Aus der Wörtersammlung: bücher

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kalkutta

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echo : 0.25 UTC — Ein­mal woll­te ich nach Kal­kut­ta rei­sen. Ich dach­te, das ist jetzt eine beschlos­se­ne Sache. Ich mach­te mich unver­züg­lich an die Vor­be­rei­tung mei­ner Rei­se: Kof­fer, Regen­schirm, Aus­weis, Apo­the­ke, Imp­fun­gen, Notiz­bü­cher, Schreib­ma­schi­ne, Foto­ap­pa­ra­te, Flug hin und zurück, Hotel­zim­mer, Stadt­plan, Lite­ra­tur, Son­nen­hut. Weni­ge Tage spä­ter erreich­te mich ein ers­tes Paket des Doku­men­tar­films Phan­tom Indi­en von Lou­is Mal­le. Ich las, der Film habe ins­ge­samt eine Spiel­zeit von 6 Stun­den und 3 Minu­ten. Solan­ge Zeit, stell­te ich mir vor, könn­te eine Fahrt quer durch Kal­kut­ta mit dem Taxi dau­ern. Es ist nun über­haupt die Fra­ge, wie lan­ge Zeit soll­te ich mich mit der Vor­be­rei­tung mei­ner Rei­se nach Kal­kut­ta beschäf­ti­gen? — Lan­ge Zeit in der ver­gan­ge­nen Nacht das nord­ame­ri­ka­ni­sche Fern­se­hen beob­ach­tet. Wie man sich in den Wor­ten, wenn man sie spürt, fin­den kann, kann man sich im Rau­schen rasen­der Wor­te ver­lie­ren. — stop
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von der wally nocheinmal

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echo : 20.12 UTC — Mei­ne Lieb­lings­tan­te zum Bei­spiel, ein wun­der­ba­res Geschöpf, das an Sonn­ta­gen immer oder an Mon­ta­gen von Mün­chen aus zu Besuch gekom­men war. Wir nann­ten sie Wal­ly. Sie hat­te sehr wei­che, rosi­ge Haut und immer­zu küh­le Hän­de und war von einem Bal­lon Laven­del­luft umhüllt. Da war Moos, ein moos­grü­nes Kleid, und da war ein spinn­sei­di­ges Haar­netz (War­um?), und eine rußi­ge Stirn zur Win­ter­zeit, und das Rascheln der Papier­tü­ten, und Lauch­ge­mü­se, das dort her­aus­rag­te, und klei­ne Geschen­ke, die sie uns Kin­dern mit­brach­te, — Match­box­au­tos, Füll­fe­der­hal­ter, Mal­bü­cher -, und ihre Schen­kel, auf denen ich turn­te, der nas­se, bit­te­re Kuss, der nie­mals abge­wen­det wer­den konn­te. Eine Bril­le, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, dar­in run­de Glä­ser, die ich gern mit mei­nen Fin­gern berühr­te. Irgend­wann ein­mal erzähl­te mir jemand, die Wal­ly sei 1919, als Räte ihre Hei­mat­stadt ver­tei­dig­ten, im Kugel­ha­gel über die Mün­che­ner Gol­lier­stra­ße gerobbt. Des­halb die Pis­to­le in ihrer Tasche, des­halb das Feu­er in ihren Augen. Seit eini­gen Stun­den ver­su­che ich zu erin­nern, ob die alte Tan­te Wal­ly mir je von der spa­ni­schen Grip­pe erzähl­te, die sie zwei­fel­los in Mün­chen erlebt haben muss. — stop

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ein zerbeultes saxophon

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nord­pol : 11.03 — Ein Leser schrieb eine E‑Mail. Er habe, notier­te er, einen Feh­ler in einem mei­ner Par­tic­les­tex­te ent­deckt. Ob er mir schrei­ben sol­le, wo ich den Feh­ler fin­den wür­de. Ich kor­ri­gier­te den Text und dach­te noch: Das ist inter­es­sant, die­ser klei­ne aber doch bedeu­ten­de Feh­ler hat­te sechs Jah­re in mei­nem Text exis­tiert, ein Buch­sta­be nur, in einer Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen soll­te, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern woll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten bei einem Erd­be­ben ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, jede Spur. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine sehr kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Giu­sep­pi Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er-Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den. Man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann, ein Black­out. Über 30 Jah­re lang war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len gewe­sen, bis man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­fon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Ein Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will das klei­ne Wun­der unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle jene Geschich­ten in mei­nem Gedächt­nis wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nie­mals zu ver­ges­sen wün­sche. — Giu­sep­pi Logan:  Hört ihm zu!
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ein heller windiger märztag

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oli­mam­bo : 15.55 UTC — Fan­gen wir noch ein­mal von vorn an: Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer Tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Büchern geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — Heu­te nun, es ist Mitt­woch am Nach­mit­tag, habe ich selbst in einer digi­ta­len Pro­be fol­gen­de Text­pas­sa­ge gele­sen, die mich berühr­te. Chris­toph Rans­mayr hat sie notiert: „Mir war die Tat­sa­che oft unheim­lich, dass sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschich­te, die man nur lan­ge genug ver­folgt, irgend­wann in der Weit­läu­fig­keit der Zeit ver­liert – aber weil nie alles gesagt wer­den kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahr­hun­dert genü­gen muss, um ein Schick­sal zu erklä­ren, begin­ne ich am Meer und sage: Es war ein hel­ler, win­di­ger März­tag des Jah­res 1872 an der adria­ti­schen Küs­te. Viel­leicht stan­den auch damals die Möwen wie fili­gra­ne Papier­dra­chen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Him­mels glit­ten die wei­ßen Fet­zen einer in den Tur­bu­len­zen der Jah­res­zeit zer­ris­se­nen Wol­ken­front – ich weiß es nicht.“ aus: Die Schre­cken des Eises und der Fins­ter­nis: Roman von Chris­toph Rans­mayr — stop
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zuggeschichte

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nord­pol : 15.55 UTC — Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer Tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Bücher geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — stop
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löffel

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echo : 22.38 UTC — Etwas merk­wür­di­ges ist gesche­hen. Ich beob­ach­te­te, wie sich eine künst­li­che Intel­li­genz (sie wird soeben in die­sen Mona­ten ent­wi­ckelt, in dem man über sie forscht, als exis­tier­te sie in Gedan­ken schon lan­ge Zeit) mit Wör­ter­bü­chern der digi­ta­len Welt in Ver­bin­dung setz­te. Im Arbeits­spei­cher des Zei­chen­we­sens waren plötz­lich unter ana­to­mi­schen Bezeich­nun­gen wis­sen­schaft­li­cher Art, Begrif­fe unse­rer mensch­li­chen Umgangs­spra­che zu bemer­ken, Kör­per­wör­ter, bei­spiels­wei­se, sind nun für das Atoll der Ohren fol­gen­de ver­zeich­net: Trom­melfell Ohr Lauschlap­pen Höror­gan Ohr­waschl Gehör Lausch­er Löf­fel. Für das Atoll der Augen: Pupil­le Seh­loch Glub­sch­er Ocu­lus Auge Sehor­gan Sehw­erkzeug Guck­er. Groß­ar­ti­ge Sache. — stop

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notizen aus sarajevo

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nord­pol : 20.18 UTC — Das Bänd­chen Noti­zen aus Sara­je­vo von Juan Goy­tiso­lo, das im Jahr 1993 in der Edi­ti­on Suhr­kamp erschien, muss ein­mal feucht oder nass gewor­den sein. Es wellt sich noch immer, obwohl es Jah­re gepresst unter wei­te­ren Büchern im Regal dar­auf war­te­te, wie­der gele­sen zu wer­den. Ich erin­ne­re nicht, wo ich das Buch gele­sen hat­te, viel­leicht in einem Park, ver­mut­lich war Regen gefal­len. Seit Tagen liegt es auf mei­nem Küchen­tisch, ich habe es bis­her nur ein­mal kurz geöff­net, bemerk­te fol­gen­den mit Blei­stift mar­kier­ten Absatz: „Gleich nach sei­ner Ankunft in Sara­je­vo muss der Frem­de in die Geset­ze und Regeln eines Ver­hal­tens­ko­dex ein­ge­weiht wer­den, der Grund­vor­aus­set­zung für sein Über­le­ben ist. Er, der an ein frei­es Leben ohne Hemm­nis­se gewöhnt ist, muss in sei­nem neu­en Lebens­raum, der Mau­se­fal­le, die er mit 380000 ande­ren Men­schen teilt, schnell ler­nen. Er muss die hoch­ge­fähr­li­chen Gebie­te und die­je­ni­gen ken­nen, in denen er sich ohne all­zu gro­ße Gefahr bewe­gen kann, er muss wis­sen in wel­chen Stadt­tei­len Mör­ser­gra­na­ten nie­der­ge­hen, wel­ches die belieb­tes­ten Stra­ßen­ecken und Kreu­zun­gen der Hecken­schüt­zen sind, wo er gebückt gehen und wo er schnell los­ren­nen muss. Jede Unacht­sam­keit oder ein Feh­ler bei der Aus­wahl des Weges kön­nen töd­lich für ihn sein. Jedes Hin­aus­ge­hen — und jeder muss ein­mal raus­ge­hen, um Was­ser, Holz oder Nah­rungs­mit­tel zu holen — ist, wie die Men­schen in Sara­je­vo sagen, rus­si­sches Rou­lette.“ — stop / S.32/33
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22 Uhr 12

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lima : 22.12 — Seit ges­tern Abend spät ist mir das unheim­li­che Wort „Gefechts­to­te“ bekannt. Wie vie­le unheim­li­che Wör­ter wer­den in die­ser Minu­te oder wäh­rend der kom­men­den Woche erfun­den und solan­ge in Echo­kam­mern wie­der­holt sein, bis wir gezwun­gen sein wer­den, sie in unse­re Wör­ter­bü­cher auf­zu­neh­men? — stop

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peter handke : über die mütter von srebrenica

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hima­la­ya : 21.18 — Als ich jung gewe­sen war, habe ich immer wie­der ein­mal gern in Peter Hand­kes Jour­nal „Das Gewicht der Welt“ gele­sen. Am Nach­mit­tag, heu­te, such­te ich in mei­nen Rega­len, ich glau­be, ich muss das Buch ver­legt haben oder ver­stellt, ich wer­de spä­ter noch ein­mal nach ihm sehen. Auch habe ich heu­te in der digi­ta­len Sphä­re Hin­wei­se ent­deckt auf ein Inter­view, das Peter Hand­ke mit Alex­an­der Dorin im Jahr 2011 geführt haben soll. Die­ser wesent­li­che Hin­weis auf ein furcht­ba­res Gespräch ist in einer prä­zi­sen Ana­ly­se (Die Spur des Irr­läu­fers) der Schrift­stel­le­rin Ali­da Bre­mer zu fin­den. Ich fra­ge mich, ist es nicht viel­leicht so, dass das Gespräch eines Autors als sehr viel authen­ti­scher anzu­se­hen ist, wahr­haf­ti­ger, als Tex­te, die in den Büchern des­sel­ben Autors zu fin­den sind, viel­fach gewen­det und über­prüft? Hat Peter Hand­ke tat­säch­lich so gespro­chen? Ich las: Über­haupt, die­se soge­nann­ten »Müt­ter von Sre­bre­ni­ca«: Denen glau­be ich kein Wort, denen neh­me ich die Trau­er nicht ab. Wäre ich Mut­ter, ich trau­er­te allei­ne. Es gab die Müt­ter von Bue­nos Aires, sehr rich­tig, die hat­ten sich zusam­men­ge­schlos­sen und die Mili­tär­dik­ta­to­ren gefragt, was mit ihren Kin­dern gesche­hen ist. Aber die­se bil­li­ge Nach­ah­mung ist scheuß­lich. Es gibt die Müt­ter von Bue­nos Aires, und das genügt. — stop
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