Aus der Wörtersammlung: bücher

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#HongKongProtests

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ulys­ses : 22.46 MESZ — Seit eini­gen Jah­ren, ich muss das schnell erzäh­len, kau­fe ich immer wie­der ein­mal ein digi­ta­les Buch, obwohl ich mir vor­ge­nom­men hat­te, papie­re­nen Büchern, die ich in die Hand zu neh­men ver­mag, treu zu blei­ben, ihren Geräu­schen und ihrem Duft. Nun ist das zunächst so gewe­sen, dass ich Roman­an­fän­ge in der digi­ta­len Sphä­re zu sam­meln begann. In mei­ner klei­nen hand­li­chen Schreib­ma­schi­ne waren bald über ein­tau­send Lese­pro­ben ver­sam­melt. Mel­vil­les Erzäh­lung Bart­le­by war der ers­te digi­ta­le Text gewe­sen, den ich zu mir hol­te. Etwas spä­ter folg­ten Dos­to­jew­skij, Aus­ter, DeL­il­lo, Hum­boldt, John Dos Pas­sos. Plötz­lich bemerk­te ich, dass mir John Dos Pas­sos’ Buch­text Man­hat­tan Trans­fer feh­len wür­de, ich mei­ne, die­ser wun­der­vol­le Roman als wirk­li­ches Buch, das in mei­nem Bücher­re­gal ste­hen wür­de, sicht­bar sein Rücken, die­ses Buch habe ich gele­sen. Auch Hum­boldt Ansich­ten der Natur wür­de feh­len und Aus­ters Roman 4321. Ich ertapp­te mich bei der Über­le­gung, ein Stück Holz in mein Regal zu stel­len in der unge­fäh­ren Grö­ße des ori­gi­na­len papie­re­nen Buches. Ich dach­te, ich könn­te das Stück Holz mit einem Buch­rü­cken ver­se­hen, einer Kopie, ich könn­te dem­zu­fol­ge, eine Instanz des digi­ta­len Buches kre­ieren, die mir anzeigt, dass ich das Buch besit­ze, dass ich es gele­sen habe oder bald ein­mal lesen könn­te. Oder die Instanz eines Buches, das über­haupt noch als ein papie­re­nes Buch zu schrei­ben wäre: #Hong­Kong­Pro­tests — stop
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im park

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hima­la­ya : 15.45 UTC — Ob viel­leicht digi­ta­le Tex­te exis­tie­ren, wel­che über eine nicht enden­de Zahl von Zei­chen ver­fü­gen, Tex­te, die sich wie von selbst fort­schrei­ben, Tex­te, die von Bots aus Archi­ven digi­ta­li­sier­ter Bücher gefer­tigt wer­den, die sie in der Art und Wei­se Nest bau­en­der Vögel ver­we­ben. Da und dort wer­den Zei­chen­sät­ze ein­ge­fügt, Pas­sa­gen, die wie Kleb­stof­fe wir­ken, Trans­fer­tex­te, wel­che bestehen­de Tex­te nach und nach aus­blen­den, um neu hin­zu­kom­men­de Tex­te eben­so behut­sam ein­zu­blen­den, Pas­sa­gen, die zunächst vom Schla­fen erzäh­len, dann vom Erwa­chen. Da sitzt man nun Jahr um Jahr abends in einem Park und liest und wun­dert sich, weil es im Text immer­zu wei­ter­geht. — Noch immer kein Regen. Kaum Flie­gen, kaum Käfer, kaum Fal­ter in der Luft. — stop

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papiere körper

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echo : 0.14 UTC — Unlängst ent­deck­te ich in der digi­ta­len Sphä­re ein Buch des ame­ri­ka­ni­schen Autors David Fos­ter Wal­lace. Ich dach­te, die­ses Buch ist sehr umfang­reich, schwer ver­mut­lich und ver­letz­lich. Ich dach­te außer­dem, dass Som­mer gewor­den ist, dass ich das Buch mög­li­cher­wei­se ger­ne in einem Park lesen wür­de, auf einer Bank sit­zend oder im Gras lie­gend. Plötz­lich kauf­te ich eine elek­tro­ni­sche Aus­ga­be des Romans Unend­li­cher Spaß, des­sen Instanz weni­ge Sekun­den spä­ter voll­stän­dig auf mei­ner klei­nen, fla­chen Schreib­ma­schi­ne ange­kom­men war. Sehr erstaun­lich, wie schnell das geht, geräusch­los, so die Anlie­fe­rung der voll­stän­dig Werk­aus­ga­ben Anton Tschechows, Franz Kaf­kas, Flau­berts weni­ge Wochen zuvor. Nun ist das so, dass ich spür­te, dass irgend­et­was fehlt, obwohl ich einen kom­ple­xen Text über­mit­telt bekom­men, also zuge­nom­men habe, mei­ne Biblio­thek, die Aus­wahl mei­ner Bücher, Wör­ter, Gedan­ken, die ich in mei­nem Zim­mer auf und ab gehend sofort in die Hand neh­men und mir vor Augen hal­ten könn­te. Ich glau­be, ich wer­de mir ein Stück Holz suchen, oder einen klei­nen Kar­ton, den ich beschrif­ten könn­te, um ihn stell­ver­tre­tend in mein Regal zu stel­len zu wei­te­ren Büchern, die noch tat­säch­lich papie­re­ne Per­sön­lich­kei­ten sind. — stop
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fingertiere

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marim­ba : 20.56 UTC — Wie nur nennt man die­se Ver­rückt­heit, dass einer gern Bücher auf einer Schreib­ma­schi­ne tippt, anstatt sie zu lesen, wie einen, der nur lesen kann, was er auch schreibt mit den Hän­den? — Wenn ich das Wort Schreib­ma­schi­ne höre, den­ke ich an Lebe­we­sen mei­ner Kind­heit, an Krea­tu­ren mit Wal­ze und Tas­ten, die merk­wür­di­ge Geräu­sche erzeug­ten, sobald man sie beweg­te. Was waren das damals doch für Unge­tü­me, Knöp­fe auf Stel­zen so groß, dass sie von mei­nen klei­nen Fin­gern kaum bewegt wer­den konn­ten. Hoch oben auf einem Tisch­chen ruh­te die Schreib­ma­schi­ne, manch­mal war sie ver­bor­gen unter einer Hau­be, dann wie­der klap­per­te sie. Mut­ter sass am Tisch und tipp­te vor sich hin. Von Zeit zu Zeit setz­te sie mich auf ihren Schoß und ich sah ihren Fin­gern zu, wie sie sich beweg­ten, indes­sen Mut­ter mit mir sprach oder dem Radio zuhör­te. Ich glaub­te manch­mal in den Bewe­gun­gen ihrer Hän­de, etwas Frei­es, Unab­hän­gi­ges zu sehen, als wären die Hän­de mei­ner Mut­ter eigen­sin­ni­ge Lebe­we­sen. — stop

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tauchgang

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india : 0.08 UTC — ‘Es ist das Inter­es­san­te an Büchern, über denen man eigent­lich den Ver­stand ver­lie­ren müss­te, dass man durch sie viel­mehr an Ver­stand gewinnt. Frei­lich ist das nur ein neu­er Kom­pro­miß — denn anstän­di­ger­wei­se müss­te man aller­dings nach ihrer Lek­tü­re abdan­ken. Aber das Leben ist nicht das, was wir anstän­dig zu nen­nen lie­ben. Allein schon der Umstand, dass der Autor sei­nen Ver­stand behal­ten hat, wird genü­gen, den Leser zum glei­chen zu ver­an­las­sen; es sei denn — dass er nur so bewei­sen zu kön­nen mein­te, dass er noch tie­fer als jene sei, dass er sozu­sa­gen aus Ehr­geiz, aus “Wil­len zur Macht” wahn­sin­nig zu wer­den gera­de­zu — wünsch­te.’ Chris­ti­an Mor­gen­stern 1906 in sei­nen Apho­ris­men/ — stop
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ein schneckenforscher

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sier­ra : 20.15 UTC — Ein Freund erzähl­te, er habe end­lich, nach lan­gen Jah­ren unent­weg­ten Spre­chens, gelernt zu schwei­gen. Das Gespräch mit mir sei eine Aus­nah­me. Er habe Freu­de dar­an gefun­den, nur sel­ten und nur noch das unbe­dingt Not­wen­di­ge zu spre­chen. Des­halb lese er ein Buch nach dem ande­ren. Kurz dar­auf manch­mal, eigent­lich immer, schrei­be er auf, was ihm die Stim­men in den Büchern erzähl­ten. Er sag­te, man kön­ne Bücher, die man gele­sen habe, nach­er­zäh­len. In die­ser Wei­se wür­den doch ganz ande­re Tex­te ent­ste­hen, Tex­te, die sich mit den gele­se­nen Büchern unter­hiel­ten. Irgend­wann lös­ten sich die Tex­te von den erin­ner­ten Büchern. Manch­mal wis­se er nicht, mit wel­chem Buch er sich gera­de schrei­bend unter­hal­te. Sobald er den Blick vom sei­nem Text lösen wür­de, wenn er auf den See hin­aus­schaue und eine Schild­krö­te bemer­ke, sei er plötz­lich in einer Spur gefan­gen, die von Schild­krö­ten erzähl­te, oder von sich lie­ben­den Sche­cken und ihren For­schern. — stop

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edison

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del­ta : 2.15 UTC — Ein­mal, als Nacht war in der Zeit der Nacht­ar­beit vor Jah­ren, stell­te ich die Fra­ge, wann Mit­tag sei in der Nacht? Und wann der Abend beginnt? Ich stand auf, ver­trat mir die Bei­ne, lief vor dem Bücher­re­gal hin und her, ent­deck­te ein Edi­son­buch, eines aus der Kin­der­zeit, saß auf dem Sofa, las und schau­te, wie man Glüh­bir­nen macht? Zunächst macht man einen glä­ser­nen Behäl­ter für das Licht und die­ses Glas nun glüht in einem sehr war­men oran­ge­far­be­nen Ton und ist flüs­sig und irgend­wie sehr heiß, denn die Män­ner, die an ihm arbei­ten, tra­gen kräf­ti­ge Hand­schu­he, ihre Gesich­ter sind zum Schutz mit feuch­ten Tüchern ver­bun­den. Bald war ich ein­ge­schla­fen. ‑s top
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eine stimme

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sier­ra : 14.15 UTC — Regen und Sonn­tag. Ich hat­te Mut­ter ange­rufen. Sie war unter­wegs gewe­sen, viel­leicht im Gar­ten, viel­leicht in den Ber­gen. Nach 10 Sekun­den schal­tete sich der Anruf­be­ant­worter an. Eine Stim­me, die die Stim­me Mut­ters war, mel­de­te ver­traut: Hier ist der Anschluss von Pau­la und Jür­gen. Ich sag­te sofort mei­nen klei­nen Spruch auf: Hal­lo, seid Ihr zu Hau­se? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es reg­net. Als mein Vater gestor­ben war, hat­te ich immer wie­der ein­mal gedacht, wie selt­sam ist, dass mei­ne Mut­ter, solan­ge sie nicht bei sich selbst anru­fen wird, nicht bemer­ken wür­de, dass ihre Begrü­ßung anru­fende Freun­de irri­tieren könn­te. Ich über­legte, ob ich Mut­ter nicht viel­leicht bei Gele­gen­heit dar­auf auf­merk­sam machen soll­te, dass wir eine wei­te­re Tonband­auf­nahme anfer­tigen könn­ten. Der Ein­druck unver­züg­lich, ich wür­de mei­nen Vater durch die­se Hand­lung distan­zieren, einen Geist hinaus­werfen aus dem Haus, in dem er weiter­lebt in sei­nen Spu­ren, in unse­ren Erin­ne­rungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Com­pu­ter. Und da sind sei­ne Garten­schuhe, sei­ne Schall­platten, sei­ne Bücher und im Teich wer­den bald wie­der Rosen blü­hen, See­ro­sen, weiß und rosa, die vor lan­ger Zeit ein­mal von sei­ner Hand ins Was­ser gesetzt wor­den waren. Ja, so war das gewe­sen. Heu­te wie­der Regen und Sonn­tag. Und da sind nun Mut­ters Som­mer­schu­he ver­waist und ihre Win­ter­stie­fel­chen neben der Tür zum Gar­ten. In einer Schub­la­de in der Küche wer­de ich bald Mut­ters Blei­stif­te fin­den und Mut­ters Bril­len und Rezep­te von eige­ner Hand für Kuchen und Plätz­chen für das Weih­nachts­fest vor zwei Jah­ren. In einer wei­te­ren Schub­la­de ruhen ihr Rei­se­pass, ihr Geld­beu­tel, ihr Tele­fon­buch, Bro­schen und Wan­der­kar­ten durch die Wäl­der am See. Und da ist ihre hel­le Stim­me, ich weiss, dass sie im Tele­fon zu war­ten scheint, eine Stim­me, die noch mög­lich ist. — stop

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im haus der alten menschen : ein zimmer

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tan­go : 22.22 UTC — Da sind Bil­der und Foto­gra­fien an den Wän­den, eine Kat­ze und noch eine Kat­ze, ein Mann unter einem Schnee­kirsch­baum, der die Arme in die Luft wirft. Hän­de, die sich in ihren Fin­gern umar­men. Und zwei Lam­pen. Eine Lam­pe zum Knip­sen und eine zum Strei­cheln, Licht an, Licht aus. Ein Hase von Bron­ze mit lan­gen Ohren von Bron­ze. Ein höl­zer­nes Kreuz auf einem Tisch. Ein wei­te­res höl­zer­nes Kreuz an einer Wand. Und ein guss­ei­ser­ner bemal­ter Baum. Zwei blü­hen­de Orchi­deen, weiß. Ein Christ­stern, rot. Und ein Strauß geschnit­te­ner Blu­men, wild. Ein Stern von Papier und eine Zeich­nung von Kin­der­hand, dies und das. Pfle­ge­schaum­do­sen. Creme­tu­ben. Tücher. Tup­fer. Klin­gen. Ein Radio. Vinyl­hand­schu­he. Und eine Nah­rungs­mit­tel­pum­pe. Ein Bett. Eine Matrat­ze, die sich bewegt. Ein Bün­del getrock­ne­ter Blu­men. Kom­pres­sen. Ein Mess­ge­rät. Ein Pil­len­zer­stäu­ber. Fünf Bücher. Auch Proust, Brie­fe zum Leben. Ein klei­nes Schaf und ein Ted­dy­bär. Ein Engel von Por­zel­lan. Ein Duft­was­ser­fla­con, Ohr­stäb­chen, Hand­voll­men­ge. Ein Rosen­kranz und ein Tan­nen­zap­fen. Holz­löf­fel für Zun­ge und Hals. Eine Sche­re. Eine Pin­zet­te. Eine Sprit­ze. Ein Mund­schaum­stäb­chen. Eine Win­del. Ter­min­plan für Logo­pä­die gegen ver­lo­re­nes Spre­chen. Laven­del­duft­kis­sen. Kei­ne Uhr, nur die eine, die mit mir ins Zim­mer gekom­men ist. — stop

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crea

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nord­pol : 18.55 UTC — Küh­le Luft trifft ein, als sei sie mit dem Zug in einem Kof­fer nach Vene­dig gekom­men. Lang­sam wird Abend. Auf den Schif­fen fah­ren leicht beklei­de­te Men­schen ihre Gän­se­haut heim­wärts. Von der Dampf­schiff­sta­ti­on Crea aus führt mich eine Wan­de­rung ohne Stadt­plan in Hän­den, nur mit dem Kopf und nach dem Gefühl gehend, durch das Can­n­a­re­gio in Rich­tung Cas­tel­lo. Wie lan­ge Zeit, über­leg­te ich, wer­de ich tas­tend ost­wärts durch die Gas­sen strei­fen, bis ich mein Ziel, die Dampf­schiff­sta­ti­on Giar­di­ni, erreicht haben wer­de? Bald ist es krei­send spät gewor­den. Auf den Stu­fen der Chie­sa del San­tis­si­mo Reden­to­re, die noch warm sind vom Tag­licht, flit­zen Eidech­sen her­um. Im Zwie­licht wer­den sie zu unru­hi­gen Schat­ten, die man mit Far­ben der Vor­stel­lung fül­len könn­te, an einem bun­ten Tag wer­den sie bunt. Es ist jetzt schon zu dun­kel, um noch lesen zu kön­nen. Ich soll­te mir eine Taschen­lam­pe besor­gen oder rein elek­tri­sche Tex­te auf mei­ner fla­chen Schreib­ma­schi­ne lesen. Ob papie­re­ne Bücher exis­tie­ren, die zu leuch­ten in der Lage sind? — stop