Aus der Wörtersammlung: analyse

///

peter handke : über die mütter von srebrenica

pic

hima­la­ya : 21.18 — Als ich jung gewe­sen war, hab ich immer wie­der ein­mal gern in Peter Hand­kes Jour­nal „Das Gewicht der Welt“ gele­sen. Am Nach­mit­tag, heu­te, such­te ich in mei­nen Rega­len, ich glau­be, ich muss das Buch ver­legt haben oder ver­stellt, ich wer­de spä­ter noch ein­mal nach ihm sehen. Auch habe ich heu­te in der digi­ta­len Sphä­re Hin­wei­se ent­deckt auf ein Inter­view, das Peter Hand­ke mit Alex­an­der Dorin im Jahr 2011 geführt haben soll. Die­ser wesent­li­che Hin­weis auf ein furcht­ba­res Gespräch ist in einer prä­zi­sen Ana­ly­se ( Die Spur des Irr­läu­fers ) der Schrift­stel­le­rin Ali­da Bre­mer zu fin­den. Ich fra­ge mich, ist es nicht viel­leicht so, dass das Gespräch eines Autors als sehr viel authen­ti­scher anzu­se­hen ist, wahr­haf­ti­ger, als Tex­te, die in den Büchern des­sel­ben Autors zu fin­den sind, viel­fach gewen­det und über­prüft? Hat Peter Hand­ke tat­säch­lich so gespro­chen? Ich las: Über­haupt, die­se soge­nann­ten »Müt­ter von Sre­bre­ni­ca«: Denen glau­be ich kein Wort, denen neh­me ich die Trau­er nicht ab. Wäre ich Mut­ter, ich trau­er­te allei­ne. Es gab die Müt­ter von Bue­nos Aires, sehr rich­tig, die hat­ten sich zusam­men­ge­schlos­sen und die Mili­tär­dik­ta­to­ren gefragt, was mit ihren Kin­dern gesche­hen ist. Aber die­se bil­li­ge Nach­ah­mung ist scheuß­lich. Es gibt die Müt­ter von Bue­nos Aires, und das genügt. — stop
ping

///

long string

2

hima­la­ya : 0.12 UTC — Irgend­je­mand oder irgend­ei­ne Maschi­ne muss einer Ana­ly­se zur Fol­ge wäh­rend der ver­gan­ge­nen Nacht einen Par­tic­les­text im World Wide Web mehr­fach ange­steu­ert haben. Ich habe mei­nen Text, den ich im Juni 2007 notier­te, auf die­sem Wege wie­der­ent­deckt. Ich konn­te mich noch erin­nern, ihn geschrie­ben zu haben, nicht aber an mich selbst in der Zeit, da ich ihn notier­te. Der Text geht so: Using the same code that com­pu­ter key­boards use, the Japa­ne­se group, led by Masaru Tomi­ta of Keio Uni­ver­si­ty, wro­te four copies of Albert Einstein’s famous for­mu­la, E=mc2, along with “1905,” the date that the young Ein­stein deri­ved it, into the bacterium’s geno­me, the 400-mil­li­on-long string of A’s, G’s, T’s and C’s that deter­mi­ne ever­y­thing the litt­le bug is and ever­y­thing it’s ever going to be. — Inter­na­tio­nal Harald Tri­bu­ne / June 26, 2007. — Die Vor­stel­lung eines mensch­li­chen Lebe­we­sens, das 15 Jah­re in sei­nem per­sön­li­chen Code nach Infor­ma­tio­nen sucht, die nicht zu ihm gehö­ren, add-ons, die Lite­ra­tur sind. — stop

///

ai : ARGENTINIEN

aihead2

MENSCH IN GEFAHR : “Mila­gro Sala, ehren­amt­li­che Spre­che­rin der Orga­ni­sa­ti­on Tupac Ama­ru, befin­det sich seit dem 16. Janu­ar 2016 will­kür­lich in Haft. Die argen­ti­ni­sche Regie­rung muss sie umge­hend frei­las­sen, wie es die UN-Arbeits­grup­pe für will­kür­li­che Inhaf­tie­run­gen in einer Ent­schei­dung vom 27. Okto­ber ange­ord­net hat. / Am 14. Dezem­ber 2015 erstat­te­te der Gou­ver­neur der Pro­vinz Jujuy, Gerar­do Mora­les, Anzei­ge gegen Mila­gro Sala und das Netz­werk Sozia­ler Orga­ni­sa­tio­nen (Red de Orga­ni­za­cio­nes Socia­les) wegen Pro­tes­tie­rens vor dem Regie­rungs­ge­bäu­de der Pro­vinz Jujuy. Mila­gro Sala wur­de am 16. Janu­ar 2016 in Gewahr­sam genom­men. Obwohl ihre Frei­las­sung ange­ord­net wur­de, lei­te­te man wei­te­re straf­recht­li­che Ver­fah­ren gegen sie ein und behielt sie in Unter­su­chungs­haft. / Im Febru­ar reich­ten Amnes­ty Inter­na­tio­nal und ande­re Orga­ni­sa­tio­nen eine Beschwer­de bei der UN-Arbeits­grup­pe für will­kür­li­che Inhaf­tie­run­gen ein und bean­trag­ten dar­über hin­aus beim Inter­ame­ri­ka­ni­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te Schutz­maß­nah­men für Mila­gro Sala. / Die Arbeits­grup­pe kam am 27. Okto­ber zu dem Schluss, dass die “Inhaf­tie­rung von Mila­gro Sala will­kür­lich ist” und for­der­te die argen­ti­ni­sche Regie­rung des­halb auf, “sie unver­züg­lich frei­zu­las­sen”. Die Arbeits­grup­pe stell­te fest, dass zum Zeit­punkt ihrer Fest­nah­me und Inhaf­tie­rung eine “Ket­te von Anschul­di­gun­gen” vor­ge­bracht wur­de, um eine Inhaf­tie­rung auf unbe­stimm­te Zeit zu recht­fer­ti­gen. Zudem war Mila­gro Sala nach Ansicht der Arbeits­grup­pe von der Regie­rung dar­an gehin­dert wor­den, ihr Recht auf Ver­tei­di­gung wahr­zu­neh­men, was eine Ver­let­zung der Unab­hän­gig­keit der Jus­tiz dar­stell­te. Dar­über hin­aus kam die Arbeits­grup­pe nach Ana­ly­se der Rechts­grün­de für die Inhaf­tie­rung von Mila­gro Sala zu dem Schluss, dass es kei­ne Grund­la­ge für ihre Inhaf­tie­rung gebe. / Am 3. Novem­ber for­der­te der Inter­ame­ri­ka­ni­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te von der argen­ti­ni­schen Regie­rung Infor­ma­tio­nen dar­über, wel­che Maß­nah­men sie ergrif­fen hat, um die Ent­schei­dung der UN-Arbeits­grup­pe umzu­set­zen. Dar­auf­hin erklär­te der Staats­se­kre­tär für Men­schen­rech­te öffent­lich, dass “der Bericht die­ser Arbeits­grup­pe als Mei­nungs­äu­ße­rung zu betrach­ten und in kei­ner Wei­se bin­dend ist”. Der Gou­ver­neur der Pro­vinz Jujuy soll gesagt haben: “Ich wer­de die­se Frau nicht frei­las­sen.” Mila­gro Sala ist nach wie vor will­kür­lich inhaf­tiert.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 29. Dezem­ber 2016 hin­aus, unter > ai : urgent action

ping

///

lufteis

9

ulys­ses : 0.22 — Ob es geheim­dienst­li­chen Ana­ly­se­ma­schi­nen mög­lich ist, zwi­schen fik­ti­ven Tex­ten und  nicht­fik­ti­ven Tex­ten zu unter­schei­den? — Wei­ter­hin Wär­me in den Zim­mern. Kaum Flie­gen, viel­leicht weil es drau­ßen schön kühl ist. Gewit­ter­duft, wür­zig nach Moos und Frö­schen. Ich erin­ne­re mich in die­sem Moment vor eini­gen Jah­ren einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men zu haben, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich wie­der­ho­le, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, wollt ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­is­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. — stop

polaroidcassini

///

dampfende ohren

9

alpha : 6.55 — Ich for­sche gern in mei­nem digi­ta­len Ana­ly­se­pro­gramm nach Fra­gen an Such­ma­schi­nen, die zu mei­ner Par­tic­les­ar­beit führ­ten. Merk­wür­di­ge, ver­rück­te, poe­ti­sche Sen­ten­zen sind zu fin­den. In der ver­gan­ge­nen Woche zum Bei­spiel fol­gen­de: mei­ne schreib­ma­schi­ne schreibt buch­sta­ben über­ein­an­der . klei­ne rote flie­gen in der küche . käfer der auf unse­rem kör­per wohnt . lus­ti­ge geschich­ten über ohren . ägyp­ti­sches frau­zei­chen mit flü­geln . schim­pan­sen im welt­all . schla­fen­de ele­fan­ten . män­ner mit klei­nen köp­fen . ist albert san­chez pinol ein mann . lou­is’ licht­ge­schich­te. stop — Über Nacht ist es kalt gewor­den. An der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le beob­ach­te ich einen älte­ren Herrn, aus des­sen Ohren Dampf zu tre­ten scheint. Man könn­te sagen, es han­delt sich um den ers­ten rau­chen­den Kopf, den ich in mei­nem Leben per­sön­lich gese­hen habe. Als ich näher her­an tre­te, erken­ne ich, dass sich in den Ohren des damp­fen­den Herrn je ein Tier befand. Ich frag­te, ob ich viel­leicht ein­mal genau­er betrach­ten dürf­te, was dort in sei­nen Ohren exis­tiert. Weil der alte Mann nichts hör­te, trug ich mein Anlie­gen in Zei­chen­spra­che vor. Er schien mich zu ver­ste­hen und neig­te unver­züg­lich sei­nen Kopf, so dass ich eine gute Aus­sicht hat­te auf das rech­te sei­ner Ohren. Tat­säch­lich waren dort Augen und Zan­gen eines Käfers zu erken­nen. Als ich mich näher­te, zog sich das Wesen ein wenig in die Tie­fe des Ohres zurück, das von wei­ßem flau­mi­gen Haar besetzt war, wie von einem kost­ba­ren Pelz. Der dün­ne Faden des Käfe­ratems, den ich kurz zuvor beob­ach­tet hat­te, war nun gut zu sehen, aber ich konn­te nicht ein­deu­tig iden­ti­fi­zie­ren, woher der Atem des Käfers eigent­lich kam, wo der Atem, der in der kal­ten Luft kon­den­sier­te, den Käfer­kör­per prä­zi­se ver­ließ. Noch ehe ich mei­ne Fra­ge zur Kon­struk­ti­on des Käfers stel­len konn­te, war der alte Herr in eine Stra­ßen­bahn gestie­gen und davon­ge­fah­ren. — Diens­tag. — stop.

///

mikobeli

9

alpha : 0.22 — Die Ent­de­ckung des Wor­tes mik­obe­li ereig­ne­te sich am 20. Dezem­ber des Jah­res 2007. Ich mach­te das so: Zunächst schloss ich die Augen. Dann ver­such­te ich laut­hals Wör­ter aus­zu­spre­chen, die ich nie zuvor hör­te. Eine nicht ganz leich­te Auf­ga­be. Kurz dar­auf notier­te ich das Wort mik­obe­li auf ein Blatt Papier und prüf­te, ob das Wort in den Ver­zeich­nis­sen der Goo­gle­ma­schi­ne bereits ent­hal­ten sein könn­te. Das war nicht der Fall, ich war zufrie­den. Eini­ge Zeit, zwei oder drei Wochen lang, ver­such­te ich wei­te­re unbe­kann­te und zugleich wohl­klin­gen­de Wör­ter zu ent­de­cken, dann hör­te ich damit auf. Heu­te, Diens­tag, 4. Sep­tem­ber 2012 um kurz nach 17 Uhr MESZ, wur­de mir das Wort mik­obe­li wie­der in Erin­ne­rung geru­fen, in dem ich bemerk­te, dass nahe Tibli­si (Geor­gi­en) nach genau die­sem erfun­de­nen Wort in den Goo­g­le­ver­zeich­nis­sen gesucht wor­den war. Und weil nun das Wort mik­obe­li in mei­nem digi­ta­len Schat­ten zu fin­den war, durf­te ich für weni­ge Minu­ten einen Besu­cher aus dem Kau­ka­sus auf mei­ner Par­tic­les – Sei­te ver­zeich­nen. Erstaun­lich ist, dass das Wort mik­obe­li von mei­ner Ana­ly­se­ma­schi­ne mit­tels geor­gi­scher Schrift­zei­chen wie­der­ge­ge­ben wird, fein und weich und voll­stän­dig fremd. Irgend­ein Mensch, stell­te ich mir vor, könn­te in der­sel­ben Art und Wei­se wie ich das Wort mik­obe­li erfun­den haben und hat­te kurz dar­auf nach Spu­ren sei­ner Exis­tenz im Inter­net gesucht. Eine auf­re­gen­de Geschich­te, die sich tat­säch­lich genau­so ereig­ne­te. Bit­te mel­den! — stop

ping