MELDUNG. Brooklyn, 201 Columbia Heights, 7. Etage, steinernes Zimmer : Kirsche No 122 [ Marmor, Carrara : 2.11 Gramm ] vollendet. — stop
Aus der Wörtersammlung: india
yanuk : lichtmaschine
~ : yanuk le
to : louis
subject : FROGS
date : june 1 08 8.15 p.m.
Lieber Mr. Louis, seit acht Tagen Regen. Verbrachte zuletzt sechs Stunden an den Stamm meines Baumes gefesselt, um nicht vom Sturm in die Tiefe gerissen zu werden. Gestern, sehr früh in der Morgendämmerung, dann auf Höhe 152 zurückgekehrt. Das Lager, ramponiert. Ein paar Affen, Tamarine, haben sich breit gemacht, musste kämpfen, ehe sie die Plattform räumten. Habe meine Vorräte zum Trocknen ausgebreitet, Nüsse, vorwiegend Nüsse, und ein paar Fleischkonserven sind da noch und etwas Brot, das hoffentlich nicht schimmeln wird. Bin jetzt ohne Lichtmaschine, der Sturm hat sie mit sich fortgerissen. Aber die Ameisen sind zurück, Du erinnerst Dich, träge Ameisentiere, die nach Langusten schmecken. Deshalb ohne Furcht, habe Trinkwasser im Überfluss. Werde morgen weiter zu den Fröschen sprechen. Wie seltsam, meine Stimme aus ihren Schallbeuteln zu vernehmen. So deutlich flüstern sie mir nach, als ob keine andere, als die menschliche Sprache, ihnen je zu Ohren gekommen wäre. Erstaunliche Entdeckung. Welchen Namen, frage ich Dich, soll ich ihrer Gattung geben? — Yanuk
eingefangen
20.57 UTC
1231 Zeichen
revolver
india : 3.26 — Das Seltsame an den Nachtbüchern ist, dass man sie nur nachts und nur unter freiem Himmel lesen kann. Ich war deshalb bis kurz nach Zwei im Palmengarten am See und hörte den Spinnen zu beim Seilen, und lauschte Panthern bei leiser Fresserei und anderen angenehmen Dingen, die man so macht, wenn man bemerkt, dass man ein Panther geworden ist in einer Vorsommernacht. Dann ging ich nach Hause und legte das Nachtbuch, das von einer Chinesin erzählt, die sich wundert, dass sie eine Chinesin ist, ins Regal zu anderen Nachtbüchern zurück. Sitze jetzt auf dem Sofa und die Fenster sind geöffnet und ein Falter flattert in einem Lampion herum und notiere eine kleine wilde Geschichte. Diese Geschichte geht so: Irgendwann, sagen wir im Sommer, sagen wir morgens. Ein Spieler steht am Fenster. Er schaut in Richtung des gegenüberliegenden Hauses. Die Sicht ist gut. Kein Nebel. Kein Dunst. Ein oder zwei Vögel, Laternenhöhe, auf und ab. Jetzt richtet der Spieler den Revolver gegen die Schläfe. Alle Kammern der Waffe sind munitioniert. Der Spieler wartet ab. Glühender Kopf. Film zurück, mal bunt, mal nicht. Brillanter Streifen. Verlässt ein Mann das Haus, schießt sich der Spieler eine Kugel in den Kopf. Game over. Ende. Fin. Verlässt eine Frau das Haus, hat der Spieler einen Tag gewonnen. Es ist dann ein Tag leichten Genießens, ein Tag aber auch von Unruhe, sobald Abend geworden ist. Jetzt schläft der Spieler. Dann wacht der Spieler auf. Wieder steht er am Fenster, wieder ist früher Morgen und wieder ist Sommer. Die Maschine lässt sich nicht anhalten, auch die Zeit nicht, — Revolver gegen Stirn. Entweicht dem Haus eine Katze, wird eine Kugel entnommen. Jede weitere Katze entnimmt der Revolvertrommel eine weitere Kugel. Sechs Katzen bedeuten eine Frau. Frauen und Katzen bringen Glück. Natürlich lässt sich das unendlich verfeinern. Eine rote Katze erzwingt eine zweite Aufführung noch an demselben Morgen. Kommt ein Nashorn aus dem Haus, hört der Spieler für immer auf zu spielen. Ein Nashorn mit drei Hörnern und der Spieler wird Priester. Wir sehen, die Bedingungen des Spielers ein Priester zu werden, sind eindeutig definiert. Kein Entkommen. Kein Ausweg. Ein Liebhaber konzentrierten Lichts. Cinema Paradiso.
flaubert
~ : louis
to : Mr. gustave flaubert
subject : MEMPHIS
Verehrter Mr. Flaubert, gestern, am späten Nachmittag, knisterte ein feiner Regen ans Dachfenster meines Zimmers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyptisches Reisetagebuch geöffnet, eine sehr feine Arbeit, detailliert, das Abschiednehmen, ihre voraus reisenden Koffer. Während Sie gerade an Bord der Canja Memphis passierten, bin ich eingeschlafen, vielleicht weil ich müde war von einer viel zu kurzen Nacht. Als ich wieder wach wurde, knisterte der Regen noch immer gegen das Fenster, und ich erinnerte mich, ihnen erzählen zu wollen, dass ich seit vorgestern, 15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, Augenpaare sammle, die meine elektrische Seite besuchen. Vermutlich werden Sie mich für einen seltsamen Vogel halten, weil ich Augen paarweise zähle, ihre Existenz und woher sie kommen und welche Brillen sie tragen und die Zeit messe, die sie mit meinen Wörtern verbrachten. Gestern Abend um 22 Uhr 17 Minuten und 11 Sekunden hatte ich Besuch aus Shanghai. In großer Entfernung lurten also ein paar Augen, verweilten, kaum zu glauben, sechs Sekunden auf meinen Zeilen, dann waren sie wieder weg. Ich habe mir gedacht, dass diese hastigen Augen vielleicht meine Schriftzeichen nicht entziffern konnten, dass sie deshalb nur zwei oder drei Atemzüge lang bei mir verweilten. Ja, lieber Flaubert, das könnte sein, nein, ich hoffe, dass es so gewesen ist. Später Abend schon wieder. Werde jetzt weiter lesen in Ihrer ägyptischen Reise, während die Augenzählmaschine arbeitet, ohne dass ich mich auch nur einmal für sie bewegen müsste. Ihr Louis, mit allerbesten Grüßen.
sandor marai
sierra : 10.14 — Lange Zeit der Eindruck, dass in meinem Leben nur weit entfernte Wesen sterben, Wesen beispielsweise, die Madras bewohnen, Wesen ohne Nieren. Dann, von einem Tag zum anderen, endet meine Kindheit. Erinnerte mich an eine Notiz des 84-jährigen ungarischen Dichters Sandor Marai. “In der Nacht urplötzlich die Gewissheit, dass ich sterblich bin — nicht die Möglichkeit, sondern die Tatsache. Es war nicht beängstigend. — Und einige Tage später, am 31. Oktober desselben Jahres: Das Sterben beginnt damit, dass man es nicht mehr für unmöglich hält zu sterben. 84 Jahre lang habe ich es niemals für möglich gehalten, und ich hatte recht.” – Elf Uhr fünfundzwanzig in Suni, Westdarfur. — stop
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johnny got his gun
echo : 2.55 — Ich will heute nichts tun, als mich von dem Film Johnny got his gun erholen. Sitze im Licht der Computermaschine und verzeichne mit einem Bleistift Wege, die meine Springspinne über den Schreibtisch spaziert, auf ein Blatt Papier. stop. Seltsame Figuren. stop. stop. Anatomisch betrachtet, zeigt sich die Wegstrecke des olympischen Feuers als offen liegende Nervenbahn einer Diktatur. — Zwei Uhr eins. Nacht in Rangen, Burma. — stop
flut
india : 2.11 — Hochwasser. Meine Wohnung ist mit dem Boot erreichbar. In den Kronen der Kastanien, gleich jenseits der Fenster, haben sich Körper toter Menschen verfangen. Gesichter, die ich kenne. Entstellt. Dunkle Haut. An den Zimmerwänden tausende Fliegen. Sobald ich mich bewege, ein Brausen der Luft. Schüsse. Zwei Kerzen noch im Schrank, drei Liter Wasser, fünf Pfund Makkaroni, eine Packung schwedisches Knäckebrot, Salz, Pfeffer, Thymian, Rosmarin, Muskatnuss. Das Wasser, warm und schwarz. Ein Kontrabass, dann ein Krokodil treiben vorüber. Die Luft, dumpf und scharf in derselben Sekunde. stop Keine Fotografie ist vorstellbar, die einen lebenden Menschen zeigt, in der nicht auch Bewegung enthalten wäre. Dagegen jene Aufnahmen von Menschen, die zur Kamerazeit bereits leblos waren. Ich begegnete einer dieser Fotografien ohne Bewegung vor wenigen Jahren im World Wide Web. Sie zeigt den Leichnam Marilyn Monroes wenige Stunden nachdem ihr Körper aufgefunden worden war. Ich habe mich an diese Aufnahme immer wieder erinnert, an das feuchte Haar der jungen toten Frau, an die Spuren der Nachzeit, die sich bereits in ihrem Gesicht abzeichneten, und auch daran, dass ich heftig erschrocken war, in die Küche stürmte und zwei Gläser Wasser trank. Als ich nun vor einiger Zeit den Namen Marilyn Monroes in die Bildsuchabteilung der Googlemaschine tippte, erschien genau dieses Bild an erster Stelle. — stop
geräuschstempel
15.01 — Welches Geräusch erzeugen zwei Millionen Ameisenbeine, sobald sie in rasender Bewegung einen Baum erklimmen? Existiert vielleicht ein indianisches Wort für dieses spezielle Geräusch? Auf welchem Wege könnte ich von diesem Wort erfahren? Vielleicht einmal eine Geste für das Wort erfinden, sobald ich von ihm gehört haben werde. — stop