Aus der Wörtersammlung: denken

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sechs finger

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sier­ra : 0.28 — Kurz nach Mit­ter­nacht wie­der­um stürz­te ein Fal­ter auf mei­nen Schreib­tisch. Ich hat­te die Fens­ter geöff­net, küh­le und doch wür­zi­ge, feuch­te Luft von drau­ßen, und eben der Fal­ter, der plötz­lich vor mir auf dem Rücken lag und sich nicht mehr rühr­te, als wäre er wäh­rend sei­nes Nacht­flu­ges tief und fest ein­ge­schla­fen. Da war nun eine selt­sa­me Fra­ge. Wie wecke ich einen schla­fen­den Fal­ter, ohne ihn in Angst und Schre­cken zu ver­set­zen? Ich könn­te mit mei­nem Atem etwas Wind erzeu­gen, oder aber ich könn­te nach einem fei­nen Pin­sel suchen. Ich könn­te ande­rer­seits vor­ge­ben, als wäre der Fal­ter nicht wirk­lich. Ich muss das nicht sofort ent­schei­den. Nein, ich muss das nicht sofort ent­schei­den. Ich notie­re: Vor weni­gen Stun­den mel­de­ten Nach­rich­ten­agen­tu­ren, Rebel­len hät­ten einen Kor­ri­dor zu ein­ge­schlos­se­nen Men­schen im Zen­trum der Stadt Alep­po frei­ge­kämpft. Wer sind die­se Rebel­len, was den­ken sie, was haben sie vor? Vor weni­gen Tagen noch beob­ach­te­te ich, wie die klei­ne M. ihre Fin­ger zähl­te, es war selt­sa­mer­wei­se immer­zu sechs Fin­ger. Auch ich habe sechs Fin­ger, wenn M. sie zählt. — stop
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von libellen : von zikaden

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oli­mam­bo : 0.02 — Dass ich gut den­ken und erfin­den kann, sobald ich Libel­len beob­ach­te oder von Libel­len beob­ach­tet wer­de, habe ich vor Jah­ren bereits bemerkt. Das ist mög­li­cher­wei­se so, weil Libel­len sich in der Art und Wei­se der Gedan­ken selbst bewe­gen. Sie schei­nen lan­ge Zeit still in der Luft zu ste­hen und sind doch am Leben, was man dar­an erken­nen kann, dass sie nicht zu Boden fal­len. Etwas Zeit ver­geht, wie immer. Und plötz­lich haben sich die fei­nen Libel­len­raub­tie­re wei­ter­be­wegt. Sie sind von einer Sekun­de zur nächs­ten Sekun­de an einem ande­ren Ort ange­kom­men. Genau so scheint es mit Gedan­ken zu sein. Sie sprin­gen wei­ter und machen neue Gedan­ken, ohne dass der Weg von da nach dort sicht­bar oder spür­bar gewor­den wäre. Irgend­je­mand müss­te sofort Libel­len erfin­den, die Geräu­sche der Zika­den erzeu­gen, dann wär ich zufrie­den. — stop

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schallplatte

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oli­mam­bo : 6.28 — Neh­men wir wie­der ein­mal an, ich könn­te die Geschwin­dig­keit mei­nes Den­kens für einen gan­zen Tag vor­aus­be­stim­men, etwa so, als wür­de ich die Dreh­ge­schwin­dig­keit einer Schall­plat­te durch das Umle­gen eines Hebels ver­än­dern. Wür­de ich mich beschleu­ni­gen oder wür­de ich mich brem­sen? Den­ke ich so schnell oder so lang­sam wie vor Jah­ren noch? — stop

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aufs offene meer

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india : 5.08 – In die­ser Nacht ist etwas sehr Merk­wür­di­ges gesche­hen. Ich beob­ach­te­te auf dem Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne die pen­deln­de Bewe­gung zwei­er Fähr­schif­fe der Sta­ten Island Flot­te auf der Upper New York Bay. Es han­del­te sich einer­seits um die Fäh­re MS Moli­na­ri, ande­rer­seits um die Fäh­re MS Andrew J. Bar­be­ri. Stun­den­lan­ge plan­mä­ßi­ge Rei­sen der Schif­fe von Stadt­teil zu Stadt­teil. Plötz­lich, es war gegen 4 Uhr euro­päi­scher Zeit gewe­sen, 10 Uhr abends in New York, nahm die Fäh­re MS Moli­na­ri Kurs auf das offe­ne Meer hin­aus, ein so von mir noch nie zuvor beob­ach­te­ter Vor­gang. Nach einer hal­ben Stun­de wur­de das Schiff lang­sa­mer, war­te­te eini­ge Minu­ten, als wür­de es nach­den­ken, um kurz dar­auf zu wen­den und zur St. Geor­ge Ter­mi­nal­sta­ti­on zurück­zu­keh­ren. Weni­ge Minu­ten spä­ter ver­liess die Fäh­re John F. Ken­ne­dy, eigent­lich eine Tag­fäh­re, das Ter­mi­nal in Rich­tung Man­hat­tan­süd. Das ist tat­säch­lich sehr selt­sam, ich muss wach blei­ben, ich muss das Selt­sa­me wei­ter beob­ach­ten. — stop

molinari

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von schmetterlingen

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hima­la­ya : 0.28 – Wenn ich nicht irre, dann moch­te mei­ne Groß­mutter, die Mün­che­ner Oma, wie wir sie nann­ten, das Wort Bom­ben­stim­mung nicht gern aus­spre­chen. Das lag ver­mut­lich dar­an, dass häu­fig der Boden unter ihren Füßen zit­ter­te, wenn irgend­wo in der Stadt, in der sie leb­te, Bom­ben unsanft auf dem Boden lan­de­ten. Mei­ne Mün­che­ner Oma ist schon vor lan­ger Zeit gestor­ben, sie hat­te eine Krank­heit, die ihre Glie­der beben ließ von Zeit zu Zeit, als ob sie sich an das Zit­tern des Bodens immer wie­der erin­nern muss­te. Vor weni­gen Stun­den nun ist ihre Toch­ter aus dem Leben ver­schwun­den, weiß der Him­mel, ob sie davon erfah­ren hat. Auch ihre Toch­ter kann­te das Beben des Erd­bo­dens noch, wäh­rend der Boden unter mei­nen Füßen nie­mals beb­te unter dem Ein­druck mensch­li­cher Spreng­mit­tel­er­fin­dun­gen. Das Wort Flie­ger­bom­be kommt in mei­nem Leben schon sehr lan­ge vor, es gehört zum Wort­schatz des Kin­des, ver­mut­lich weil von den Bom­ben­zei­ten immer wie­der berich­tet wur­de. Man­che Men­schen, die heut­zu­ta­ge Kin­der sind, bücken sich nach Schmet­ter­lin­gen, die grün sind wie Frö­sche, und sie den­ken viel­leicht noch, das sind aber schwe­re Schmet­ter­lin­ge, und ver­lie­ren gera­de in die­sem Sekun­den­mo­ment für immer Augen und Hän­de. — stop
louis

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ein gespräch

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fox­trott : 0.28 – Ein­mal nur für kur­ze Zeit die unver­rück­ba­re Gren­ze des Todes mit­tels eines Funk­ge­rä­tes über­schrei­ten. Ich stell­te mir vor, ich könn­te ein Gespräch füh­ren mit einem Selbst­mord­at­ten­tä­ter, sagen wir mit MMK. Ich berich­te­te O. von die­ser Idee. Ich sag­te, stell Dir ein­mal vor, ich wür­de fol­gen­de Sät­ze spre­chen: Lie­ber MMK, jetzt bist Du also tot, Du hast Dei­nen Auf­trag zur vol­len Zufrie­den­heit Dei­ner Vor­ge­setz­ten erfüllt, Du hast Dich in die Luft gesprengt, in alle Him­mels­rich­tun­gen sind Tei­le Dei­nes Kör­pers davon­ge­flo­gen. Wie geht es Dir jetzt? Wo bist Du, mein Freund? — O., der inter­es­siert zuge­hört hat­te, ant­wor­te­te: Sag, lie­ber Lou­is, was erwar­test Du denn, was MMK ant­wor­ten wür­de? Ehe ich spre­chen konn­te, setz­te O. fort, er sag­te: Ich neh­me an, Du wirst dar­an den­ken, dass er Dir sagen wird: Kein Para­dies. Dun­kel. Nichts. Ich bin allein, ver­dammt. Er schau­te mich bedeu­tungs­voll an. Was aber, lie­ber Lou­is, machst Du, wenn er Dir erzählt, dass er im Para­dies ange­kom­men sei, dass alles noch wun­der­ba­rer sei, als je vor­ge­stellt, ja, was machst Du dann, mein Jun­ge? — stop

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von geheimnissen

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whis­key : 2.03 — Inten­si­ves Gespräch mit einem Pater über Geheim­nis­se, die ich im Leben eines frem­den Men­schen ent­deck­te. Er bemerkt, eine Situa­ti­on, wie die vor­ge­stell­te Situa­ti­on, wäre ihm sehr ver­traut, ich sol­le beden­ken, man wür­de Geist­li­chen wäh­rend der Beich­te Geheim­nis­se ger­ne vor­sätz­lich erzäh­len. Mit Geheim­nis­sen, erklär­te der Pater, ins­be­son­de­re mit zufäl­li­ger­wei­se ent­deck­ten Geheim­nis­sen jeder Art sei wür­dig umzu­ge­hen, indem man ihre Ent­de­ckung ver­schweigt und sie all­mäh­lich tat­säch­lich ver­gisst. — stop
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von zeitungen

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india : 3.18 — Mor­gens liegt die Tages­zei­tung wie ein Wun­der vor der Tür, an jedem der Tage einer Woche, nur an Sonn­ta­gen nicht. Es exis­tie­ren Win­ter­zei­tun­gen, die von Schnee bedeckt sind, und Som­mer­zei­tun­gen, wel­che küh­ler sind als die Mor­gen­luft, außer­dem Herbst­zei­tun­gen und Früh­lings­zei­tun­gen. Herbst­zei­tun­gen sind von Blät­tern bedeckt, feucht vom Nebel der Mor­gen­stun­den, feucht wie Früh­lings­zei­tun­gen, die nur feucht sind, aber nicht von Blät­tern bedeckt. Alle die­se Zei­tun­gen sind schwe­re Objek­te in den Hän­den einer alten Frau. Es ist immer­zu sehr viel gesche­hen seit der Zei­tung des Tages zuvor, und auch jene frü­he­re Zei­tung war schwer gewe­sen, weil viel gesche­hen war in der Zeit, als die alte Frau im Gar­ten arbei­te­te. Ja, das Gehen fällt nicht mehr so leicht, und auch das Lesen nicht. Es geschieht so viel, sagt die alte Frau, und sie mein­te viel­leicht, dass zu viel geschieht, dass die Zei­tung zu schwer gewor­den ist, für ihre alten Hän­de. Und sie sagt, dass sie nicht alles, was in der Zei­tung geschrie­ben steht, lesen kön­ne, sie sagt das so, als ob sie mein­te, es sei zu viel in der Zei­tung geschrie­ben, das sie nicht lesen wür­de, sie sei der Zei­tung nicht län­ger wür­dig, wes­we­gen wir nun hof­fen und dar­über nach­den­ken, was viel­leicht zu tun ist in die­ser Zeit, das die papie­re­nen Zei­tun­gen zu schwer gewor­den sind. — stop

oqaatsut

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bambus vol. 2

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echo : 1.08 — Wie Men­schen nun Han­dys nicht län­ger an ihre Ohren hal­ten, son­dern vor den Mund. Viel­leicht auch des­halb, um gleich­zei­tig spre­chen und lesen zu kön­nen, spre­chen also und hören und noch etwas Wei­te­res tun. — Wie­der Nacht. In einem Moment der Stil­le beob­ach­te­te ich vor weni­gen Minu­ten ein Bücher­re­gal, das in mei­nem Arbeits­zim­mer steht. Ich mein­te wie­der ein­mal, ein Geräusch wahr­ge­nom­men zu haben, in etwa hör­te sich das so an, als wür­de man ein Ohr an ein Bam­bus­rohr legen, durch wel­ches Kie­sel­stei­ne fal­len. Zunächst mel­de­te sich das Geräusch links oben unter der Decke, wo sich Bücher befin­den, die ich bis­her nicht gele­sen habe, war­ten­de Bücher, sagen wir, Mah­nen­de. Kurz dar­auf wan­der­te das Geräusch in die Mit­te des Regals, Chris­toph Rans­mayr klim­per­te, John Ber­ger, Janet Frame, Anto­nio Tabuc­chi. Ich hat­te für eini­ge Minu­ten den Ein­druck, das Geräusch oder sei­ne Ursa­che könn­te sich ver­viel­fäl­tigt haben. Wenn nun fol­gen­des gesche­hen wäre, dass sich die Bücher mei­nes Regals in Funk­bü­cher ver­wan­del­ten, in Bücher, die nur vor­ge­ben, Bücher von Papier zu sein, in Bücher also, die über Sei­ten ver­fü­gen, die eigent­lich Bild­schir­me sind, die man umblät­tern kann. Dann wäre denk­bar, dass ich jenes typi­sche Geräusch ver­nom­men habe, das in genau dem Moment ent­steht, da der Autor eines Buches mit­tels Funk­wel­len eine erneu­er­te Fas­sung sei­nes Wer­kes in die Zim­mer der Welt ent­sen­det. Ich muss dar­über nach­den­ken, was die Mög­lich­keit oder die Exis­tenz der Funk­bü­cher bedeu­ten wür­de für das Schrei­ben, für das Auf­hö­ren kön­nen, für Anfang und Ende einer Geschich­te. Und wenn nun Jean Pauls Komet in mei­nem Zim­mer rascheln wür­de, oder Dan­tons Tod, Georg Büch­ner? – Noch zu tun: Regen­wör­ter erfin­den. — stop

drohne15

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aylan kurdi

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sier­ra : 23.25 — Ich hat­te bis zum spä­ten Abend kei­ne Zei­tung gele­sen und auch die Fern­seh­ma­schi­ne nicht ange­stellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, frag­te, ob ich die Foto­gra­fie mit dem Jun­gen gese­hen hät­te, der aus Kobanê geflüch­tet, vor einem Urlau­ber­strand der Tür­kei ertrun­ken und Land gespült wor­den sei. Er sag­te, er habe mir die Auf­nah­me gera­de eben geschickt, und ich hör­te genau in die­sem Moment das Geräusch einer ankom­men­den E‑Mail mit dem Betreff: Der Jun­ge. Eine hal­be Stun­de spä­ter öff­ne­te ich die Datei. Auf der Foto­gra­fie war der Kör­per eines Kin­des am Strand zu erken­nen, ein­sam, unend­lich ein­sam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrun­ken war, sei­nen Kör­per behut­sam am Strand abge­legt, seht her, schaut, was gesche­hen ist, öff­net die Gren­zen, lasst Flücht­lings­men­schen end­lich mit Flug­zeu­gen zu euch kom­men, wehrt sie nicht ab, errich­tet kei­ne Zäu­ne, hört auf, Waf­fen zu lie­fern, mit wel­chen tat­säch­lich auf Men­schen geschos­sen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekom­men seid. Mil­lio­nen elek­tri­sche Exem­pla­re die­ser Foto­gra­fie eines leb­lo­sen Kin­des sol­len sich inner­halb weni­ger Stun­den um die Welt ver­brei­tet haben, eine Foto­gra­fie, die nie wie­der ver­schwin­den wird, ein Gedächt­nis­bild mög­li­cher­wei­se, wie das Bild (Pulit­zer­preis 1973) der durch fri­end­ly fire schwer ver­letz­ten Kim Phúc und der Geschwis­ter des Mäd­chens, flie­hend auf einer Stra­ße im Süden Viet­nams, ein Gedächt­nis­bild, an das sich die Mensch­heit nun gewöh­nen wird, das Bild betrach­ten und beden­ken, damit es sei­nen Schre­cken ver­liert, bis man es nicht mehr wahr­neh­men wird. Der Name des Jun­gen: Aylan Kur­di. Er wur­de 3 Jah­re alt. Nicht alle wer­den sich gewöh­nen. — stop

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