optimized! — stop